Orientierung

von Lissy Schmidt
  • Zwei Millionen Kurden sind auf der Straße -- Neue Massenflucht?- - Nein, sie demonstrieren im Irak gegen die UNO.
  • Türkische Luftwaffe bombardiert - Eskalation in Türkisch-Kurdistan? - Nein, sie bombardieren irakisches Territorium.
  • Kurdische Schmugglerkarawanen in den Hinterhalt gelockt! - Die türkisch-irakische Grenze wird wohl abgeriegelt? Nein, diesmal geht es um den Iran.

Spätestens seit dem "Zweiten Golfkrieg" ist die Kurdenfrage zu einem "Thema" für die Medien geworden. Das heißt nicht, daß regelmäßig und ausführlich über die Vorgänge in Kurdistan berichtet wird. Es bedeutet vielmehr, daß die Region in die "Liste möglicher Themen in aktueller Berichterstattung" aufgenommen wurde. Einstiegsvoraussetzung für diese Liste sind 5.000 - 10.000 Tote auf einen Schlag, damit ist die Schwelle überwunden, der Platz in der Medienwelt ist errungen - makaber, aber wahr. Spätestens seit dem Golfkrieg fragen sich also RedakteurInnen und Leserlnnen oder ZuhörerInnen / ZuschauerInnen bei jeder Erwähnung "Kurdistans" nicht mehr, "wo liegt denn das schon wieder". Mehr als die  geographische Lage ist dann aber auch dem oder der zuständigen RedakteurIn selten bekannt;  manche Wissen noch, daß das die sind, die irgendwie immer fliehen …

Solide Hintergrundinformationen sind in den Medien selten zu finden, was dazu führt, daß viele Informationen über Kurdistan auf Grund der komplizierten Struktur der Kurdenfrage kaum eingeordnet werden können. Die Komplexität der Kurdenfrage ist in erster Linie auf die Vierteilung Kurdistans zurückzuführen. Kurden gibt es im Iran, Irak, der Türkei und Syrien, kleinere Gruppen auch in Armenien und Aserbeidschan.

Iran

Das Mullah-Regime im Iran hat nach einer kurzen Atempause, ebenso wie vorher der Schah, den Kampf gegen die Kurden wieder aufgenommen. Insbesondere nach Beendigung des Krieges Iran/ lrak nahm die Repression gegen die Kurden wieder extremere Formen an. Auf Grund der schweren Wirtschaftskrise im Iran (bis zu 70 Prozent Inflation, 13 Millionen Arbeitslose), die nach Kriegsende in keiner Weise behoben werden konnte, hat sich in den Jahren 1991 und 92 in der gesamten iranischen Bevölkerung großer Unmut breitgemacht. In vielen Städten kam es in diesem Zeitraum zu Unruhen und Demonstrationen gegen das Regime. Bis heute ist es jedoch nicht gelungen, diesen Unmut politisch zu organisieren. Eigentlich sind nur die Kurden in der Lage, vor allem jungen Menschen - in erster Linie Frauen - eine konkrete Möglichkeit politischer Aktivität anzubieten: Die "Demokratische Partei Kurdistan" Iran, die den Partisanenkampf in den iranisch-kurdischen Bergen führt, verfügt zwar über keine befreiten Gebiete, sie kann sich aber auf die Unterstützung fast der gesamten Landbevölkerung stützen. Die Komala, Kommunistische Partei Iran, hat ihren Schwer-punkt eher in den Städten, in denen sie Strukturen aufzubauen versucht, die einen Volksaufstand tragen können. Beide Parteien verzeichneten in den beiden vergangenen Jahren großen Zulauf und werden deshalb mehr als andere Gruppierungen auch Opfer der Repression. Sie streben nicht nach einem eigenen kurdischen Staat, sondern haben Autonomie innerhalb eines demokratischen - die Komala als Endziel eines kommunistischen - Iran als Zielvorstellung.

1988 wurde der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Dr. Abdurrahman Ghassemlou, in Wien ermordet, als er sich mit iranischen Regierungsvertretern zu Verhandlungen treffen wollte. Sein Nachfolger, Dr. Sait Scherefkendi, erlitt im September 1992 in Berlin während seiner Teilnahme an der Konferenz der Sozialistischen Internationalen das gleiche Schicksal. Beide Male gilt es als sicher, daß die iranische Regierung für die Attentate verantwortlich ist.

Während das iranische Militär Auseinandersetzungen mit den Partisanen weitgehend aus dem Wege geht, nehmen seine Aktionen gegen die Zivilbevölkerung in Dörfern und Städten ständig an Brutalität zu. In letzter Zeit bombardierte die iranische Luftwaffe mehrmals - offenbar mit Zustimmung der irakischen Führung - kurdische Dörfer und Stützpunkte der Demokratischen Partei Kurdistan Iran auf der -irakischen Seite- der Grenze.

