Politische Perspektive der Friedensbewegung 1988 und 1990 - ein Versuch zur Standortbestimmung und Formulierung einer Perspektive

von Ulrich Frey

1. Wo steht die Friedensbewegung heute?
"Die Friedensbewegung" ist in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit ein fester Begriff geworden. Ich verstehe die Friedensbewegung als eine von mehreren sozialen Bewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik, die sich um Veränderung und Erneuerung kümmert. Wie andere Bewegungen wendet sie sich gegen Verkrustung und Inkompetenz politischer Strukturen:  Die Defizite, gegen die sich soziale Bewegungen bei uns wenden, lassen sich in ganzen Katalogen zusammenfassen. Die Friedensbewegung im weiteren Sinne, die sich nicht nur gegen Waffen und Rüstung richtet, behandelt die Probleme der Schöpfung, der Gerechtigkeit und der Überwindung des Krieges.

Die Friedensbewegung hat dazu beigetragen, daß heute 68% der Bevölkerung gegen die Modernisierung der Kurzstreckenraketen ist und 79% für den Abzug aller Atomwaffen aus Europa. 51% der Bevölkerung widersprechen der Ansicht, Europa verdanke die letzten 40 kriegsfreien Jahre der Abschreckung durch Atomwaffen (Zahlenangaben nach Noelle-Neumann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 7. 1988). In der "Verteidigungspolitik'' arbeitet die gegenwärtige Bundesre-gierung gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Was die Friedensbewegung in puncto Bewußtseinsbildung erreichen konnte, hat sie erreicht: Die "Verteidigungspolitik" der gegenwärtigen Bundesregierung wird nicht mehr akzeptiert. Dies ist nicht nur dem Umschwung in der Meinung der Bevölkerung zu verdanken, sondern auch der Tatsache, daß die Ideen aus der Friedensbewegung in den gesellschaftlichen "Überbau" der Bundesrepublik eingedrungen sind. In Wissenschaft und Technik, in den Kirchen, in den politischen Parteien (selbst in der konservativen CDU), in der Bundeswehr und in den Medien und der Presse halten sich Initiativen und Menschen, die dem breitgefächerten Gedankengut der Friedensbewegung Ausdruck, gesellschaftliches und politisches Gewicht geben. In einigen der gesellschaftlichen Großgruppen, z. b. in den Gewerkschaften, in der SPD und in den Kirchen hat die Friedensbewegung ZU einem breiten und umfassenden Meinungswandel beigetragen. Weil die Friedensbewegung nach ihrem Selbst-verständnis und ihrer sehr komplexen Struktur nicht auf den Erwerb von Macht aus sein kann, kann sie ihre Mehrheiten auch nicht unmittelbar und selbständig in politisches Handeln umsetzen. Dazu bedarf es der anderen Transmissionsriemen unserer demokratischen Gesellschaft.

Der Erfolg der Friedensbewegung erklärt sich im wesentlichen aus zwei Gründen:
a) Die Friedensbewegung ist nicht einfach eine "politische" Bewegung, sondern sie wird motiviert und getragen von moralischen und ethnischen Traditionen und Impulsen, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Diese progressiven  Strömlingen haben bewirkt, daß die Friedensbewegung nicht nur Politikberatung macht, sondern daß Nachdenken einsetzt und die Gewissen sich rühren. Solche Strömungen nenne ich hier beispielhaft und ohne Wertung und Gewichtung: Libertäre und anarchistische Strömungen, humanistische Traditionen bei Kommunisten, sozialistische Traditionen, Arbeiterbewegung in Gewerkschaften und Sozialdemo-kratie, die liberal-demokratische Bewegungen, wertkonservative Strömungen; friedenskirchliche und pazifistische Traditionen, katholische Spiritualität und ein Protestantismus, der nicht nur fundamental biblisch orientiert ist, sondern auch politisch sensibel ist.

