Obama in der Ab-Aufrüstungsfalle

von Otfried Nassauer

Anfang April 2009 weckte Barack Obama große Hoffnungen. In Prag versprach er, für eine atomwaffenfreie Welt einzutreten. Neun Monate später, gegen Ende seines ersten Amtsjahres, droht dem US-Präsidenten ein substantieller Verlust an Glaubwürdigkeit. Bislang hat er wenig Konkretes erreicht. Er sitzt möglicherweise sogar bereits in der Falle: Nukleare Abrüstung soll es nur dann geben, wenn die amerikanischen Atomwaffen modernisiert werden – ganz so, wie George W. Bush es wollte.

Prag, 5. April 2009. Barack Obama hält eine Rede, die ihm bereits wenige Monate später den Friedensnobelpreis einbringen soll: „Als Nuklearwaffenstaat – als einziger Nuklearwaffenstaat, der je Atomwaffen eingesetzt hat – haben die USA die moralische Verpflichtung zu handeln. (...) Daher sage ich klar und mit Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen“, so der US-Präsident. Obama benannte seine ersten Schritte: Mit Russland will er bis zum Jahresende einen Nachfolgevertrag für den auslaufenden START-Vertrag aushandeln, der die strategischen Atomwaffen und deren Trägersysteme weiter reduziert. Der atomare Teststoppvertrag (CTBT) soll von Washington ratifiziert werden; ein internationaler Vertrag, der die Produktion nuklearwaffenfähiger Materialien verbietet (FMCT), soll ausgehandelt werden. Obama will „damit beginnen, unser Arsenal zu verringern“ und „die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren“. Er hat allen Grund zur Eile. Die Zeit drängt. Denn bis Mai 2010 müssen die Nuklearmächte ihren Willen zu weiteren Abrüstungsschritten unter Beweis gestellt haben, wenn erreicht werden soll, was Obama unbedingt erreichen will: Anlässlich der nächsten Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages möchte er deutlich strengere Regeln gegen die Verbreitung militärisch nutzbarer Nukleartechnik durchsetzen.

Wenig Resultate
Zum Jahresende 2009 - Obama ist fast ein Jahr im Amt - hat der US-Präsident jedoch wenig Greifbares vorzuweisen. Zwar initiierte er eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die das Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekräftigt. Doch konkrete Abrüstungsergebnisse kamen bislang nicht zustande. Kritisch betrachtet hat sich die Situation sogar deutlich verschlechtert: Denn mit dem START-Vertrag lief am 5. Dezember der Grundlagenvertrag der strategisch atomaren Rüstungskontrolle aus, ohne dass ein Nachfolgevertrag unterzeichnet worden wäre. Der Vertrag enthält die Grundregeln der strategischen Rüstungskontrolle, technische Definitionen, Verifikationsregeln und -instrumente. Die Fertigstellung eines Nachfolgers ist zwar angeblich nur noch eine Formsache, doch ob das Verhandlungsergebnis in Russland und vor allem in den USA je ratifiziert und damit zu einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag wird, ist noch ungewiss. Längst hat eine Koalition hart gesottener Nuklearwaffenbefürworter in Washington erkannt, dass die Ratifizierung des neuen Vertrages ihr beste Chancen bietet, hoch zu pokern und den neuen Vertrag in Geiselhaft zu nehmen, noch bevor er fertig ausgehandelt ist.

Das Pokerspiel um den START-Nachfolge-Vertrag wird die kommenden Monate prägen. Es prägt bereits die Erarbeitung des Nuclear Posture Reviews, in dem die Regierung Obama ihre nuklearen Zukunftsplanungen bis Februar 2010 zusammenfassen will und in dem entscheidende Fragen beantwortet werden sollen: Welche Rolle soll den Atomwaffen der USA künftig zukommen? Wie viel nukleare Abrüstung ist künftig möglich und wie viele Nuklearwaffen wollen die USA behalten? Welche Rolle soll die Modernisierung des US-Atomwaffenpotentials in den kommenden Jahren spielen? In naher Zukunft wird dieses Pokerspiel auch die Erfolgsaussichten der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages und die Haushaltsverhandlungen für 2011 prägen.

