Ist „die Politik“ noch Herr des Unternehmens?

Oder hat längst auch in Deutschland ein Militärisch-industrieller Komplex (MIK) das Sagen?

von Wolfram Wette
Hintergrund
Hintergrund

Seit etwa einem Jahrzehnt gibt es in Deutschland einen systematischen politischen Kampf gegen deutsche Rüstungsexporte, die als moralisch verwerflich und konfliktverschärfend („Export des Todes“) angesehen werden. Besondere Kritik ruft die Tatsache hervor, dass sich Deutschland, von dessen Boden „nie wieder Krieg“ ausgehen sollte, in der Spitzengruppe der Rüstungsexport-Nationen befindet.

Ungläubig nehmen die Menschen in unserem Lande immer von neuem zur Kenntnis, dass die Bundesregierung Rüstungsexporte auch in solche Länder erlaubt, die aktuell Krieg führen oder die als menschenrechtsverletzende Staaten bekannt sind. Ungläubig deshalb, weil in diesem Lande restriktive Rüstungskontrollgesetze gelten, die international als vorbildlich angesehen werden. Dennoch führten sie bislang nicht zu einer deutlichen Reduzierung der Waffenexporte, allenfalls in einzelnen Sparten. Glaubt man den Meinungsumfragen, die zu diesem Thema in den letzten Jahren mit einer gewissen Regelmäßigkeit durchgeführt wurden, so sprechen sich rund vier Fünftel der Deutschen stets gegen diese Waffenexporte aus. Das ist ein bemerkenswerter Befund, der die Politik aufhorchen lassen müsste.

Normalerweise reagiert „die Politik“ auf einen solchen Meinungstrend in der Weise, dass sie der Stimmung in der Bevölkerung Rechnung trägt und sich um Abhilfe bemüht, was in diesem Falle bedeuten würde: zumindest auf die strikte Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu dringen. Im Falle der Rüstungsexporte gab es in der Vergangenheit glaubwürdige Absichtserklärungen von einzelnen Politikerinnen und Politikern, sich für eine Reduzierung der Waffenexporte einzusetzen. Die Erfolge blieben jedoch marginal. Damit drängt sich die Frage auf, ob „die Politik“ im Falle der Rüstungsexporte überhaupt noch Herr des Unternehmens ist. Oder kalkuliert sie, dass mit Friedenspolitik noch selten eine Wahl gewonnen werden konnte, weil Wirtschaft und Soziales die jeweils wahlentscheidenden Politikfelder waren? Oder vermutet sie, dass die Meinungsäußerungen über Waffenexporte in einer Krisensituation kaum belastbar sein dürften?

An dieser Stelle kommt das Erklärungsmodell „Militärisch-industrieller Komplex“ („MIK“) in den Blick. Es wurde von interessierter Seite gelegentlich als Produkt von Verschwörungstheorien denunziert, was der Sache jedoch in keiner Weise gerecht wird. Die Idee, dass es einen solchen Komplex – im Sinne einer Machtzusammenballung – in den USA gab und noch gibt, präsentierte der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills im Jahre 1956. Er erforschte die engen Interessenverbindungen zwischen Militär, Wirtschaft und politischen Eliten, die sich in den USA im Zweiten Weltkrieg und danach herausgebildet hatten. Insbesondere verwies er auf die – jenseits der demokratischen Institutionen stattfindende - Einflussnahme des Militärs auf Wissenschaft und Forschung.

Weltweite Beachtung fanden die Beobachtungen dadurch, dass kein Geringerer als der prominente Ex-General und spätere Präsident der USA (1953-1961), Dwight D. Eisenhower, sie aufgriff und in seiner Abschiedsrede vom 17. Januar 1961 den Begriff „Militärisch-industrieller Komplex“ prägte. Er sprach von Verflechtungen und Einflüssen, die eine Gefahr für die Demokratie darstellten. Die wirtschaftlichen Bestrebungen des MIK könnten sich auf die Politik in der Weise auswirken, dass sie als verlängerter Arm der Rüstungsindustrie agierten und diese drängten, Konflikte eher militärisch als politisch zu lösen. (1)

