Eine Woche vor Ostern rufen wir mit unserem Aufruf "Kriege stoppen - Frieden und Abrüstung jetzt! " in mehreren Zeitungen zur Teilnahme an den Ostermärschen 2025 auf. Hilf auch du mit bei der Mobiliserung!
Offener Brief an Bündnis 90
vonLiebe Leute vom Bündnis 90!
Ihr habt bereits im August 1992 einen Offenen Brief an die Friedensbewegung, wie Ihr formuliert, ein Plädoyer für eine Erneuerung geschrieben, der uns erst jetzt in leicht gekürzter Fassung im FriedensForum 6 `92 zur Kenntnis gekommen ist.
Sie - "die" Friedensbewegung - besitzt bekanntlich viele Stimmen. Sie ist stark, weil sie basispolitisch an vielen Orten lebt (und zuweilen auch vergeht) und weil viele einzelne verstreut über die Republik sich ihr zugehörig empfinden. Deshalb erlebt sie je nach Situation Höhe- und Tiefpunkte. Sie ist im Sinne etablierter Politik schwach, weil sie über keine feste Organisation verfügt, um dauernd professionell agieren zu können. Sie handelt nicht als herrschaftliches, durch eine Person oder ein Präsidium repräsentiertes Subjekt; sie handelt, sich ab und an vereinigend, als pluralistischer Chor.
Wir schreiben Euch nun auch einen Offenen Brief, weil wir seit Jahrzehnten uns u.a. für Frieden und Menschenrechte, für Abrüstung und gewaltfreie Konfliktlösungen engagieren und weil wir besonders im Zusammenhang mit "Jugoslawien" uns persönlich und als verantwortliche Mitarbeiter im Komitee für Grundrechte und Demokratie sowohl politisch als auch humanitär eingesetzt haben und dies auch heute noch tun. Seit dem 1. September 1991, dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in Ostslawonien, haben wir, finanziert durch Spenden für zirka 1,5 Millionen DM u.a. Antikriegsgruppen in ihrer schweren Arbeit unterstützt, humanitäre, meist medizinische Hilfe für Kriegsflüchtlinge geleistet und die Aktion Internationale Freiwillige in den Flüchtlingslagern geholfen aufzubauen. Derzeit beteiligen wir uns an der Aktion Den Winter überleben, indem wir Kriegsflüchtlingen aus Bosnien zu Aufenthalten in der Bundesrepublik verhelfen.
Wir haben uns im gerade ablaufenden Jahr oft im ehemaligen Jugoslawien aufgehalten und politische Kontakte entwickelt. Bei der Mitorganisierung der Friedenskarawane (September 1991), der Veranstaltung einer internationalen Friedenskonferenz in Sarajewo, bei unseren Erklärungen und in unseren Beiträgen zur Strategie der Friedensbewegung haben wir ständig darauf bestanden, zivilen, nichtmilitärischen Methoden und Instrumente der Konfliktbearbeitung zu entwickeln. Dabei machten wir eine sonderbare Beobachtung: Politiker und auch BürgerInnen riefen angesichts der Kriegsgreuel sehr bald nach dem letzten Mittel, der militärischen Intervention. Die vielen vorletzten Möglichkeiten, Menschenleben zu retten, vorbeugend zu wirken und innergesellschaftliche Kräfte gegen den Krieg zu stärken, zogen sie nicht in Betracht. Da zugleich Militärs nicht zögerten zu versichern, eine Intervention brächte keine schnelle Lösung, würde sehr viele Opfer bei Soldaten und Zivilisten kosten und hätte keine sichere Perspektive, fragen wir uns, ob der Zug zum militärischen Eingreifen und die Forderung, pazifistischer Positionen neu zu bedenken, nicht andere als "realpolitische" Ursachen hat? Vielleicht können viele die unerhörten Spannungen aus unmittelbarer Hilflosigkeit gegenüber dem Kriegsterror nicht ertragen.
Wie Ihr sind wir gepeinigt von den Ereignissen in Bosnien, aber auch in Somalia und anderwärts. Wie Ihr erfahren wir immer erneut "unsere offenkundige Hilflosigkeit". Auch wir wollen den "Realpolitikern", die mit ihren militärischen Zähnen knirschen, als könnten sie damit anderes bewirken, als Menschen zu zermalmen, nicht allein "das Feld" überlassen. Ohne Frage ist ein intensives Nachdenken über die geeigneten Mittel, Frieden zu schaffen und zu erhalten, heute angezeigter denn je. Denn viele, das hebt Ihr zu Recht hervor, haben nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes immer noch nicht begriffen, welche neuen (genauer welche lange weggedrängten) Aufgaben heute zu bewältigen sind. Auch wir Friedensbewegten dürfen nicht einfach so weitermachen wie seither. Wir müssen vor allem darüber nachsinnen, wie wir friedenspolitisch präventiv agieren können. Damit wir nicht immer nur hinterher die menschenschlachtenden Kriegsübel und ihre Folgen zu beklagen haben und Hilfe für die Opfer meist nicht mehr ist als der oft zitierte "Tropfen auf den heißen Stein".
