Das Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung

Praktiken und Orte kollaborativer Wissensproduktion

Was haben New York, Toronto, Palermo, Barcelona und Sheffield gemeinsam? Sie alle sind Städte der Zuflucht, die sich dem Schutz und der Integration von MigrantInnen verschrieben haben. Sie alle sind Städte, die der nationalen Einwanderungspolitik die Stirn bieten und eine praktische Alternative in Zeiten zunehmender Nationalisierung darstellen. Konkret handelt es sich um Städte, deren EinwohnerInnen und Verwaltungen beschlossen haben, dass der Aufenthaltsstatus von Personen, die in der Stadt leben, egal sein muss. So heißt es in der Charta von Palermo: „Kein Mensch hat den Ort, an dem er geboren wird, ausgesucht oder sucht diesen aus; jeder Mensch hat den Anspruch darauf, den Ort, an dem er leben, besser leben und nicht sterben möchte, frei zu wählen.“ (1)

Diese Idee ist schon sehr alt und auf verschiedene Arten umgesetzt und praktiziert worden. Schon in der Bibel war die Stadt als sozialer Schutzraum bekannt. So fordert Moses die Einrichtung von sechs Städten, in denen Menschen z.B. vor privater Blutrache Zuflucht erhalten. Im Mittelalter verhießen Städte Freiheit für alle ihre BewohnerInnen. Heute werden diese Traditionen im Zusammenhang mit Migration wiederbelebt. Unter den Namen „Sanctuary“ oder „Solidarity City“ hat sich seit den 1970er Jahren ein Netzwerk von Städten herausgebildet, die ihre EinwohnerInnen unabhängig von Aufenthaltstitel und Herkunft behandeln. Sie verweigern lokal die Zusammenarbeit mit nationaler Einwanderungspolizei und -behörden und verhindern damit Razzien, Abschiebungen und Repressionen gegen Zugewanderte. Über 300 Städte mit Schutzordnung finden sich in den USA. Ähnliche Bewegungen haben sich in Kanada, Großbritannien, Chile, Italien, Spanien und der Schweiz herausgebildet. Auch wenn sich die rechtlichen Kontexte der staatlichen Ordnungen, in denen sich die Städte jeweils organisieren, stark unterscheiden, haben sie eine gemeinsame Grundlage: Die Frage von Integration und gesellschaftlichem Zusammenhalt wird auf lokaler Ebene verhandelt. Dabei wird die nationale Ordnung ein Stück weit ignoriert oder umgangen. Diese rebellische Haltung kann de jure, also formal festgelegt sein, oder de facto einfach praktisch durchgeführt werden – das ist abhängig von den TrägerInnen der lokalen Bewegung einerseits und andererseits von den gesetzlichen Spielräumen, die das Land oder der Bund den Kommunen einräumt.

