6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Entwicklungspolitik
Postkolonialismus und Post-Development-Ansätze
von
Postkoloniale und dekoloniale Ansätze untersuchen die Nachwirkungen des Kolonialismus auch nach der formalen Unabhängigkeit fast aller Kolonien. Sie argumentieren, dass koloniale Stereotype und Argumentationsmuster auch heute noch vorhanden sind und oft der Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen und der Verweigerung gleicher Rechte dienen. Stuart Hall (1994) hat darauf hingewiesen, dass die Herausbildung der Identität des Westens als fortschrittlich, zivilisiert und demokratisch begleitet war von der Konstruktion eines nichtwestlichen Anderen, das rückständig, barbarisch und undemokratisch ist.
Ein Beispiel aus dem Bereich der Friedens- und Konfliktforschung ist die Ungleichbehandlung hinsichtlich der Frage, welche Staaten legitimerweise über Atomwaffen verfügen dürfen und welche nicht – dem Iran wird das offensichtlich nicht zugetraut, während US-amerikanische und israelische Atomraketen nicht als vergleichbare Gefahr für den Frieden in der Region wahrgenommen werden. Ein anderes ist Herfried Münklers (2001) Unterteilung zwischen europäischen Staatenkriegen, in denen Gewalt primär gegenüber Soldaten ausgeübt worden sei, und den sogenannten Neuen Kriegen außerhalb Europas, denen in erster Linie die Zivilbevölkerung zum Opfer fiele. „Vergessen“ hat er dabei nicht nur z.B. den Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Osteuropa, sondern auch die ganzen Kolonialkriege, Massaker und Völkermorde der europäischen Kolonisatoren.
Im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit wurde die postkoloniale Kritik v.a. von der sogenannten Post-Development Schule artikuliert. AutorInnen wie Gustavo Esteva (1995), Arturo Escobar (1995) oder Wolfgang Sachs (1993) wollten die Idee der „Entwicklung“ nicht verbessern, indem sie ihre mangelhafte Umsetzung kritisierten, sondern das ganze Paradigma in Frage zu stellen. Sie riefen sogar das Ende der „Entwicklungsära“ aus und etablierten die sogenannte Post-Development (PD) Schule in der Entwicklungstheorie. Aus welchen Gründen?
„Entwicklung“ als eurozentrische Idee
Weil, so argumentieren sie, das Konzept der „Entwicklung“ auf der eurozentrischen Idee basiert, dass „unsere“ Gesellschaft bereits entwickelt ist, und ihre noch nicht. Aus diesem Grund schicken „wir“ Hilfe und ExpertInnen, um „ihnen“ zu zeigen, wie es gemacht wird. Differenz wird so ausschließlich als rückständige Vorstufe des Eigenen gedacht. Henning Melber (1992) nennt dies die „Verzeitlichung des räumlichen Nebeneinander“.
Das Projekt der „Entwicklung der Unterentwickelten“ seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird kritisiert als eine Fortsetzung des kolonialen Überlegenheitsdenkens, das „die Unzivilisierten zivilisieren“ wollte. Mit dem Versprechen auf Wohlstand sollten die bereits unabhängigen oder kurz vor der Dekolonisierung stehenden Staaten vom Überlaufen ins kommunistische Lager abgehalten werden, um weiter Zugang zu ihren Rohstoffen zu erhalten – auch nach der Ära des Kolonialismus. Politische Faktoren spielten somit eine große Rolle in der von den Post-Development AutorInnen so bezeichneten „Erfindung der Unterentwicklung“. Diese geht erstens von der Rückständigkeit nichtwestlicher Gesellschaften aus und stützt sich dabei auf Indikatoren wie Bruttoinlandsprodukt oder Lebenserwartung – unter Ausblendung der Fragen, ob die gewaltsame Aneignung von Rohstoffen und Arbeitskraft im Kolonialismus nicht Voraussetzung für den Aufstieg des Industriekapitalismus in einigen und die Verelendung in anderen Regionen war, ob das Modell der „entwickelten“ Gesellschaften unter ökologischen Gesichtspunkten nicht eher ein Katastrophenmodell ist, und ob sich eine gute Gesellschaft sich durch solche Indikatoren identifizieren lässt.