Ja, der "Pazifismus" darf "kein Beschwörungsritual" werden. Pazifismus heißt allerdings für uns ständiger kritischer antikriegerischer Aktivismus. Wenn Pazifismus / Antimilitarismus nur für "Schönwetterperioden" tauglich wäre, könnte man auf ihn verzichten.
Wir empfinden jedoch, daß Ihr in zentralen Belangen in Gefahr geratet, auf eine schiefe, kriegerisch geneigte Ebene zu geraten.
1. Wir sind auf Eurer Seite, wenn Ihr "für Menschenrechte, Demokratie und gewaltfreie Konfliktlösung" eintreten und dafür breite Kreise der Bevölkerung gewinnen wollt. Wir halten es aber aus unserer primär "westlichen" Erfahrung heraus für falsch, zu meinen, man könne sich solcherweise engagieren, ohne den weltmarktmächtig herrschenden und weiter expandierenden Kapitalismus, seine Hauptbeweger und Hauptprofiteure zu kritisieren. Gerade die fortdauernd erneuert und zementierte Ungleichheit zwischen den Ländern, gerade der Mangel, die materiellen Bedingungen der Menschenrechte selbst in den kapitalistischwohlständigen Ländern zu schaffen, tragen dazu bei, daß aggressionsgeladene Bedingungen allüberall vorherrschen, sich akkumulieren und je nach Gelegenheit gewaltförmig entladen. Menschenrechte und Demokratie stellen ein gesamtgesellschaftliches Konzept dar, lassen sich nicht auf ein formell abgesondertes politisches System begrenzen. Dies müssen wir begreifen. Sonst glauben wir selbst noch, die Spitzen der Weltmächte hätten mit militärischen Eingreifen vor allem Gutes im Sinn. Der Golfkrieg war das bedeutendste Exempel in jüngster Zeit für den zynischen Umgang herrschaftlicher Politik mit Menschenleben.
2. Wir stimmen zu: "Das Prinzip Gewaltfreiheit", wie Ihr es nennt, muß durch das "Prinzip der Einmischung" ergänzt werden. Denn Menschenrechte leben von ihrem universellen Anspruch. Obgleich die Besonderheiten allerorten beachtet und weitmöglichst geachtet werden müssen, dient das universell geltende menschenrechtliche Prinzip dazu, überall offene und verborgene Herrschafts-, Ungleichts- und Ausbeutungsformen aufzudecken. Einmischung also ist Trumpf. Der staatliche Souveränitätsanspruch muß angesichts des menschenrechtlichen Integritätsanspruchs ins zweite Glied zurücktreten. Wenn sich Einmischung in die angeblich "inneren Angelegenheiten" anderer Staaten menschenrechtlich von selbst versteht, wird allerdings die Antwort auf die Frage entscheidend: Mit welchen Instrumenten soll sie geschehen? Hier bleibt Eure Antwort im Halbdunkel. Jedenfalls ist für uns die Ergänzung des gewaltfreien Instrumentariums durch die militärische Intervention ausgeschlossen. Abgesehen davon, daß nach allen Erfahrungen die zusätzliche kriegerische "Konfliktlösung" (auch in einem bereits tobenden Krieg!) die Sache für Opfer aktuell nur schlimmer macht, wirkt sie auch in die Zukunft als Ursache immer neuer kriegerischer Konflikte. Einmischen ja: aber gefragt sind zivile positive Sanktionen, politische Initiativen, Diplomatie und uneigennützige und uneingeschränkte humanitäre Hilfe aller Art für die Opfer, nicht nur von der Seite des Staates, sondern auch aus den Gesellschaften heraus (gerade hier ist die Friedensbewegung besonders gefordert!).
