Vom 2.-11 April hielt sich Gerd Greune von der DFG-VK in Alma Ata und Semipalatinsk auf. Er besuchte AtomtestgegnerInnen und verschiedene informelle und staatliche Stellen. Nachfolgend sein Bericht:

Proteste gegen Atomwaffenversuche  in Kasakhstan

von Gerd Greune

Vom 24. bis 27. Mai 1990 findet erstmals eine große öffentliche Informationsveranstaltung mit internationaler Beteiligung über Atomwaffenversuche in der Sowjetunion in der Hauptstadt der zentralasiatischen Sowjetrepublik Kasakhstan Alma Ata statt. Sie wird von den "Ärzten gegen den Atomkrieg" (IPPNW) und sowjetischen Atomtestgegnern ("Nevada-Semipalatinsk") organisiert. An dieser von staatlichen Stellen mitunterstützten Konferenz gibt es allerdings auch Streit mit einigen informellen Gruppen ("Next Stop"), die vor allem die Informationspolitik der Re¬gierenden kritisieren.

1. Das Problem der Atomwaffenversuche in Kasakhstan und die ökologische Dimension
Kasakhstan leidet unter gewaltigen ökologischen Problemen: Austrocknung des Aralsees, gewaltige Probleme mit der Luft- und Wasserverschmutzung u.a. 

Erst seit ca. einem Jahr gibt es eine öffentliche Diskussion über die Strahlenfolgen der Atomwaffenversuche, die seit 1951 regelmäßig in Semipalatinsk stattgefunden haben. Im Februar 1989 war anläßlich eines Tests eine größere Menge Radioaktivität freigesetzt worden, die in einem überwiegend von Militär bewohnten Dorf (Karlun) in der Nähe von Semipalatinsk panikartige Reaktionen hervorgerufen hat. Wenige Tage später fand eine erste Protestkundgebung gegen die Fortsetzung der Atomwaffenversuche in Kasakhstan statt. Am 27. November 1989 richtete das Parlament von Kasakhstan einen Appell an den Obersten Sowjet in Moskau, die Atomwaffenversuche unverzüglich einzustellen. Seitdem sind keine Tests mehr durchgeführt worden. Die sowjetische Regierung hat inzwischen angekündigt, daß sie darüber berät, das Testgelände von Kasakhstan zu schließen und stattdessen künftig Atomwaffenversu¬che auf der Insel Nowaja Semlja durchzuführen. 

Ebenfalls in Kasakhstan sind ein Großteil der Interkontinentalraketen der UdSSR stationiert. Dort befindet sich das Raketenzentrum Baikonur sowie mehrere Uran-Bergbaugebiete. In Kasakhstan sind nach Angaben der Testgegner die meisten sowjetischen Atomwaffen gelagert.

2. Die Atomtestanlage in Semipalatinsk
Semipalatinsk, eine 300.000 Einwohner zählende Industriestadt in deren unmittelbarer Nähe die Mehrzahl der sowjetischen Atomtests bisher statt¬fand, liegt ca. 800 km nordöstlich der Hauptstadt Alma Ata. Mitglieder der Teststopp-Gruppe führen ausländische Gäste zum 200 km entfernten Testgelände, auf dem mit Wasser gefüllte Krater zu sehen sind, die von überirdischen Atomtests herrühren, die hier bis 1963 stattfanden. Solche Besichtigungen sind heute möglich aber unter ständiger "Begleitung" auffälliger Begletifahrzeuge, wie die Gruppen berichten. Opfer der Atombombenversuche findet man vor allem in kleinen Dörfern rings um das Testgelände. Da in diesen Dörfern überwiegend Schafzucht und Landwirtschaft betrieben wird, sind dort die Strahlenfolgen besonders verheerend. So wurde auf dem Testgelände den Hirten zwar das Weiden der Schafe untersagt - ohne Begründung -, doch in den 60er Jahren wurde den Dörfern andererseits das abgemähte Heu zum Verfüttern zur Verfügung gestellt. In nahezu allen Familien seien Strahlenopfer zu beklagen. Das sowjetische Militär habe über die Gefährlichkeit der Verstrahlung zu keiner Zeit berichtet. Bis heute sei die Bevölkerung über besondere Vorsichtsmaßnahmen nicht aufgeklärt. Eine staatlichen Untersuchung der Nahrungsmittel findet nicht statt. In Semipalatinsk kann man an einer Apotheke im Schaufenster ein eher sinnlos anmutendes Gerät bewundern, das durch "Handauflegen" die persönliche Strahlendosis angibt. 

Die Regierung gibt heute zu, daß die Zahl der Fehlgeburten zugenommen hat, bei Mensch und Tier Mißbildungen zu verzeichnen sind und die Zahl der Krebstoten steigt. Genauere statistische Angaben werden nicht veröffentlicht. 