b) All diese Strömungen sind in der Friedensbewegung zusammengekommen. Sie haben sich formiert aus Anlaß einer Entscheidung, die alle gleichermaßen auf das politische Forum gerufen hat: Der Nachrüstungsbeschluß der NATO aus dem Jahre 1979 hat sie alle provoziert. Der Konflikt wurde dramatisiert. Die Positionen aus den eigenen Traditionen lind Strömungen wurden in die Öffentlichkeit hineingespiegelt mit dem Erfolg, daß alle zusammen Erfolg hatten, weil jede Tradition und Strömung für ihren Bereich zum öffentlichen. Nachdenken beigetragen hat und viele von ihnen miteinander einen Konsens entwickelt haben, der spätestens 1981 mit den ersten großen Demonstrationen in Hamburg und Bonn zum - übergreifenden und richtungweisenden Konsens wurde.
Dieser Konsens zeichnet sich durch drei Merkmale aus, die letztlich den Erfolg ausmachen: Er formuliert eine politische und damit praktische Grundentscheidung - unbeschadet der möglichen unterschiedlichen Begründungen. Dieser Konsens wird zu rechten Zeit, nämlich zur Zeit der Entscheidung formuliert. Dieser Konsens ist moralisch und ethisch fundiert und offenbart das grundsätzliche Denken der Mehrheit der Bevölkerung, mit dessen Hilfe überholte politische praktische Positionen überwunden werden können

2. Versuch, eine Perspektive für die Zeit bis 1990 zu formulieren
Die Friedensbewegung als eine soziale Bewegung ist nach wie vor nötig, weil die verfaßte Politik die Probleme nicht in den Griff bekommt. Die Defizitkataloge werden  immer länger. Ganze Bevölkerungsteile, z. B. die Arbeitslosen und alle diejenigen, die das Tempo nicht mehr mithalten können, werden deklassiert. Wir entwickeln uns auf eine Gesellschaft hin, in der nur 2/3 der Bevölkerung eine sichere Existenz haben. Wir folgen blind angeblichen Sachzwängen, Konsumleitbildern, einer Vorstellung von "Leistung", die sich nur in Geld artikuliert. Wir lassen uns auf technische und naturwissenschaftliche Experimente in Biologie, in der Energiefrage usw. ein, die in ihrer Wirkung nicht zu übersehen und deren heute schon bekannte schädigende Wirkungen wir mit dem heutigen Wissen und Können nicht .in den Griff bekommen. Gegen den Geist der Abrüstungsverträge zu den Mittelstreckenraketen werden von der NATO Entscheidungen für neue qualitative Rüstungsschübe unter den verschleiernden Bezeichungen "Modernisierung" und "Gesamtplan" vorbereitet.

1979 und in den Folgejahren reagierte die Friedensbewegung auf eine Provokation. Wenn die Bundesregierung heute z. B. in  der "Verteidigungspolitik'' etwas Provozierendes durchsetzen will, muß sie das wegen der entgegenstehenden Meinung der Mehrheit der Bevölkerung ohne öffentliche Kontrolle oder mit verharmlosenden Begriffen zu tun versuchen. Wir müssen also einer ganz anderen Strategie der öffentlichen Auseinandersetzung zu überlebensfragen begegnen als im Jahre 1979 ff. Wie die Alterativ- und Lebensstilbewegung anzeigt, ist ein umfassender Wertewandel im Gange, der von den eingangs genannten Traditionen und Strömungen mitgetragen wird. Menschen und Gruppen, die suchen, sind überall zu treffen Suchbewegungen entdecke ich in der Kirchen, bei den Sozialisten, bei den Konservativen und bei den Kommunisten. Welche Kirche kann glaubwürdig sein? Wie ist Sozialismus heute politisch umzusetzen? Was kann Konservatismus heute noch leisten? Wie können Sozialismus und Kommunismus in den osteuropäischen Ländern vor sich selbst bestehen? Wie können wir als Einzelne, Familien und Gruppen ein glaubwürdiges Leben führen? Auch die Gruppen der Friedensbewegung suchen. Wir sollten diesen unfertigen Zustand akzeptieren und uns nicht auf kurzatmige Lösungsansätze einlassen. Das ist erforderlich, um die moralische und ethische Kompetenz der Friedensbewegung im weiteren Sinne für politische Alternativen fruchtbar werden zu lassen. Ohne dieses Suchen und ohne diese Kompetenz wird es nicht gelingen, der politischen Fragen Herr zu werden. Das hat die bisherige Geschichte der Friedensbewegung wie oben dargelegt gezeigt.