3. "Erneuerung" der Friedensbewegung, so schreibt Ihr, setze voraus die "Lagermentalität" aufzugeben und "die einseitigen Schuldzuweisungen" an die Adresse der USA zu unterlassen. Wo steht Ihr die Kontinuität dieser "Lagermentilität" und "einseitige Schuldzuweisung"? Der behauptete Antiamerikanismus "der" Friedensbewegung ist doch im Großen und Ganzen nichts anderes als eine wohlinszenierte Strategie, um die Friedensbewegung ihrer Glaubwürdigkeit zu berauben. Dann fahrt Ihr fort zu betonen, man müsse nun eben "einmal die internationalen Organisationen" friedenspolitisch so nützen, wie sie sind. Ihr wollt danach den Boden dafür bereiten, daß "Blauhelmeinsätze auch mit deutscher Beteiligung möglich sind", indem ihr hinzufügt, diese sollten auf "nichtmilitärische Konfliktschlichtung" ausgerichtet sein. Wenig später ist dann verwässernd von "möglichst gewaltfrei" die Rede. Wo es um Krieg und Frieden geht, wo also äußerste Klarheit und Eindeutigkeit bestehen müsste, werdet Ihr argumentativ verschwommen und setzt auf Institutionen und deren Instrumente, die weder von Euch noch von "der" Friedensbewegung mitzubestimmen sind. Damit lasst Ihr Euch auf eine "Gratwanderung" ein, die sich friedenspolitisch nicht definieren läßt. So geratet Ihr in Gefahr, "realpolitische" den etablierten Institutionen und der einseitigen UNO-Bestimmung durch die kapitalistisch und militärisch führenden Nationen einen legitimatorischen Finger zu geben und darüber die ganze friedenspolitische, tauben-haltende Hand zu verlieren. Wir alle sind Menschen dieser Welt und müssen mit den etablierten Institutionen "leben". Das ist das eine. Das andere aber ist, sich diesen etablierten Institutionen anzuvertrauen, in der Annahme, sie trieben eine Politik, die friedenspolitisch angemessen wäre. Das ist so, als würde sich eine Maus mit einem Löwen verbinden und darauf hoffen, der Löwe werde sich hinfort nicht mehr löwenartig benehmen.
4. Die Neuerungsrichtung, die Ihr anzeigt, halten wir für nachweisbar verhängnisvoll. So schlimm es ist: wir friedenspolitisch Engagierten, dürfen in unserer verzweifelten Hilflosigkeit, sichtbare Erfolge suchend, nicht etablierten Institutionen und deren Vertretern die Definition über das, was Friedenspolitik ist, überlassen. Die UNO hat nur als Schlichtungsinstanz eine Chance. Dafür gilt es zu verbessern. Die etablierten mächtigen Staaten aber, wie auch die BRD, fördern mit militärischen Mitteln den Frieden nicht. Sie sorgen für die Kontinuität der anwachsenden Blutspur in Geschichte und Gegenwart. Sie wirken daran mit, daß soziale Umstände erhalten und neue geschaffen werden, die erneut nach Unlösungen durch Gewalt schreien. Von gerechten Kriegen zu reden, war immer schon herrschaftliche Täuschung. Heute wird solche Reden auch nichtredendes Handeln zum Mord an Menschen. Für solche, die für Menschenrechte und Demokratie eintreten, gibt es keine Alternative zum Pazifismus und das heißt zu strikt gewaltfreien Mitteln. Ansonsten aber ist die "Waffe" der Kritik einzusetzen, gerade an den herrschenden Umständen wohlständig-mächtiger Staaten, die die scheinbar "hausgemachten" Konflikte, in diesem Falle im ehemaligen Jugoslawien und aktuell besonders in Bosnien, mitbewirkten. Und immer kommt es darauf an, friedenspolitisch rechtzeitig vorbeugend aktiv zu werden. Ob angesichts der sozialen, ökologischen usw. Probleme und der Unbeweglichkeit herrschender Machtpolitik diesen Problemen gegenüber eine Welt in Frieden überhaupt zu erhoffen ist, mag man bezweifeln. Und doch rechtfertigt dies nicht, daß solche von uns, die durchaus ohne Waffen leben wollen, dann nach noch mehr Waffeneinsatz rufen, wenn ein Krieg bereits tobt. Viele Beobachtungen sprechen dafür, daß den Menschenrechten und ihren Befürwortern in dieser kalten und verworrenen Zeit der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein Grund mehr, für gerechte und friedenstiftende und damit nichtkriegerische Lösungen sich zu engagieren.
Der öffentliche friedenspolitische Diskurs, zu dem Ihr aufruft, ist mehr denn je geboten. Wir hoffen, bald ausführlicher mit Euch und anderen diskutieren und möglichst zu gemeinsamen friedenspolitischen Aktionen kommen zu können.
Mit freundschaftlichen Grüßen
Andreas Buro, Wolf-Dieter Narr, Klaus Vack