Irak

Seit März 1991 kontrolliert die "Kurdistan Front" im Irak zwei Drittel der kurdischen Gebiete. Im Mai 1992 wurden in dieser selbstverwalteten Region Wahlen durchgeführt, bei denen nur die zwei größten der insgesamt 8 Parteien der Front die selbstgesteckte 7-Prozent-Klausel überwinden konnten und ins Parlament einzogen: Die Demokratische Partei Kurdistan Irak (keine organische Beziehung zu der gleichnamigen Partei im Iran) unter der Leitung Massoud Barzanis und die Patriotische Union Celal Talabanis.

Das Parlament und die im Juli gegründete Regierung wurden jedoch bis heute völkerrechtlich nicht anerkannt. Auch die Regierung erhebt  nicht den Anspruch auf einen eigenen Staat. Im Oktober 1992 erklärte Sie offiziell, daß sie sich als Teil einer Föderation im Rahmen des heutigen Iraks versteht - allerdings erst nach dem Sturz Saddam Husseins. Durch das Embargo, das die Regierung in Bagdad (nicht zu verwechseln mit dem UN-Embargo) über die selbstverwaltete kurdische Region verhängt hat, ist diese jedoch momentan faktisch völlig "selbständig". Dies gilt umso mehr, da das UN-Embargo Kurdistan als Teil des Irak ebenfalls miteinschließt.

Die Kurdische Region besitzt somit mehr "Eigenständigkeit" als sie eigentlich anstrebt und ist zugleich von einer enormen ökonomischen Not betroffen. Die reichen kurdischen Ölgebiete um Kirkük befinden sich immer noch unter irakischer Kontrolle.

Die Alliierten, die die Kurden während des Aufstandes und der irakischen Napalmangriffe gegen kurdische Großstädte allein gelassen hatten, richteten nach der Massenflucht im April 1991 eine Schutzzone ein, in der irakische Luftangriffe verboten waren. Eine in der Türkei stationierte alliierte Eingreiftruppe sorgt für die Einhaltung dieser Zone, die durch den 36. Breitengrad begrenzt wird. Die fruchtbarsten und reichsten Teile des selbstverwalteten Kurdistan befinden sich jedoch zwischen dem 36. und dem 34. Breitengrad, also nicht innerhalb der Schutzzone. Dort finden bis heute noch Hubschrauberangriffe des Irak statt.

Türkei

In der Türkei kämpft die kurdische Arbeiterpartei PKK gegen das türkische Militär (nähere Angaben hierzu ab S. 26). Als einzige Organisation, die heute den bewaffneten Kampf führt, hat sie einen eigenen kurdischen Staat - der sich im Endeffekt über alle Teile Kurdistans erstrecken soll - zum Ziel. In letzter Zeit gibt es allerdings immer wieder Aussagen der PKK (siehe auch Interview auf S. 26), die darauf hindeuten, daß für sie auch eine Föderation ''Türkisch-Kurdistan" mit der Türkei akzeptabel wäre. Bedingung hierfür wäre allerdings die völlige Gleichberechtigung von Kurden und Türken.

Syrien

In Syrien führen die syrischen Kurden gegenwärtig keinen militärischen Kampf gegen die Regierung. Es gibt kurdische Organisationen, deren Aktivitäten jedoch in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden können. Die syrische Regierung ihrerseits unterstützt sowohl die PKK als auch die kurdischen Organisationen aus dem Irak, Die Unterstützung der PKK oder eben ihre Unterbindung wird von Syrien immer wieder als Verhandlungsgegenstand in türkisch syrische Gespräche über die Wasser des Euphrat eingebracht (vgl. Kasten "Finger am Wasserhahn", S.13)

"Bruderkrieg"

Sowohl die PKK als auch die iranisch- kurdischen Organisationen haben ihre Stützpunkte im Irak- die iranischen waren schon vor dem Volksaufstand dort - und können sich nun, da Kurden das Gebiet verwalten, frei bewegen. Die beiden iranischen Organisationen haben sogar ihre Hauptquartiere in Irakisch-Kurdistan aufgeschlagen. Gleichzeitig unterhält die kurdische Regierung in Irakisch- Kurdistan "Beziehungen zum iranischen Mullah-Regime. Der Grenzhandel (Schmuggel), der von den Passdaran, den islamischen Revolutionswächtern, geduldet wird, ist neben dem türkischen Grenzübergang die zweite und letzte Möglichkeit, Kurdistan mit Lebensmitteln zu beliefern. Obwohl der Iran nicht gerade gute Beziehungen zum Irak hat und hatte, spricht er sich - wie auch die Türkei - entschieden gegen eine Änderung der irakischen Grenzen aus.