Woher kommt diese Rebellion?
Dass es Abweichungen zwischen Kommunen und Staaten gibt, ist nichts Neues und im föderalistischen Prinzip fest verankert. Stadt, Land und Bund stellen dabei VertreterInnen desselben Systems „Staat“ dar – allerdings unterschiedlicher Verwaltungs- und Organisationsebenen. Damit einhergehend kommen den unterschiedlichen Ebenen des Systems auch unterschiedliche Funktionen zu. Während die Ebene des Bundesstaates vor allem mit anderen Staaten in Kontakt tritt und Angelegenheiten dieser Maßstabsebene regelt, entfallen andere Aufgaben auf die Länder und Kommunen wie z.B. Bildung, Abfallentsorgung oder öffentlicher Verkehr. Städte sind vor allem mit der Regelung des Zusammenlebens und der Versorgung, quasi mit Dingen des Alltäglichen, betraut. So lautet es z.B. in der Gemeindeordnung Baden-Württembergs: „Die Gemeinde fördert in bürgerschaftlicher Selbstverwaltung das gemeinsame Wohl ihrer Einwohner und erfüllt die ihr von Land und Bund zugewiesenen Aufgaben“ (2). Zum jeweiligen rechtlichen Status der EinwohnerInnen, ihrer Herkunft und sozialen Stellung werden keine Aussagen gemacht, weil dieser für die Verwaltungsebene „Stadt“ bzw. „Kommune“ keine Relevanz hat -  Einwanderung und deren Organisation fällt in die Ebene des Bundes. Die kommunale Ebene hat schließlich für das „gemeinsame Wohl ihrer Einwohner“ zu sorgen. In der Praxis aber sind die Ebenen nur schwer voneinander zu trennen. Vor allem bei der Erteilung von städtischen Dienstleistungen spielt der Aufenthaltsstatus ständig eine Rolle, sei es auf dem Arbeitsmarkt, bei der Bildung oder der Wohnungssuche. Auch die Wahl kommunaler VertreterInnen darf ausschließlich von Menschen mit deutschem Pass - nicht von allen EinwohnerInnen – getätigt werden. Bei einer ständig steigenden Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund und vielen verschiedenen Aufenthaltstiteln verkompliziert das die kommunalen Aufgaben und die Durchführung und Organisation der Selbstverwaltung.

Genau diesen Aspekt greifen Solidarity und Sanctuary Cities auf und konstatieren, dass Illegalisierung und Ausschluss von Personen nicht die Lösung, sondern das Problem der Gesellschaft seien: „Alle Einwohner_innen einer Stadt profitieren davon, wenn sozialer Zusammenhang praktiziert wird – wenn auch Menschen mit prekärem Aufenthaltstitel aktiv in die Gemeinschaft integriert werden, arbeiten, wohnen, sich bilden und versorgen und damit ein normales Leben führen können.“ (3) In einer Art rebellischem Akt machen die Solidarity und Sanctuary Cities Migration und Integration zu ihrer Aufgabe, indem der rechtliche Status ihrer EinwohnerInnen aktiv ignoriert wird. Gerade weil Migration im Bereich des alltäglichen Zusammenlebens so eine wichtige Rolle spielt, nehmen Städte die Aufgabe der Integration mit der Etablierung von Sanctuary- bzw. Solidarity-Ordnungen selbst in die Hand. Dass das Konzept aufgeht, beweisen neuere Studien aus den USA, die belegen, dass das durchschnittliche Haushaltseinkommen steigt und die Kriminalität sinkt, wo Politiken dieser Art praktiziert werden. (4) Im Moment klagen zwei texanische Gemeinden und ein Landkreis sogar gegen den Staat und den Bund, der ihnen ihre Schutzpolitik verbieten will. Sie wollen zeigen, dass es im Zuge der Herstellung sozialen Friedens und städtischer Sicherheit sehr wichtig ist, alle EinwohnerInnen zu schützen und nicht soziale und ökonomische Schieflagen noch mit der Kriminalisierung von Zuwanderung zu verstärken.

Solidarity und Sanctuary Cities mischen sich also in die Aufgaben des Staates ein – mit dem Ziel, ihre eigenen Aufgaben besser erledigen zu können, die sich in Zeiten vermehrter Migration und deren sozialen und politischen Herausforderungen verändert haben. Anders als auf Bundesebene versuchen Städte mit Schutzpolitiken, Migration als Tatsache anzuerkennen. So werden MigrantInnen als Menschen behandelt, und nicht Menschen als MigrantInnen.