Zwei Lager
In den USA haben sich zwei Lager gebildet. Die nuklearen Abrüstungsbefürworter, die erste Erfolge auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt erzielen wollen, und die Befürworter einer nuklearen Modernisierung, die argumentieren, weitere Abrüstungsschritte seien nur möglich, wenn das Nuklearwaffenpotential der USA konsequent modernisiert werde.

Die Abrüstungsbefürworter haben sich bemüht, die Verhandlungen über einen START-Nachfolgevertrag mit Russland so zu gestalten, dass deren Ergebnis ihren Gegnern möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Da nur wenige Monate für Gespräche zur Verfügung standen, steckten sie sich keine großen, zeitaufwändigen und möglicherweise kontroversen Verhandlungsziele. Vorschläge, künftig auf je 1.000 Atomwaffen abzurüsten oder über taktische bzw. substrategische Atomwaffen mit zu verhandeln, kamen erst gar nicht offiziell auf den Tisch. Die Ziele waren begrenzter. Das wurde deutlich, als die Präsidenten Russlands und der USA ihre Vorgaben veröffentlichten: Der neue Vertrag soll die aktiven Sprengkopfpotentiale beider Länder auf 1.500 – 1.650 atomare Waffen begrenzen. Diese Obergrenze liegt nur wenig niedriger als jene des Moskauer Vertrages, der beiden Staaten Ende 2012 jeweils 1.700 bis 2.200 aktive Sprengköpfe zugesteht. Eine so moderate Verkleinerung der Arsenale zwingt die USA und Russland nicht, die Struktur ihrer Nuklearstreitkräfte substantiell zu verändern, also künftig entweder auf ihre see-, luft- oder landgestützten Trägersysteme zu verzichten. Ähnliches gilt für die Trägersysteme selbst.

Deren Zahl wird seit 1991 durch den START-Vertrag auf je 1.600 Systeme begrenzt, deutlich mehr, als die USA (1.188) und Russland (809) heute noch besitzen. Angestrebt wird eine neue Obergrenze, die zwischen 500 und 1.100 Trägersystemen liegen soll. Moskau wünscht niedrige Obergrenzen, weil es viele veraltete Raketen außer Dienst stellen muss. Washington will eine höhere Obergrenze, damit die Vertragsgegner nicht behaupten können, der Vertrag behindere den geplanten Bau konventionell bewaffneter Langstreckenraketen für das Global Strike-Programm. In Entwicklung befinden sich bereits konventionelle Versionen der Interkontinentalrakete Minuteman III und der U-Boot-Rakete Trident-II. Moskau wiederum würde dieses Programm gerne begrenzen oder ganz unterbinden, weil es fürchtet, die USA könnten auch solche Raketen nutzen, um Russlands Atomwaffen anzugreifen.

