Polizeigewalt, Rassismus und die gesellschaftliche Herstellung von Ungleichheit

von Dirk Vogelskamp

Warum kommt es immer wieder zu sogenannten „rechtswidrigen polizeilichen Übergriffen“ auf Flüchtlinge und ImmigrantInnen? Mit dieser Frage beschäftigt sich u.a. die Ausstellung „Vom Polizeigriff zum Übergriff“, die demnächst in Bonn zu besichtigen sein wird.

Wenn von polizeilichen „Übergriffen“ gegen ImmigrantInnen gesprochen wird, sind zumeist jene von Menschenrechtsorganisationen aufgegriffenen und publik gemachten Vorfälle gemeint, bei denen diese polizeilich „misshandelt“ wurden oder „unverhältnismäßiger“ oder „exzessiver“ Gewaltanwendung durch die Polizei ausgesetzt waren. Kommt es dabei zu Todesfällen, wie in letzter Zeit, dann nimmt auch eine breitere Öffentlichkeit diese „Vorfälle“ war. „Übergriff“ schließt auch verbale rassistische Diskriminierungen im Verlauf legaler Amtshandlungen ein. Im Jahr 2004 wurden zu dieser Problematik zwei Untersuchungen vorgestellt. Die eine stammt von „Aktion Courage“, einer antirassistischen Menschenrechtsorganisation. Für den Zeitraum von 2000 bis 2003 registrierte sie mindestens 70 gewaltsame Polizeiübergriffe, bei denen Flüchtlinge und ImmigrantInnen teilweise schwere Verletzungen davontrugen. Drei von ihnen kamen infolge der Polizeigewalt zu Tode. „Aktion Courage“ spricht in diesem Kontext von schweren Menschenrechtsverletzungen. Der Polizeiforscher Otto Diederichs (CILIP), der die Fälle recherchiert hatte, hält diese nur für „die Spitze eines Eisbergs“, da viele polizeiliche „Übergriffe“ im Polizeigewahrsam stattfänden. Besonders in Gewahrsamsituationen, in denen die Polizei personell überlegen, das Opfer wehrlos/passiv und die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, werde Gewaltanwendung wahrscheinlicher. Viele Opfer von Polizeigewalt trauten sich zudem nicht, die Täter in Uniform anzuzeigen. Zumeist müssten sie mit einer Gegenanzeige wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ rechnen. Mit der Unterstellung, „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ geleistet zu haben, werde dann die entgrenzte polizeiliche Gewaltanwendung legitimiert.

Der Bericht von „amnesty international“ aus dem Jahr 2004 dokumentiert exemplarisch „Vorwürfe“ von „ungerechtfertigter Gewaltanwendung“ seitens der Polizei und Fälle des polizeilichen Schusswaffengebrauchs gegen unbewaffneten Personen. Sechzehn der zwanzig von „amnesty international“ exemplarisch aufbereiteten Vorfälle betreffen Menschen nichtdeutscher Herkunft.

Der UN-Fachausschusses gegen rassistische Diskriminierungen, der die Einhaltung des Internationalen Abkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung („Antirassismuskonvention“ aus dem Jahre 1965) überwacht und der periodisch Staatenberichte einholt, in denen die Umsetzung der Konvention seitens der Unterzeichnerstaaten dargelegt werden muss, zeigte sich im Jahr 2001 besorgt angesichts wiederholter Berichte über rassistische Vorkommnisse in Polizeiwachen und über die Misshandlung von „Ausländern“ und Asylsuchenden in Deutschland.

Zum Umgang mit den Übergriffen
Gewöhnlich wird bei „polizeilichen Übergriffen“ von „individuellem Fehlverhalten“ gesprochen, die politisch und öffentlich zu Einzelfallvorkommnissen heruntergespielt werden. In der wissenschaftlichen Diskussion dagegen werden vor allem organisatorische und berufssoziologische Aspekte in den Vordergrund gestellt (Stichworte: cop culture; vermeintliche Aufrechterhaltung von polizeilich-staatlicher Autorität, Übernahme politisch hergestellter Feinbilder ...). Die Vorschläge, wie diese „Übergriffe“ vermieden werden könnten, fallen unterschiedlich aus. Sie setzen überwiegend bei der internen Polizeiausbildung an. Die gutgemeinten Stichworte lauten: Menschenrechtsbildung, Sensibilisieren für eine multikulturelle Gesellschaft, Stressbewältigung etc. Um polizeiliches Verhalten langfristig verändern zu können, müsste auf allen Ebenen der Strafverfolgung polizeiliches „Fehlverhalten“ konsequent verfolgt und geahndet werden.

Menschenrechtsorganisationen fordern darüber hinaus im Einklang mit internationalen Gremien der Rassismusprävention, eine unabhängige Beschwerde- und Vermittlungsstelle einzurichten, die Vorwürfe von polizeilichen „Übergriffen“ prüft, erfasst, und diesen nachgeht.