Zivilgesellschaft anstelle von Staat
Der Wandel findet nicht zufällig auf lokaler Ebene statt, sondern trägt den Umständen Rechnung, dass seit vielen Jahren oft zivilgesellschaftliches an die Stelle von behördlichem Engagement tritt. Wo die Institutionen oftmals keine Leistungen erteilen, springen ehrenamtliche Verbände und Privatpersonen ein, sei es bei der Erteilung von Sprachkursen, Kinderbetreuung oder der medizinischen Versorgung von MigrantInnen. In Deutschland waren im Sommer 2015 knapp 13% der Gesamtbevölkerung an der Versorgung der Neuankommenden beteiligt, und es haben sich zahlreiche neue Verbände gegründet, die für das Wohl der neuen MitbürgerInnen eintreten, wo es der Staat nicht oder nicht ausreichend tut. Das stärkt die Zivilgesellschaft und ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber MigrantInnen. In vielen Städten sind Plattformen und Netzwerke entstanden, die sich sehr effektiv in weitreichende Belange der Versorgung und Integration von MigrantInnen, aber auch gegen deren Abschiebungen einsetzen und so für einen würdigen und gerechten Umgang auf Basis von Menschenrechten einstehen.

Das stellt die Basis für das Entstehen von Bewegungen, die machtvoll genug sind, um einen Wandel anzustrengen, in dem schließlich lokale Verwaltungen genau dieses zivilgesellschaftliche Engagement anerkennen und selbst zu ihrem Anliegen macht. In Solidarity und Sanctuary Cities gehen zivilgesellschaftliches Engagement und die Arbeit städtischer Verwaltungen Hand in Hand. Offizielle Posten der Stadt bekennen sich zu dieser Arbeit, finanzieren, unterstützen und organisieren sie.

Genau wie in den USA, wo BürgerInnenrechtsverbände und kommunale ArbeiterInnenzentren neben KirchenvertreterInnen für den Wandel eingestanden sind, kommt auch in Europa und Deutschland die Veränderung „von unten“. In einigen Städten der USA, Kanadas und Großbritanniens, wie auch Spaniens und Italiens hat sich diese bereits in die kommunalen Verwaltungsebenen und deren Politik eingeschrieben. Einzelne Städte mit einer starken zivilgesellschaftlichen Bewegung haben es vorgemacht, andere haben die Konzepte adaptiert und ebenfalls eingeführt. Die Variationen des Konzepts sind sehr breit und umfassen auch sehr verschiedene Bereiche. Mal ist die Polizei Hauptträgerin des Konzepts, mal sind es ArbeitnehmerInnenverbände, Kulturvereine oder die Verwaltung der Stadt; stets kommt es darauf an, was die lokale Agenda erarbeiten und erkämpfen kann, aber auch, was der gesetzliche Rahmen an Spielräumen gewährt. Gemeinsam haben sie, dass ein Wandel der Gesellschaft angestrebt wird, der den Bedürfnissen und Anforderungen einer zunehmend mobilen und heterogenen Bevölkerung entspricht, aber auch das Schaffen einer Gegenöffentlichkeit, in der Migration nicht als Bedrohung, sondern als Tatsache wahrgenommen und produktiv umgesetzt wird. Anstatt sich der Abschottungspolitik der Nationalstaaten unterzuordnen, ergreifen Städte und Kommunen in ihrer Funktion als Sozialraum selbst das Kommando und gestalten aktiv „in bürgerschaftlicher Selbstverwaltung das gemeinsame Wohl ihrer Einwohner“ (s. FN 2).

Auch in Deutschland hat sich kürzlich ein solches Netzwerk solidarischer Städte gebildet. Immer mehr Städte stoßen hinzu, und Möglichkeiten der gemeinsamen Aktion und lokaler Arbeit werden ermittelt. Weitere Infos auf www.solidarity-city.eu

Anmerkungen

1 Vgl. http://www.linksfraktion-hamburg.de/wp-content/uploads/2015/12/PDF-CARTA-DI-PALERMO-GER.pdf

2 Gemeindeordnung Baden-Württemberg, § 1 Satz 2.

3 Vgl. Informationsblatt „Netzwerk Solidarity City“ des deutsch-schweizerischen Netzwerks.

4 Vgl. https://www.americanprogress.org/issues/immigration/reports/2017/01/26/297366/the-effects-of-sanctuary-policies-on-crime-and-the-economy/

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