An diese Diagnose anknüpfend wurde in der Entwicklungspolitik der nächsten Jahrzehnte ein Mangel an Kapital, Infrastruktur und Wissen im Süden als Ursache von sozialer Ungleichheit, Armut und Hunger gesehen – und nicht die Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen auf globaler, nationaler und lokaler Ebene. Daher wurde im Entwicklungsdiskurs des Westens soziale Ungleichheit auf diesen verschiedenen Ebenen nicht als Machtfrage, sondern als technisches Problem dargestellt und so entpolitisiert. Man wollte den Armen helfen, ohne den Reichen auf die Füße zu treten. Im Hinblick auf die Armen ging die Entwicklungspolitik dabei jedoch oftmals alles andere als zimperlich vor: Für Staudammprojekte im Namen der „Entwicklung“ wurden zig Millionen Menschen vertrieben oder umgesiedelt und verloren ihre Existenzgrundlage. Das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich der Sardar-Sarovar-Staudamm an der Narmada im indischen Bundesstaat Gujarat, für den mehrere hunderttausend Menschen ihre Existenzgrundlage verloren. Oft betraf dies indigene Gemeinschaften und funktionierende Subsistenzwirtschaften. Nachdem mit der Dekolonisierung die Treuhandschaft (die Fähigkeit, „Entwicklungsziele“ und den Weg der Zielerreichung festzulegen) an einheimische Eliten überging, blieb die autoritäre Annahme, besser über die Interessen der als weniger entwickelt definierten Menschen Bescheid zu wissen als sie selbst, bestehen.
Weg vom eurozentrischen, entpolitisierenden und autoritären Denken
Wie kann eine an globaler sozialer Gleichheit orientierte Politik diese eurozentrischen und kolonialen, autoritären und entpolitisierenden Elemente vermeiden? Der Eurozentrismus der Entwicklungspolitik könnte vermieden werden, indem von der Identifikation einer guten Gesellschaft mit dem in Europa und Nordamerika vorherrschenden Modell abgerückt würde und andere Modelle einer guten Gesellschaft, auch jenseits der gängigen westlichen bzw. genauer: hegemonialen Modelle der Organisierung von Wirtschaft, Politik und Wissen, in Betracht gezogen würden. Beispiele wären kollektiver Landbesitz oder basisdemokratische Praktiken in den zapatistischen Gemeinden in Mexiko. In diesem Kontext könnten Rassismus, häusliche Gewalt, Kriminalität, Selbstmordraten, psychische Krankheiten ebenfalls als Indikatoren guter bzw. schlechter Gesellschaften gesehen werden, ebenso wie das subjektive Wohlbefinden der Menschen oder ihr Verhältnis zur Umwelt. Der Happy-Planet-Index (http://happyplanetindex.org) oder der Gross-National-Happiness-Index (http://www.grossnationalhappiness.com/) sind erste Vorschläge. Kolonial ist weiterhin die implizite Annahme der geographischen Verteilung von Problemlösungswissen (Probleme im Süden, Wissen im Norden). Diese kann einerseits durch die Abschaffung der Entwicklungszusammenarbeit oder zumindest durch den Verzicht auf die Verschickung weißer EntwicklungsexpertInnen in den Süden angegangen werden oder andererseits durch die Einladung von ExpertInnen aus dem Süden, die hierzulande durch die Verbreitung von Wissen über Ubuntu, Gacaca-Gerichte, Akupunktur, Buddhismus oder Pachamama zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. Vielleicht kann interkultureller Austausch ja auch ohne Paternalismus stattfinden und in beide Richtungen Lerneffekte nach sich ziehen.