Die Friedensbewegung sollte im wesentlichen auf drei Ebenen arbeiten:
a) Sie sollte dazu beitragen, demokratische Auseinandersetzung glaubwürdig zu erhalten. Es gibt Anzeichen dafür, daß das Barschel-Syndrom, die Macht um der Macht willen mit allen Mitteln für sich behalten zu wollen, in der Bundesrepublik nicht überwunden ist.

b) Es gilt, über die Beteiligung an den Wahlen hinaus die Partizipation der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen gegen Vermachtung und Verkrustung zu erhalten. Absehbar ist, daß infolge immer stärkerer Entscheidungszwänge und stärkerer Drücke Entscheidungen von den jeweiligen Mehrheiten ohne Diskussion offen oder versteckt durchgesetzt werden. Damit verlie-ren Politik und Demokratie an Glaubwürdigkeit. Die Folge ist, daß abweichende Meinungen diskriminiert und kriminalisiert werden. Das ist heute schon zu beobachten. Gewaltfreie Sitzblockaden, deren Fernziele politisch und verbal akzeptiert werden, sind nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes grundsätzlich rechtswidrig.

c) In leitenden politischen und gesellschaftlichen Bereichen ist nach wie vor die kritische und konstruktive, Arbeit der Friedensbewegung erforderlich.
- Nachdem zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ost-West-Konflikt gegenüber dem Nord-Süd-Konflikt deutlich an Virulenz nachgelassen hat, müssen jetzt Konsequenzen für ein besseres ökonomisches, politisches und kulturelles Verhältnis zu den Ländern in Asien, Lateinamerika und. Afrika gezogen werden. Die Diskussion um den internationalen Währungsfonds und die Weltbank hat dazu Anstöße gegeben.
- In der Ost-West-Diskussion muß akzeptiert werden, daß der Versuch, eine Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion zu erreichen, auch politische Konsequenzen hat: Die Teilung Deutschlands muß akzeptiert werden. Es ist kontraproduktiv, die deutsche Frage "offen'<halten zu wollen. In Sachen Rüstung kommt auf die Bundesrepublik die Frage zu, ob sie neue Waffensysteme in Europa ( doppelt verwendbare Langstrecken-Flugzeuge, taktische  Bodenraketen, seegestützte Marschflugkörper und seegestützte ballistische Raketen usw.) haben will, was den lNF-Verträgen widersprechen würde. Hier muß die Friedensbewegung ihr "Nein" laut und öffentlich sagen.

In der Ökologie-Diskussion stehen nicht nur Sachfragen nach Artenschutz, Genmanipulation, Energie usw. zur Diskussion, sondern auch die Frage nach der Rolle und den Grenzen des Menschen, der sich vor den Trümmern seiner Herrschaft über die Natur sieht:

Wie ist das alles zu einem Konsens zu bündeln?
Weil es kein Zentralkomitee der Friedensbewegung gibt und geben kann, wird niemand die zentrale Losung ausgeben können. Die Gruppen und Initiativen sind darauf angewiesen, in eigener Verantwortung mit eigener Kraft und mit Hilfe anderer Gruppen und von Einrichtungen und Institutionen, die Serviceleistungen erbringen können, einen Konsens zu entwickeln. Dieser Konsens sollte so etwas wie ein roter Faden sein, der die Themen miteinander verknüpft. Eine solche gemeinsame Perspektive sollte den drei Kriterien gerecht werden, die auch für den Erfolg der bisherigen Arbeit der Friedensbewegung grundlegend gewesen sind:

a) Formulierung einer politischen und praktischen Richtungsanzeige, unter der sich möglichst viele auf ihrem jeweiligen Hintergrund wiederfinden können. Hierzu ist es nützlich, die verschiedenen thematischen Ansätze und Zielstellungen nach Konsens und Dissens zu sortieren und die wichtigen und gemeinsamen weiterführenden Fragen zu stellen.

b) Daraus müßten zur rechten Zeit Handlungen entwickelt werden, die lokal, regional oder bundesweit von Basisgruppen und den Gruppen des gesellschaftlichen "Oberbaus" verantwortet werden.
c) Diese Aktionen mußten die moralhch-ethischen Mehrheitspositionen markieren, die öffentlich zu machen sind, um eine Umkehr der verfaßten Politik zu ermöglichen und zu provozieren. Diese. Arbeit sollte so angelegt sein, daß die Friedensbewegung bei der Bundestagswahl 1990 Positionen beziehen kann.

In der Diskussionen der letzten Monate wird immer deutlicher, daß alle Konflikte, mit denen sich die Friedensbewegung beschäftigt, politisch auf Finanzentscheidungen hinauslaufen. Es ist über Prioritäten zu entscheiden, nach denen Gelder vergeben werden. Damit wird über Macht ent-schieden. Weil die Zerreißproben und Engpässe zunehmen, sollte die Friedensbewegung .dazu helfen, die. langfristig besseren Prioritäten zu setzen .. Ein. möglicher . Konsens in . dieser Richtung, der die moralisch-ethischen und die politischen Aspekte einbezieht, könnte sein:     
"Unser Geld nur für Gerechtigkeit und Frieden".

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Initiativen
Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.