Gibt es einen solchen MIK auch in Deutschland? Mit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg ging 1945 das vorläufige Ende der deutschen Rüstungsindustrie einher. Die Produktion wurde stillgelegt. Die Waffenfabriken wurden zumindest teilweise demontiert. Der SPD-Politiker Carlo Schmid erklärte 1949 im verfassungsgebenden Parlamentarischen Rat, „dass in Deutschland keine Kanonen mehr gebaut werden sollen, nicht nur für uns, sondern auch für andere nicht“. (2) Dieses Versprechen hielt nicht lange. Im Zuge des Kalten Krieges und der westdeutschen Wiederaufrüstung entstand schon ein Jahrzehnt später wieder eine neue deutsche Rüstungsindustrie, in Westdeutschland wie auch in Ostdeutschland. Während die Bonner Regierung den Großteil ihrer Waffenkäufe zunächst in den USA tätigte – zum Wohlgefallen der dortigen Rüstungsindustrie –, stellte sie nach und nach auf Waffen deutscher Produktion um. Als sich herausstellte, dass der deutsche Markt (nämlich der Staat) alleine die Gewinnerwartungen der Industrie nicht erfüllen konnte, begann der Export von deutschen Waffen. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stand das seit 1990 geeinte Deutschland dann zeitweise auf dem schändlichen Platz 3 der Weltrangliste der Waffenexporteure.

Aber schon sehr viel früher, nämlich Anfang der 1970er Jahre, kam im Zuge der neu etablierten bundesdeutschen Friedens- und Konfliktforschung die Frage auf, ob es auch in Deutschland einen „Militärisch-industriellen Komplex“ gebe und welchen Einfluss dieser auf die Rüstungsexportpolitik habe. Der Experte Michael Brzoska bejahte diese Frage im Jahre 1989, als die staatlich subventionierte, bundesdeutsche Rüstungsindustrie bereits die weltweit sechstgrößte war, nach der UdSSR, den USA, China, Frankreich und Großbritannien. (3) Beispiel Marinerüstung: Zusammen mit den Interessenten an einer Auslastung der Werften setzte die Bundesmarine bei der Politik den Bau der von ihr für erforderlich gehaltenen Kriegsschiffe durch. Die privaten und staatlichen Besitzer der Werften, die dort Beschäftigen und ihre Gewerkschaften, ebenso die regionalen Politiker stimmten den jeweiligen Rüstungsprojekten zu. Die Werften hatten wirtschaftliche und technologische Interessen an staatlichen Rüstungsaufträgen, und die Bundesmarine drängte auf neue und bessere Waffen. Die Politik sah und sieht in der Rüstungsproduktion ein wirtschaftspolitisches Instrument zur Sicherung von Beschäftigung. Einige Sektoren der deutschen Rüstungsindustrie wurden aus eigener Kraft wieder angebotsfähig (Panzer, Kleinwaffen, U-Boote).

Obwohl er etliche Unterschiede zum MIK in den USA sieht, kommt Experte Brzoska zu dem Ergebnis, dass das MIK-Konzept auch für die Bundesrepublik eine „grundsätzliche Gültigkeit“ hat: „Wirtschaftliche und militärische Interessen beherrschen die politische Entscheidungsfindung […].“ (4) Dabei ist die Besonderheit zu beachten, dass in Deutschland die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten in der Regel vom bundesdeutschen Steuerzahler finanziert werden. Gleichwohl streben die deutschen Rüstungsfirmen, die meist in große Kapitalgesellschaften integriert sind, nach Rüstungsexporten, um zusätzliche Gewinne zu machen. Seit den 1970er Jahren gibt es Versuche der damaligen sozialliberalen Koalition, die Rüstungsexporte aus moralischen Gründen einzuschränken, ging es doch um die Glaubwürdigkeit der eigenen Friedenspolitik.