Doch die freiwillige Selbstbeschränkung der Obama-Administration auf relativ kleine Abrüstungsschritte genügt den Modernisierungsbefürwortern nicht. Sie wissen, dass Obama zur Ratifizierung des Vertrages im Senat 67 Stimmen benötigt, sieben mehr als die Demokraten haben. Zudem gehen sie davon aus, dass auch unter den demokratischen Senatoren der eine oder andere für eine Modernisierung der Atomwaffen plädiert. Auch die Modernisierungsbefürworter beziehen sich auf ein Versprechen aus Obamas Prager Rede: „Täuschen Sie sich nicht“ hatte der Präsident gesagt, „solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potentieller Feinde aufrecht erhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren“. Daraus wird nun gefolgert: Möglich ist weitere Abrüstung nur, wenn das US-Nuklearwaffenpotential auch modernisiert wird. Die Republikaner formulierten deshalb bereits harte Bedingungen, die sie vor einer Ratifizierung des START-Nachfolgevertrages erfüllt sehen wollen. Moskau dürfen für Abrüstungsschritte, die es aus Geldmangel vollziehen muss, keine Zugeständnisse gemacht werden. Obama müsse die geopolitischen Veränderungen aufzeigen, die eine Verkleinerung des US-Nuklearwaffenpotentials ermöglichen, der Nuclear Posture Review müsse zahlenmäßige Begrenzungen für nötig erklären, und militärische Erfordernisse – nicht politische Ziele – sollen diese Begrenzungen begründen. Der Vertrag müsse die taktischen Nuklearwaffen Russlands einbeziehen und dürfe keine Einschränkungen für andere US-Programme, wie das konventionelle Global Strike-Programm oder die Raketenabwehr mit sich bringen. Schließlich müsse der Präsident einen umfassenden Plan zur nuklearen Modernisierung vorlegen.

Das legt die Latte sehr hoch. So hoch, dass selbst die Republikaner nicht glauben können, dass sie übersprungen werden könnte. Über taktische Nuklearwaffen wird ja nicht einmal verhandelt, und jede Obergrenze für die Trägersystemen kann als Begrenzung des Global-Strike-Programms interpretiert werden. Doch den Republikanern und ihren Verbündeten geht es letztlich vor allem darum, den Einstieg in die Modernisierung des Nuklearwaffenpotentials der USA zu erreichen, das Global Strike-Programm weiter entwickeln zu können und keine neuen Beschränkungen für Raketenabwehrsystem einzugehen. Zudem hoffen sie, dass Obama doch noch auf die Ratifizierung des Teststoppvertrages verzichtet.

Neue Atombomben
Die Erfolgsaussichten dieses Manövers sind nicht schlecht. Robert Gates, der republikanische Verteidigungsminister, ist ein Befürworter der atomaren Modernisierung und federführend bei der Erarbeitung des Nuclear Posture Reviews. Bereits im September deutete er an, die neue Nuklearplanung werde „in ein oder zwei Fällen“ wahrscheinlich ein „neues Waffendesign“ erfordern. Gates, seine Generäle und die für die Atomwaffen zuständige Nationale Nukleare Sicherheitsagentur (NNSA) befürworten den Einstieg in die Modernisierung nun unter der Überschrift einer „Lebensdauerverlängerung“ (SLEP) für Atomsprengköpfe. Fachleute erwarten, dass es dabei zunächst um einen neuen Sprengkopf für seegestützte Raketen und um eine neue Atombombe gehen wird. Im Haushalt für 2010 sind erstmals 32,5 Millionen US-Dollar für Studien zur Modernisierung der nicht-nuklearen Komponenten einer neuen Bombe, der B-61-12, eingestellt. Sie soll frühestens ab 2018 strategische Atombomben und die in Europa gelagerten substrategischen Bomben des Typs B-61 ersetzen. Weitere 15 Millionen sollen 2010 freigegeben werden, wenn der Nuclear Posture Review bestätigt, dass diese Waffe erforderlich ist. Vor Studien über die Modernisierung der nuklearen Komponenten aber will sich der Kongress erneut mit dem Vorhaben befassen.

Barack Obama steht damit trotz der innenpolitisch begründeten Selbstbeschränkung auf begrenzte Abrüstungsschritte vor einer harten Auseinandersetzung. Starke Kräfte innerhalb und außerhalb der Administration wollen ihn zu einer Festlegung auf die Modernisierung der US-Atomwaffen zwingen. Lenkt Obama ein, so wäre das Ergebnis ein massiver Glaubwürdigkeitsverlust für ihn und vor allem für die Vision einer atomwaffenfreien Welt. Die nuklearen Modernisierungspläne George W. Bushs würden unter neuem Namen weiterleben. Keine guten Voraussetzungen für die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund

Themen

Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)