Auch die PKK verfügt über Niederlassungen entlang der türkisch-irakischen Grenze. Diese Niederlassungen sind wohl unter anderem Gegenstand eines jeden Gespräches der kurdischen Führung im Irak mit der türkischen Regierung. Noch 1991 weigerte sich die "Front“ entschieden, die PKK aus ihrem Territorium zu vertreiben. Im September 1992  änderte sie jedoch ihre Taktik und rief zum bewaffneten  Vorgehen gegen die PKK auf. Die kurdische Regierung forderte von der PKK, ihre von irakischem Territorium aus durchgeführten militärischen Aktionen gegen die Türkei einzustellen. Andernfalls wäre es der PKK nicht länger erlaubt, sich auf irakisch-kurdischem Gebiet aufzuhalten. Diese Forderung war aus der Sicht der kurdischen Regierung durchaus verständlich. Der Grenzübergang zur Türkei stellte für das völlig abgeschnittene und völkerrechtlich nicht anerkannte Kurdistan die einzige Lebensader dar. Für die PKK war es andererseits mehr als schwierig, in der heißesten Phase ihres Kampfes gegen die türkische Regierung auf ihr Rückzugsgebiet zu verzichten. Sie hatte schon seit längerem schärfstens  kritisiert, daß sich eine  kurdische Regierung auf Gespräche mit Ankara einließ, auf dessen Weisung bin Hunderte von Kurden in der Türkei massakriert wurden.

Anfang Oktober 1992 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen kurdischen Regierungstruppen und Guerillas der PKK. Gleichzeitig bombardierte die türkische Luftwaffe PKK-Stellungen und gewöhnliche Dörfer im Nordirak und stieß mit Bodentruppen (ca. 20.000 Soldaten) und Panzern Weit auf irakisches Territorium vor.

Ende Oktober wurde ein Waffenstillstand zwischen der kurdischen Regierung und der PKK vereinbart, in dessen Folge sich die PKK-Kämpfer teils aus dem Nordirak zurückzogen oder in Dörfern  an der iranischen Grenze untergebracht wurden. Dort erhielten sie ihre Waffen zurück. Sie durften sich jedoch nur innerhalb der Dörfer frei bewegen. Damit war zwar der kurdische Bruderkrieg zunächst beendet; die türkischen Bodentruppen zogen sich aber erst auf Druck der US-Regierung Mitte November aus dem Nordirak zurück.

So sehr dieser Bruderkrieg,  in dessen Verlauf im freien Kurdistan Kurden auf Kurden schossen, auch zu verurteilen ist, so darf doch eines nicht vergessen werden: Es ist in erster Linie die Tatsache, daß Kurden im Irak und in der Türkei keinerlei internationale Unterstützung für ihre berechtigte Forderung nach Selbstbestimmung erhalten, die den jeweiligen Regierungen, das heißt heute der Türkei, die Möglichkeit gibt, einen solchen Bruderkrieg zu schüren.

Wäre der Türkei entschiedener, als das passiert ist, von den Staaten, die über den politischen und ökonomischen Einfluß verfügen, Einhalt bei ihren Massakern geboten worden oder hätte es tatsächlich nicht nur fadenscheinige humanitäre, sondern politische Unterstützung und Solidarität für die kurdische Regierung gegeben, dann wäre es wohl kaum zu den kurdisch/kurdischen Kämpfen gekommen. Damit sollen Fehler der kurdischen Organisationen nicht verniedlicht werden. Doch dies ist eine Auseinandersetzung, die in Kurdistan geführt werden muß. Die Frage, die uns m.E. zu interessieren hat, ist vielmehr, welche internationalen Interessen die heutige Situation mitbedingt haben. Dies gilt umso mehr, da die türkische Regierung nach wie vor entschlossen ist, einem selbstbestimmten kurdischen Gebilde, wie immer es auch aussehen mag, entschieden entgegenzutreten. Seit der Aufteilung Kurdistans 1924 sind die "Kurden des einen Staates" immer wieder von der Regierung des anderen für deren eigene Ziele ausgenutzt worden. Immer wurden die Zentralmächte von verschiedenen Großmächten unterstützt - die Türkei vom Westen, Irak und Syrien von der UdSSR. Aus diesem Grunde gab es nie eine internationale Unterstützung für alle Kurden. Kurdistan hat keine eigene Küste und kann deshalb nur über andere Länder erreicht werden. Alle Zentralmächte haben im Verlauf dieses Jahrhunderts Wert darauf gelegt, die kurdischen Regionen arm zu halten, sodass ein eigenständiges wirtschaftliches Überleben kaum möglich ist. Immer wieder haben die Kurden den Fehler gemacht, sich für die Interessen der Nachbarregierungen ausnutzen zu lassen. Auch wenn dies als letzter Ausweg in verzweifelten Situationen geschah, so ist solch ein Vorgehen nicht entschuldbar, da immer die kurdische Bevölkerung den Preis hierfür zahlen mußte und ihn auch heute noch zahlt.

Auch nach Auflösung des Blocksystems sind die Kurden im Irak in ihren selbstverwalteten Gebieten politisch allein gelassen worden ebenso wie die PKK in ihrem politischen Kampf gegen die türkischen Militärs. Beide - Saddam Hussein und Ankara - erhielten einen großen Teil der Waffen, mit denen sie ihre Vernichtungspolitik vorantreiben, von den Staaten des Westens.

Lissy Schmidt ist freie Journalistin und aktive bei der Kampagne "Produzieren für das Leben -Rüstungsexporte stoppen".

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Lissy Schmidt ist Journalistin.