NS-Unrechtsurteile gegen Deserteure vor der Aufhebung

von Volker Beck
Hintergrund
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Die Deserteure der Wehrmacht erhalten endlich ihre volle rechtliche Rehabilitierung. Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-Aufhebungsgesetz) wird dazu ergänzt. Der Bundestag hat einen entsprechenden Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen am 28. Februar in erster Lesung debattiert. Nun wird er in den Fachausschüssen beraten. Die Beschlussfassung wird noch vor dem Sommer erfolgen.

Die Opfer der Wehrmachtsjustiz stellen eine der großen Opfergruppen der NS-Zeit dar. Nach Berechnungen des Militärhistorikers Manfred Messerschmidt fällten die Wehrmachtsgerichte über 30.000 Todesurteile - fast doppelt so viele wie die zivile Straf- und Sonderjustiz in der NS-Zeit. Die überwiegende Zahl betraf Deserteure. Etwa 22.000 Todesurteile wurden wegen Desertion verhängt. Dazu kamen noch zahlreiche Urteile wegen "Wehrkraftzersetzung" und Wehrdienstverweigerung insbesondere aus religiösen Gründen.

Wehrmachtsdeserteure gehören in der Bundesrepublik zu den NS-Opfern, die jahrzehntelang von Anerkennung, Rehabilitierung wie Entschädigung ausgegrenzt blieben. Verurteilte Deserteure, die dem Tod entkommen waren, mussten nach dem Krieg soziale Ächtung erleben. Sie galten weiterhin als vorbestraft.

Erst in den 80er Jahren kam es im Bundestag dazu, dass auch diese Verfolgungsschicksale parlamentarisch diskutiert wurden. In den 90er Jahren ist es dann gelungen, für die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure eine breite Unterstützung in der Publizistik zu mobilisieren. Das Anliegen traf aber auf hartnäckigen Widerstand aus der CDU/CSU. Der CSU-Abgeordnete Geis, rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, polemisierte, man dürfe "in keinem Fall Bestrebungen nachgeben, den Deserteuren der Wehrmacht von vornherein einen Persilschein auszustellen". Schließlich kam es 1997 zu einem faulen Kompromiss im Bundestag, der Deserteuren eine volle Rehabilitierung versagte. Die Unionsparteien sorgten dafür, dass ihnen weiterhin der Verdacht anhing, mit der Desertion doch irgendwie Unrecht begangen zu haben. Das setzte sich fort im "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" (NS-Aufhebungsgesetz), das der Bundestag noch unter der Kohl-Regierung im August 1998 beschlossen hat.
 

Durch dieses Gesetz wurden "verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind", für aufgehoben erklärt.

In diesem Sinne wurden Urteile nach zahlreichen Straftatbeständen aus der NS-Zeit pauschal aufgehoben. Nur zwei Verfolgtengruppen blieben hiervon ausgespart: Die Deserteure und die Homosexuellen. Auch die Homosexuellen waren von den Nationalsozialisten massiv verfolgt worden. Dazu hatten die Nazis die Strafrechtsbestimmungen gegen die sogenannte "widernatürliche Unzucht" im § 175 RStGB 1935 massiv verschärft. In der Bundesrepublik blieben homosexuellen Opfern der NS-Justiz jahrzehntelang jede Rehabilitierung und Anerkennung versagt, der § 175 in der Nazifassung bis 1969 unverändert in Kraft. Vor diesem Hintergrund ist es wirklich unfassbar, wie die damalige Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP noch vor drei Jahren verhindern konnte, dass eine generelle Aufhebung der Urteile nach § 175 RStGB in das NS-Aufhebungsgesetz aufgenommen wurde. Orginalton des damaligen Justizministers Schmidt-Jortzig: Das "passt einfach nicht hierein".

Homosexuelle wie nach Miltitärstrafgesetzbuch verurteilte Deserteure mussten sich, wollten sie eine Aufhebung ihrer Verurteilung nach dem NS-Aufhebungsgesetz erreichen, einer Einzelprüfung durch die Staatsanwaltschaft unterziehen. Das haben die meisten Betroffenen als absolut entwürdigend abgelehnt. Sie wollten nicht nochmals zum Staatsanwalt gehen und um Freispruch bitten müssen, nachdem sie vor 60 Jahren zu Unrecht verurteilt wurden.

Diese Schikane wird nun abgeschafft. Homosexuelle und Deserteure müssen zukünftig für ihre rechtliche Rehabilitierung nicht mehr den unwürdigen Gang zur Staatsanwaltschaft auf sich nehmen. Die gegen sie in der NS-Zeit ergangenen Unrechtsurteile werden umfassend und pauschal aufgehoben. Das NS-Aufhebungsgesetz wird entsprechend ergänzt. Beim Militärstrafgesetzbuch werden neben Desertion noch zusätzlich Verurteilungen aufgrund einer Vielzahl weiterer Bestimmungen aufgehoben, wie z.B. "Übergabe an den Feind", "Unerlaubte Entfernung", "Dienstpflichtverletzung aus Furcht", "Feigheit" oder gar "Heirat ohne Erlaubnis".

Nun wird von konservativer Seite immer wieder eingewandt, eine Rehabilitierung hätte negative Auswirkungen auf die Moral der Bundeswehr und zudem gäbe es doch auch viele Fälle, in denen Deserteure aus Feigheit "von der Fahne gingen" und ihre "Kameraden verrieten". Alle diese Einwände sind hanebüchen.

Es geht bei der Rehabilitierung gar nicht darum, heute zu bewerten, ob ein einzelner Deserteur ein Held oder vielleicht auch nur ein Feigling war. Vielmehr geht es um die Frage, ob das Dritte Reich als Staat grundsätzlich legitimerweise mit strafrechtlichen Mitteln den Gehorsam seiner Soldaten durchsetzen durfte. Das Dritte Reich hatte diese Legitimität eindeutig nicht. Es hatte keinen Anspruch darauf, dass seine Soldaten ihm gehorchten, weil es einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg führte, weil es eine illegitime Staatsführung hatte, die an Verbrechertum nicht zu überbieten war. Deshalb war der Strafanspruch dieses Staates in diesen Fragen grundsätzlich verwirkt.

Es geht auch nicht darum, über Soldaten der Wehrmacht, die meinten, bis zum Ende für ihr Vaterland kämpfen zu müssen, den Stab zu brechen. Schließlich: Wer von uns aus der jüngeren Generation weiß sicher, wie er in dieser Zeit gehandelt hätte? Eines gehört dennoch festgehalten: Es mag Feiglinge unter den Deserteuren gegeben haben. Aber es gab auch viele Männer, die aus Feigheit weiter in den Krieg gegangen sind, weiter das Morden in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern verteidigt haben und mit jedem Tag, den sie die deutsche Front im Osten länger gehalten haben, dafür gesorgt haben, dass Juden weiter in die Gaskammern kamen, weitere Menschen gemordet und verschleppt wurden und dass durch die Todesmärsche zahllose KZ-Häftlinge noch kurz vor Kriegsende zu Tode kamen.

Die Deserteure der Wehrmacht haben sich dem menschenverachtenden und völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Hitlers verweigert. Es ist von daher eine Schande, dass sie in der Bundesrepublik so lange den Makel des verurteilten Straftäters tragen mussten. Damit machen wir nun Schluss. Den Deserteuren der Wehrmacht wird endlich die Ehre wiedergegeben.

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Volker Beck (MdB) ist Mitglied im Fraktionsvorstand Bündnis 90 / Die Grünen.