In Semipalatinsk sind von 1951-1963 über vierhundert überirdische Atomtests durchgeführt worden; 1954 explodierte rund 200 km von der 300.000 Einwohner zählenden Stadt Semipalatinsk entfernt die erste sowjetische Wasserstoff¬bombe. Das Verteidigungsministerium hat 2 Millionen Rubel bewilligt, um die Schäden der Atomtests beseitigen zu helfen. Dieser Betrag ist mit Sicherheit unzureichend. Knapp 40 Jahre nach den ersten Atomwaffenversuchen bereitet heute die Rekonstruktion der tatsächlichen Verstrahlungen erhebliche Schwierigkeiten. Strahlenmeßgeräte stehen nur Militärangehörigen zur Verfügung. Der Gesundheitsminister kritisierte, daß die militärische Führung aus Ge-heimhaltungsgründen immer noch keine genauen Daten über die einzelnen Atomwaffenexplosionen freigegeben hat. Eine Untersuchung des sowjetischen Gesundheitsministeriums in Moskau über die Strahlenfolgen, die eine Kommission 1989 ausgearbeitet hatte, ist bis heute weder veröffentlicht noch den kasakhischen Stellen zugänglich gemacht worden. In Semipalatinsk ist inzwischen ein von russischen Ärzten geleitetes Krankenhaus für Strahlenopfer eingerichtet worden; es untersteht allerdings militärischer Aufsicht; ein Einfluß des Gesundheitsministers sowie Zugang zu den Ergebnissen der Untersuchungen und Behandlungen gibt es nach eigenen Angaben nicht. 

3. Exil-Chinesen (Uiguren)
Exil-Chinesen, islamische Uiguren, die vor 30 Jah¬ren in Kasakhstan Zuflucht gefunden haben und seit einigen Monaten auch wieder zu Verwandtenbesuchen ins nahegelegene China reisen können, berichten über die Situation im nahegelegenen überwiegend von Moslemen bewohnten Teil der chinesischen Volksrepublik. In diesem Gebiet, das nur rund 300 km von Alma Ata entfernt liegt, wird über ethnische Unruhen berichtet. Dort befindet sich auch das chinesische Atomtestgelände so wie andere nukleare Einrichtungen. Es wurde von Strahlenopfern und erheblichen gesundheitlichen Schäden berichtet. 

Die Uiguren fühlen sich in China ebenso wie die Kasakhen in der Sowjetunion als Versuchskaninchen für Atomwaffenversuche, denen weder Schutz noch Hilfe zu teil wird. Augenzeugen der Atomwaffenver¬suche in der Volksrepublik China und in der Sowjetunion werden an der IPPNW-Konferenz im Oktober in Bonn in der Bonner Beethovenhalle teil¬nehmen. Sie stehen danach auch für örtliche Veranstaltungen zur Verfügung.

4. Informelle Gruppen
Zwei Gruppen sind mit ihren Aktionen gegen Atomwaffenversuche hervorgetreten: die Gruppe "Next Stop", die mit skandinavischen Testgegnern im Oktober vergangenen Jahres eine internationale Untersuchung der Strahlenfolgen und Protestveranstaltun¬gen organisiert hatte und die seit Februar 1989 arbeitende Gruppe "Nevada-Semipalatinsk", die auf Initiative des renomierten Schriftstellers Suleimenov entstand, und die vom (staatlichen) Schriftstellerverband und vom sowjetischen Friedenskomitee unter-stützt wird.

Die Treffen informeller Gruppen finden regelmäßig Donnerstagabend im Gorki-Park statt. Sozialdemokraten und Mitglieder der "Memorial", ökologische Gruppen und Feministinnen treffen hier seit einem halben Jahr zusammen, um über ihre Arbeit zu beraten. Räume für ihre Diskussionen finden sie nicht. Die informellen Gruppen verfügen über keine eigenen Versammlungsräume oder Büros. Die Atomteststoppgruppe "Nevada-Semipalatinsk" arbeitet in den Räumen des Schriftstellerverbandes. Von dort aus wird auch der internationale Kongress vorbereitet. Die Gruppe "Next Stop" hat in den Räumen des örtlichen Jugendkomitees Unterschlupf gefunden. Hier sucht man eine Vernetzung mit informellen Gruppen. Eigne unabhängige Publikationen sind bisher nicht möglich. In der Zeitung des Schriftstellerverbandes findet man allerdings Informationen über die Gruppe "Nevada-Semipalatinsk".

5. Staatliche Stellen
Das staatlichen Umweltschutz-Komitee und der Gesundheitsminister Kasakhstans geben an, daß die Regierung in Alma Ata heute mehr Aufmerksamkeit auf Umwelt- und Naturschutz legt. Dabei seien die Nuklearanlagen und die Bedrohung des Aralsees Schwerpunkte. Dies wird von den Testgegnern und ökologischen Gruppen aber bezweifelt. Durch den ökologischen Raubbau sind auch eine Reihe von Tierarten in diesem Steppenland bedroht. In der Nähe von Industrieanlagen gibt es erhebliche gesundheitliche Probleme, die sich jährlich weiter verschärfen. Das Umweltschutz-Komitee verbucht als Erfolg die Verhinderung einer Protein-Fabrik in Kasakhstan. 