Trotzdem ist seit den 1970er Jahren „ein ständiger Aufweichungsprozess der Kontrolle“ festzustellen. Offenbar wirkten ein politisches Interesse an Rüstungsexporten und ein wirtschaftliches Interesse an Exportaufträgen zusammen. Denn die Waffensysteme wurden immer teurer, was die Rüstungsindustrie zur Produktion größerer Stückzahlen und deren Export ins Ausland veranlasste, besonders in die Dritte Welt. Seit den 1980er Jahren führten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie Krieg, z.B. Iran, Argentinien, Indonesien, Irak, Sudan, Nicaragua, Südafrika. (5)

In der wissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte wurde erkannt, dass in einem „Militärisch-industriellen Komplex“ nicht nur militärische und wirtschaftliche Interessen wirksam sind, sondern auch Interessen der Politik, der Bürokratie, der Geheimdienste, der Wissenschaft und der Medien. Der gesamte Komplex ist in die Aura des Geheimnisvollen getaucht. Die Öffentlichkeit hat kaum einen Zugang zu ihm. Forschung, Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Anwendung folgen mehr oder weniger den Gesetzen der militärischen Geheimhaltung. Besagte Interessenverflechtung ist selbst das kompakteste Geheimnis.

Weil besagte Interessen vor einer kritischen Öffentlichkeit verborgen werden sollen, verfolgen die ProtagonistInnen des MIK eine eigene Medienstrategie. Durch Feindbilder und systematische Irreführungen, durch Hinweise auf Bedrohungspotentiale, auf die Notwendigkeit der Verteidigung, auf bedrohte Menschenrechte, auf die Gefahren für Freiheit und Demokratie versuchen sie die staatliche Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der iranisch-stämmige Politikwissenschaftler Mohssen Massarrat, der lange an der Universität Osnabrück wirkte, vertritt die Auffassung, dass der „Militärisch-industrielle Komplex“ wegen dieser komplexen Interessenlage „die größte Bedrohung für den Weltfrieden in unserer Zeit“ darstellt. Dabei hat er besonders den MIK der USA und dessen Kriegslogik im Auge. (6) Er habe sich zu einem verborgenen „Staat im Staate“ entwickelt, der „wie ein Krebsgeschwür in allen Teilen der amerikanischen Gesellschaft, im politischen System, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in den kulturellen Einrichtungen und Medien gewachsen sei“. (7) Der MIK, stellte er 2015 fest, sei heute „mächtiger denn je“, weshalb auch von den USA die größte Bedrohung für den Frieden ausgehe. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es ähnliche Erscheinungen auch in etlichen anderen Industrienationen gibt.

Die Kenntnis der MIK-Problematik ist geeignet, unser Blickfeld zu erweitern und die vielfältigen Interessenverflechtungen besser zu erkennen, die hinter der deutschen Rüstungsexportpolitik stehen. Es handelt sich um eine Machtzusammenballung, die unseren Blicken weitgehend entzogen ist. Daher rührt auch der Mangel an Grundlagenforschung über dieses Thema, und daher rührt der nahezu ungebrochene Anstieg der Waffenexporte, wie wir aus den jährlichen Verlautbarungen von SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) und der deutschen GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung) zuverlässig wissen.

Mit Eisenhower erkennen wir, dass die Waffenexporte als Segment eines sehr viel größeren Systems gesehen werden müssen. Sie sind ein Teil der militärischen Machtpolitik, die sich derzeit im Zeichen der vielerorts zu beobachtenden Renationalisierung und Militarisierung wieder einmal im Auftrieb befindet.

Anmerkungen
1 Englischer Text der entsprechenden Passage der Eisenhower-Rede und deutsche Übersetzung im Eintrag: Texthttps://de.wikipedia.org/wiki/Milirisch-industrieller_Komplex
2 Zit. nach Dieter S. Lutz: Krieg und Frieden als Rechtsfrage im Parlamentarischen Rat 1948/49. Baden-Baden 1982, S. 55.
3 Michael Brzoska: Militärisch-industrieller Komplex in der Bundesrepublik und Rüstungsexportpolitik. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 8/89, S. 501-512. Im Internet greifbar unter: http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1989/1989-08-a-501.pdf
4 Ebda., S. 503.
5 Ebda., S. 509.
6 Mohssen Massarrat. Der Militärisch-industrielle Komplex ist die größte Bedrohung für den Weltfrieden in unserer Zeit“. Interview von Jens Wernicke für NachDenkSeiten, Die kritische Website, vom 13. Oktober 2015. Siehe den Eintrag_ http://www.nachdenkseiten.de/?p=28017
7 Ebda.

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Hintergrund
Wolfram Wette, geb. 1940, Prof. Dr. phil., Historiker, freier Autor und Mitbegründer der Historischen Friedensforschung, Historisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, davor (1971-1995) Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg, Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk.