Offener Brief an Bündnis 90

von Klaus VackAndreas BuroWolf Dieter Narr

Liebe Leute vom Bündnis 90!

 

Ihr habt bereits im August 1992 einen Offenen Brief an die Friedensbe­wegung, wie Ihr formuliert, ein Plädoyer für eine Erneuerung geschrie­ben, der uns erst jetzt in leicht gekürzter Fassung im FriedensForum 6 `92 zur Kenntnis gekommen ist.

Sie - "die" Friedensbewegung - besitzt bekanntlich viele Stimmen. Sie ist stark, weil sie basispolitisch an vielen Orten lebt (und zuweilen auch vergeht) und weil viele einzelne verstreut über die Republik sich ihr zugehörig empfinden. Deshalb erlebt sie je nach Situation Höhe- und Tiefpunkte. Sie ist im Sinne etablierter Politik schwach, weil sie über keine feste Organisation verfügt, um dau­ernd professionell agieren zu können. Sie handelt nicht als herrschaftliches, durch eine Person oder ein Präsidium repräsentiertes Subjekt; sie handelt, sich ab und an vereinigend, als pluralisti­scher Chor.

Wir schreiben Euch nun auch einen Of­fenen Brief, weil wir seit Jahrzehnten uns u.a. für Frieden und Menschen­rechte, für Abrüstung und gewaltfreie Konfliktlösungen engagieren und weil wir besonders im Zusammenhang mit "Jugoslawien" uns persönlich und als verantwortliche Mitarbeiter im Komitee für Grundrechte und Demokratie sowohl politisch als auch humanitär eingesetzt haben und dies auch heute noch tun. Seit dem 1. September 1991, dem Be­ginn der kriegerischen Auseinanderset­zungen in Ostslawonien, haben wir, fi­nanziert durch Spenden für zirka 1,5 Millionen DM u.a. Antikriegsgruppen in ihrer schweren Arbeit unterstützt, hu­manitäre, meist medizinische Hilfe für Kriegsflüchtlinge geleistet und die Ak­tion Internationale Freiwillige in den Flüchtlingslagern geholfen aufzubauen. Derzeit beteiligen wir uns an der Aktion Den Winter überleben, indem wir Kriegsflüchtlingen aus Bosnien zu Auf­enthalten in der Bundesrepublik verhel­fen.

Wir haben uns im gerade ablaufenden Jahr oft im ehemaligen Jugoslawien aufgehalten und politische Kontakte entwickelt. Bei der Mitorganisierung der Friedenskarawane (September 1991), der Veranstaltung einer internationalen Friedenskonferenz in Sarajewo, bei un­seren Erklärungen und in unseren Bei­trägen zur Strategie der Friedensbewe­gung haben wir ständig darauf bestan­den, zivilen, nichtmilitärischen Metho­den und Instrumente der Konfliktbear­beitung zu entwickeln. Dabei machten wir eine sonderbare Beobachtung: Poli­tiker und auch BürgerInnen riefen ange­sichts der Kriegsgreuel sehr bald nach dem letzten Mittel, der militäri­schen Intervention. Die vielen vorletzten Möglichkeiten, Menschenleben zu ret­ten, vorbeugend zu wirken und innerge­sellschaftliche Kräfte gegen den Krieg zu stärken, zogen sie nicht in Betracht. Da zugleich Militärs nicht zögerten zu versichern, eine Intervention brächte keine schnelle Lösung, würde sehr viele Opfer bei Soldaten und Zivilisten kosten und hätte keine sichere Perspektive, fra­gen wir uns, ob der Zug zum militäri­schen Eingreifen und die Forderung, pa­zifistischer Positionen neu zu bedenken, nicht andere als "realpolitische" Ursa­chen hat? Vielleicht können viele die unerhörten Spannungen aus unmittelba­rer Hilflosigkeit gegenüber dem Krieg­sterror nicht ertragen.

Wie Ihr sind wir gepeinigt von den Er­eignissen in Bosnien, aber auch in So­malia und anderwärts. Wie Ihr erfahren wir immer erneut "unsere offenkundige Hilflosigkeit". Auch wir wollen den "Realpolitikern", die mit ihren militäri­schen Zähnen knirschen, als könnten sie damit anderes bewirken, als Menschen zu zermalmen, nicht allein "das Feld" überlassen. Ohne Frage ist ein intensi­ves Nachdenken über die geeigneten Mittel, Frieden zu schaffen und zu er­halten, heute angezeigter denn je. Denn viele, das hebt Ihr zu Recht hervor, ha­ben nach dem Ende des Ost-West-Kon­fliktes immer noch nicht begriffen, wel­che neuen (genauer welche lange weg­gedrängten) Aufgaben heute zu bewälti­gen sind. Auch wir Friedensbewegten dürfen nicht einfach so weitermachen wie seither. Wir müssen vor allem dar­über nachsinnen, wie wir friedenspoli­tisch präventiv agieren können. Damit wir nicht immer nur hinterher die men­schenschlachtenden Kriegsübel und ihre Folgen zu beklagen haben und Hilfe für die Opfer meist nicht mehr ist als der oft zitierte "Tropfen auf den heißen Stein".

Ja, der "Pazifismus" darf "kein Be­schwörungsritual" werden. Pazifismus heißt allerdings für uns ständiger kriti­scher antikriegerischer Aktivismus. Wenn Pazifismus / Antimilitarismus nur für "Schönwetterperioden" tauglich wäre, könnte man auf ihn verzichten.

Wir empfinden jedoch, daß Ihr in zen­tralen Belangen in Gefahr geratet, auf eine schiefe, kriegerisch geneigte Ebene zu geraten.

1.    Wir sind auf Eurer Seite, wenn Ihr "für Menschenrechte, Demokratie und gewaltfreie Konfliktlösung" ein­treten und dafür breite Kreise der Be­völkerung gewinnen wollt. Wir hal­ten es aber aus unserer primär "westlichen" Erfahrung heraus für falsch, zu meinen, man könne sich solcherweise engagieren, ohne den weltmarktmächtig herrschenden und weiter expandierenden Kapitalismus, seine Hauptbeweger und Hauptpro­fiteure zu kritisieren. Gerade die fort­dauernd erneuert und zementierte Ungleichheit zwischen den Ländern, gerade der Mangel, die materiellen Bedingungen der Menschenrechte selbst in den kapitalistischwohlstän­digen Ländern zu schaffen, tragen dazu bei, daß aggressionsgeladene Bedingungen allüberall vorherrschen, sich akkumulieren  und je nach Gele­genheit gewaltförmig entladen. Men­schenrechte und Demokratie stellen ein gesamtgesellschaftliches Konzept dar, lassen sich nicht auf ein formell abgesondertes politisches System be­grenzen. Dies müssen wir begreifen. Sonst glauben wir selbst noch, die Spitzen der Weltmächte hätten mit militärischen Eingreifen vor allem Gutes im Sinn. Der Golfkrieg war das bedeutendste Exempel in jüngster Zeit für den zynischen Umgang herr­schaftlicher Politik mit Menschenle­ben.

2.    Wir stimmen zu: "Das Prinzip Ge­waltfreiheit", wie Ihr es nennt, muß durch das "Prinzip der Einmischung" ergänzt werden. Denn Menschen­rechte leben von ihrem universellen Anspruch. Obgleich die Besonder­heiten allerorten beachtet und weit­möglichst geachtet werden müssen, dient das universell geltende men­schenrechtliche Prinzip dazu, überall offene und verborgene Herrschafts-, Ungleichts- und Ausbeutungsformen aufzudecken. Einmischung also ist Trumpf. Der staatliche Souveräni­tätsanspruch muß angesichts des menschenrechtlichen Integritätsan­spruchs ins zweite Glied zurücktre­ten. Wenn sich Einmischung in die angeblich "inneren Angelegenheiten" anderer Staaten menschenrechtlich von selbst versteht, wird allerdings die Antwort auf die Frage entschei­dend: Mit welchen Instrumenten soll sie geschehen? Hier bleibt Eure Ant­wort im Halbdunkel. Jedenfalls ist für uns die Ergänzung des gewaltfreien Instrumentariums durch die militäri­sche Intervention ausgeschlossen. Abgesehen davon, daß nach allen Er­fahrungen die zusätzliche kriegeri­sche "Konfliktlösung" (auch in einem bereits tobenden Krieg!) die Sache für Opfer aktuell nur schlimmer macht, wirkt sie auch in die Zukunft als Ursache immer neuer kriegeri­scher Konflikte. Einmischen ja: aber gefragt sind zivile positive Sanktio­nen, politische Initiativen, Diploma­tie und uneigennützige und uneinge­schränkte humanitäre Hilfe aller Art für die Opfer, nicht nur von der Seite des Staates, sondern auch aus den Gesellschaften heraus (gerade hier ist die Friedensbewegung besonders gefordert!).

3.    "Erneuerung" der Friedensbewegung, so schreibt Ihr, setze voraus die "La­germentalität" aufzugeben und "die einseitigen Schuldzuweisungen" an die Adresse der USA zu unterlas­sen. Wo steht Ihr die Kontinuität die­ser "Lagermentilität" und "einseitige Schuldzuweisung"? Der behauptete Antiamerikanismus "der" Friedens­bewegung ist doch im Großen und Ganzen nichts anderes als eine wohlin­szenierte Strategie, um die Friedens­bewegung ihrer Glaubwür­digkeit zu berauben. Dann fahrt Ihr fort zu be­tonen, man müsse nun eben "einmal die internationalen Organi­sationen" friedenspolitisch so nützen, wie sie sind. Ihr wollt danach den Boden da­für bereiten, daß "Blau­helmeinsätze auch mit deutscher Be­teiligung mög­lich sind", indem ihr hinzufügt, diese sollten auf "nichtmilitärische Kon­fliktschlich­tung" ausgerichtet sein. Wenig später ist dann verwässernd von "möglichst gewaltfrei" die Rede. Wo es um Krieg und Frieden geht, wo also äu­ßerste Klarheit und Ein­deutigkeit be­stehen müsste, werdet Ihr argumenta­tiv verschwommen und setzt auf In­stitutionen und deren In­strumente, die weder von Euch noch von "der" Friedensbewegung mitzu­bestimmen sind. Damit lasst Ihr Euch auf eine "Gratwanderung" ein, die sich frie­denspolitisch nicht definieren läßt. So geratet Ihr in Gefahr, "realpolitische" den etablierten In­stitutionen und der einseitigen UNO-Bestimmung durch die kapitalistisch und militärisch füh­renden Nationen einen legitimatori­schen Finger zu ge­ben und darüber die ganze friedens­politische, tauben-haltende Hand zu verlieren. Wir alle sind Menschen dieser Welt und müs­sen mit den eta­blierten Institutionen "leben". Das ist das eine. Das andere aber ist, sich diesen etablierten Insti­tutionen anzu­vertrauen, in der An­nahme, sie trie­ben eine Politik, die friedenspolitisch angemessen wäre. Das ist so, als würde sich eine Maus mit einem Lö­wen verbinden und dar­auf hoffen, der Löwe werde sich hin­fort nicht mehr löwenartig benehmen.

4.    Die Neuerungsrichtung, die Ihr an­zeigt, halten wir für nachweisbar ver­hängnisvoll. So schlimm es ist: wir friedenspolitisch Engagierten, dürfen in unserer verzweifelten Hilflosig­keit, sichtbare Erfolge suchend, nicht etablierten Institutionen und deren Vertretern die Definition über das, was Friedenspolitik ist, überlassen. Die UNO hat nur als Schlichtungsin­stanz eine Chance. Dafür gilt es zu verbessern. Die etablierten mächtigen Staaten aber, wie auch die BRD, för­dern mit militärischen Mitteln den Frieden nicht. Sie sorgen für die Kontinuität der anwachsenden Blut­spur in Geschichte und Gegenwart. Sie wirken daran mit, daß soziale Umstände erhalten und neue geschaf­fen werden, die erneut nach Unlö­sungen durch Gewalt schreien. Von gerechten Kriegen zu reden, war im­mer schon herrschaftliche Täu­schung. Heute wird solche Reden auch nichtredendes Handeln zum Mord an Menschen. Für solche, die für Menschenrechte und Demokratie eintreten, gibt es keine Alternative zum Pazifismus und das heißt zu strikt gewaltfreien Mitteln. Anson­sten aber ist die "Waffe" der Kritik einzusetzen, gerade an den herr­schenden Umständen wohlständig-mächtiger Staaten, die die scheinbar "hausgemachten" Konflikte, in die­sem Falle im ehemaligen Jugosla­wien und aktuell besonders in Bos­nien, mitbewirkten. Und immer kommt es darauf an, friedenspolitisch rechtzeitig vorbeugend aktiv zu wer­den. Ob angesichts der sozialen, ökologischen usw. Probleme und der Unbeweglichkeit herrschender Machtpolitik diesen Problemen ge­genüber eine Welt in Frieden über­haupt zu erhoffen ist, mag man be­zweifeln. Und doch rechtfertigt dies nicht, daß solche von uns, die durch­aus ohne Waffen leben wollen, dann nach noch mehr Waffeneinsatz rufen, wenn ein Krieg bereits tobt. Viele Beobachtungen sprechen dafür, daß den Menschenrechten und ihren Be­fürwortern in dieser kalten und ver­worrenen Zeit der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein Grund mehr, für gerechte und friedenstif­tende und damit nichtkriegerische Lösungen sich zu engagieren.

Der öffentliche friedenspolitische Dis­kurs, zu dem Ihr aufruft, ist mehr denn je geboten. Wir hoffen, bald ausführli­cher mit Euch und anderen diskutieren und möglichst zu gemeinsamen frieden­spolitischen Aktionen kommen zu kön­nen.

Mit freundschaftlichen Grüßen

Andreas Buro, Wolf-Dieter Narr, Klaus Vack

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