Die Umweltschutz-Komittee in Alma Ata ist darum bemüht, Fachleute aus der Bundesrepublik für eine engere Zusammenarbeit zu gewinnen, sucht vor allen Dingen Kontakt zum Öko-Institut und zu Umweltschutzverbänden in der Bundesrepublik wie zu Fachärzten, die auf dem Gebiet der Strahlenforschung und -behandlung kompetent sind. 

Nach Angaben sowohl des Umweltschutz-Komitees als auch des Gesundheitsministers ist die gesundheitliche Versorgung in Kasakhstan auch generell bedenklich. Die Kindersterblichkeit sei hoch. Das be¬treffe nicht nur die ökologischen Folgen sondern den Standard der Gesundheitsversorgung. Sie bitten des¬halb um praktische Hilfe auf die¬sem Gebiet und suchen eine engere Zusammenarbeit, mit dem Ziel direkter deutsch kasakhischen Geschäftsverbindungen auf medizinischem und pharmazeutischem Gebiet. 

6. Nationalitätenvielfalt und die Sowjet-Deutschen 
Kasakhstan war seit seiner Gründung Aufnahmeland für Verbannte und flüchtende Minderheiten. Von den 2 Mil¬lion Sowjet-Deutschen lebt die Hälfte in diesem Land. Aus China sind in den 60er Jahren einige 10tausend Uiguren geflohen. Außerdem leben hier Türken, Usbeken, Kirgisen, Armenier, Tataren, Koreaner und viele andere Völker. Insgesamt sind Kasakhen selber heute in der Minderheit. Von der inzwischen von der Sowjetunion eingeleiteten Religionsfreiheit ist noch wenig zu sehen. Die großen Kirchen in Alma Ata dienen weiterhin als Museen. Die mehrheitlich islamische Religion wird lediglich im Süden der Republik aktiv öffentlich praktiziert. 

Das Gespräch mit sowjet-deutschen Familien in der Nähe von Alma Ata macht deutlich, daß die übergroße Mehrheit der Sowjet-Deutschen in die Bundesrepublik aussiedeln will. Viele von ihnen haben Angst vor ethnischen Auseinandersetzungen. Sie fürchten ebenfalls einen Rückfall in die stalinistische Vergangenheit. Viele von ihnen haben über Jahre im Gefängnis gesessen. Zwar fühlen sich die Deutschen nicht diskriminiert, aber das Vertrauen an einer grundsätzlichen Veränderung vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet fehle vollständig. Ältere Sowjet-Deutsche folgen dem Ruf in die Bundesrepublik nur ungern und nur, weil sie nicht in der Isolation zu¬rückbleiben wollen. Viele von ihnen haben in den letzten 50 Jahren auf eigenem Boden Hauseigentum. Es ist mit hunderttausendfacher Übersiedlung nach Deutschland zu rechnen. Die Geschichte der Zwangsumsiedlungen nach 1941 und die Begegnung Sowjet-Deutschen, die Ende des Krieges nach Sibirien verschleppt worden waren und später in Kasakhstan ansiedelten, macht betroffen. 

Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten in den Schulen Russisch als "Muttersprache" gelehrt wurde und die anderen Sprachen unterdrückt waren, ist es den Familien offenbar gut gelungen, ihre eigenen Sprachen zu pflegen und zu erhalten. In der Regel wachsen dann die Kinder zweisprachig auf. Kasakhisch wird heute neben russisch gleichberechtigt gelehrt und als Amtssprache wieder eingeführt. In Alma Ata gibt es inzwischen vier verschieden-sprachige Theater (russisch, kasakhisch, deutsch, uigurisch) und die Regierung ist bemüht, die Eigenständigkeit der verschiedenen Kulturen wieder zu beleben. 

Kasakhstan ist nach der russisch-förderativen Republik die flächenmäßig zweitgrößte in der Sowjetunion mit allerdings nur geringer Einwohnerzahl. Auf einem Gebiet, das der Fläche Westeuropas entspricht, leben ca. 15 Millionen Menschen. Kasakhische Gesprächspartner betonen, daß sie trotz ihrer geographischen Nähe zur Volksrepublik China au¬ßerordentlich daran interessiert sind, am wirtschaftlichen und politischen Zusammenwachsen Europas teilzunehmen. Sie wollen einen direkten Zugang zum Außenhandel mit dem Westen haben. Die "Rohstoffabhängigkeit" von der sowjetischen Regierung sei unannehmbar, weil der Großteil der Rohstoffe sich auf dem Gebiet der Republik Kasakhstan befinde. Wenn auch noch hinter vorgehaltener Hand wird in Gesprächen auch deutlich, daß eine poli¬tische Abtrennung von der Sowjetunion von vielen Kasakhen gewünscht wird. Nichtzuletzt die Rolle des sowjetischen Militärs, das in Kasakhstan allgegen¬wärtig ist, verstärkt diese Neigung. Viele Kasakhen fühlen sich als besetztes Land, das zusätzlich durch militärische Aktivitäten beson¬ders bedroht ist. 

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Gerd Greune ist Vorsitzender von ifias Brussels.