Es ist allerdings wenig erkenntnisgewinnend, wenn die Polizeiarbeit verallgemeinernd als rassistisch etikettiert oder ebenso lediglich von „individuellem Fehlverhalten“ gesprochen wird. Das gewalttätige polizeiliche Verhalten gegenüber MigrantInnen und Flüchtlingen wird nicht auf eine „einzige Ursache“ oder lediglich auf organisationsinterne Bedingungen zurückgeführt werden können. Viele gesellschaftliche Faktoren beeinflussen Handeln und Selbstverständnis der Polizei und die individuelle Einstellung der PolizeibeamtInnen.

Die hinter der Ausnahmegewalt nistende Regelgewalt gegen Immigrantinnen
Ich bin überzeugt, „polizeiliche Übergriffe“ werden erst vor dem Hintergrund des alltäglichen gesellschaftlichen Umgangs mit Flüchtlingen und MigrantInnen verständlich. Der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem Polizeiarbeit alltäglich stattfindet, wird in den Erörterungen über Polizeigewalt weitgehend ausgeblendet. Meine These lautet deshalb: Die legale, alltägliche Gewalt gegen Flüchtlinge und ImmigrantInnen wird immer wieder so genannte „Übergriffe“ produzieren. Die Alltagsgewalt, der sie unterworfen sind, besteht in den systematisch diskriminierenden Gesetzen, im aussondernden Verwaltungshandeln und in der polizeilichen Praxis. Polizeiliches Regel- und Ausnahmeverhalten gehen ineinander über. Die scharfe Trennung zwischen beiden polizeilichen Handlungsweisen (legale Gewalt und Übergriff) trifft nicht die Realität. Denn eine Gesellschaft, in der ImmigrantInnen, zumal wenn sie unerlaubt eingereist sind und sich unerlaubt niedergelassen haben, als bedrohliche und feindliche Fremde wahrgenommen und entsprechend kriminalisiert werden, eine Gesellschaft, in der legal lebende ImmigrantInnen zu politisch und kulturell defizitären Menschen zuerst entwürdigt, schließlich repressiv integriert und darüber hinaus öffentlich zu sozialen Belastungen erklärt werden, eine solche Gesellschaft wandelt immer am Abgrund „des Übergriffs“. Die Gewalt des „Übergriffs“ wurzelt m. E. in diesen institutionellen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen, denen ImmigrantInnen alltäglich unterworfen sind.

Die sich ständig wiederholende, harmlos klingende und Menschenleben verobjektivierende politische Rede von der „Migrationssteuerung“ und „Migrationskontrolle“ geht in der Realität mit einem hohen Maß an legalem Zwang, legalen Eingriffen in die persönliche Freiheit der MigrantInnen und legaler Gewalt einher: bei den Deportationen, Überstellungen und polizeilich informationstechnologischen Erfassungen und Kontrollen, in den Lagern und Abschiebegefängnissen. Die mit der Verwaltung der ImmigrantInnen beschäftigten Behörden setzen jeden Tag diskriminierende, ausschließende Sondergesetze um. In diesen Behörden, darunter die Polizei, werden alltäglich Erniedrigung, Zwang, Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte und Gewalt praktiziert und institutionell eingeübt. Schon diese legalen institutionellen Praktiken der Migrationssteuerung sind menschenrechtlich inakzeptabel, sie schaffen ein Klima der Gewalt gegen Einwanderer. Sie produzieren Unterscheidbarkeit und Ungleichheit. Sie bewegen sich immer schon auf dem schmalen Grat zwischen legaler Polizeiarbeit und dem „skandalisierten“ polizeilichen Übergriff. Die Polizei ist in diesem strukturell gewaltförmigen Prozess der Immigrationssteuerung auf verschiedenen Ebenen eingebunden. Dies wird sich auf die polizeiliche Alltagsarbeit auswirken.

Ein entgrenzter Sicherheitsbegriff
Seit den Attentaten vom 11. September 2001 beruht staatliche Politik im Kampf gegen „Terrorismus“ und „illegaler Migration“ auf einem entgrenzten Sicherheitsbegriff. Demgemäß müsse sie präventiv alle vermeintlichen Risiken kontrollieren und zugleich repressiv die Risikogruppen ausschließen. Sie produziert öffentlich das Bild, dass „illegale“ Migration die Sicherheit der europäischen Gesellschaften extrem gefährde. Dieses feindstaatliche Gefährdungsgemälde der „illegalen Migration“ wirkt und überträgt sich auf die Polizeiarbeit im Kontext staatlicher Ausländerverwaltung. Es verstärkt die diskriminierenden und gewaltfördernden Tendenzen der Ausländerpolitik. Diese Politik trägt wesentlich dazu bei, dass das Verhältnis von Zuwanderern und Polizei in permanenter Spannung gehalten wird, die sich leicht in „exzessiver“ Gewalt gegen Einwanderer entladen kann. Die so genannten „polizeilichen Übergriffe“ erscheinen mir deshalb vor allem Ausfluss eines gesellschaftlichen Klimas zu sein, in dem die administrative und polizeiliche Abwehr von ImmigrantInnen und deren politisch hergestellte Ungleichheit zur gesellschaftlichen Normalität geronnen sind. Wer von „polizeilichen Übergriffen“ redet, darf diese „Normalität gewaltfördernder Ungleichheit“ nicht ausblenden. Und nur insofern ließe sich von Rassismus sprechen.

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Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.