Wenn das Problem jedoch nicht nur im Eurozentrismus, sondern im autoritären Prinzip der Treuhandschaft verortet werden kann, wie die problemlose Übernahme der Konstruktion der Anderen als „weniger entwickelt“ durch nationale Eliten im Süden nahelegt, dann muss es genereller um den Abbau der Hierarchien zwischen EntwicklungsexpertInnen und Betroffenen gehen. Diesen Pfad hat die EZ eigentlich schon seit den 1980er Jahren mit dem Grundsatz der Partizipation eingeschlagen. Solange Partizipation jedoch auf die Ebene der Projektimplementierung beschränkt bleibt und nicht schon auf der Ebene der Problemdefinition ansetzt, und solange die Finanztransfers von der Geber-/Nehmer-Hierarchie geprägt sind, werden hehre Konzepte wie Partizipation, Ownership und Empowerment an den bestehenden Machtverhältnissen nichts Grundlegendes ändern. Ansatzpunkte für Reformen innerhalb der EZ sind daher die Einführung von Gutscheinen, die bei entsprechenden Organisationen einzulösen sind und mehr Selbstbestimmung ermöglichen, welche Projekte und Programme von welcher Organisation die Betroffenen haben wollen, oder die Einführung von Rechenschaftsmechanismen nach dem Vorbild des Inspection Panels (www.inspectionpanel.org), das den Betroffenen eine Kontrolle der EntwicklungsexpertInnen oder zumindest eine Beschwerdemöglichkeit eröffnet. Letztlich geht es aus Sicht des Post-Development jedoch um lokale Selbstbestimmung und eine eigenständige Definition des guten Lebens.
Die Entpolitisierung sozialer Ungleichheit schließlich lässt sich vermeiden durch klares Benennen von Machtverhältnissen und politisch-ökonomischen Konflikten – und durch eine Parteinahme für die Marginalisierten, anstelle der Beschwörung einer irgendwie Allen zu Gute kommenden „Entwicklung“.
Globale Strukturpolitik
Wenn man nicht – wie ein Teil der Post-Development Schule – die einzige Perspektive in einer konvivialen Subsistenzwirtschaft sieht, muss es auch um die Veränderung weltwirtschaftlicher Strukturen, um globale Strukturpolitik (Ziai 2007) gehen: um den Schuldendienst und die damit verknüpften Finanztransfers vom Süden in den Norden, der die EZ um ein Vielfaches übersteigt, um die Repatriierung von Profiten durch transnationale Konzerne, um die Steuervermeidung und den illicit financial flows, durch die Eliten Gelder auf Schweizer Konten schaffen, aber auch um die Rücküberweisungen der MigrantInnen, die sich mittlerweile ebenfalls auf die dreifache EZ-Summe belaufen. Um die aggressive Marktöffnungspolitik der OECD-Staaten (unterstützt von IWF, Weltbank und WTO) bei gleichzeitiger Subventionierung und Abschirmung der eigenen Landwirtschaft (gedeckt durch WTO-Regeln). Um Reparationen für koloniale Ausplünderung, Kriege und Völkermorde. Und ohnehin um die Beendigung der imperialen Lebensweise, die auf dem Import von billigen Rohstoffen und billiger Arbeitskraft beruht und deren Konsequenzen ausgerechnet wieder Menschen in der Peripherie am schlimmsten zu spüren bekommen – sei es durch Dürre und Wirbelstürme oder Katastrophen wie den Einsturz von Rana Plaza.
Post-Development fordert nicht mehr „Entwicklungshilfe“, sondern ein Leben in Würde für alle Menschen – auf der Grundlage selbstbestimmter Vorstellungen, wie dieses genau auszusehen hat. Und unter Verzicht auf Patentrezepte der „EntwicklungsexpertInnen“.
Literatur
Esteva, Gustavo 1995: Fiesta – jenseits von Hilfe, Entwicklung und Politik. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.
Escobar, Arturo 1995: Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World. Princeton: Princeton University Press.
Hall, Stuart 1994: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in ders. Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument, 137-179.
Melber, Henning 1992: Der Weißheit letzter Schluss. Rassismus und kolonialer Blick. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.
Münkler, Herfried 2001: Die neuen Kriege. Bonn: BpB.
Sachs, Wolfgang 1993: Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik. Reinbek: Rowohlt.
Ziai, Aram 2007: Globale Strukturpolitik? Die Nord-Süd Politik der BRD und das Dispositiv der Entwicklung. Münster: Wesfälisches Dampfboot.