Nord-Süd-Beziehungen

Quallige Verwicklungen. Zur Kritik an dem Begriff „Entwicklung“

von Daniel BendixAram Ziai

Nach herkömmlicher Ansicht geht es bei „Entwicklung“ um die Frage, wie die Lebensbedingungen von Menschen in den so genannten Entwicklungsländern verbessert werden können. Damit ist der Entwicklungsbegriff grundsätzlich positiv besetzt.

Gleichzeitig werden sowohl der Begriff als auch damit einhergehende „entwicklungspolitische“ Maßnahmen vor allem seit den 1980ern grundsätzlich infrage gestellt. Wir wollen hier zwei Stoßrichtungen der Kritik vorstellen. In diesem kurzen Aufsatz geht es uns um den Gebrauch des Begriffs im Kontext von Nord-Süd-Beziehungen bzw. in Bezug auf Veränderungen in gesellschaftlichen Bereichen wie Ökonomie, Soziales, Kultur etc. Der Begriff ist unseres Erachtens lediglich in diesem Kontext kritikwürdig – die Entwicklung von Gedanken sehen wir als völlig unproblematisch an und finden, dass es in diese Richtung nicht genug Entwicklungsanstrengungen geben kann.

Wir sind nicht entwickelt sondern verwickelt
Die angesichts der normativen Komponente der gängigen Definition von „Entwicklung“ nahe liegende Frage, wer denn eigentlich definiert, was genau eine Verbesserung von Lebensbedingungen ist, führt zu der unweigerlichen Orientierung an den global tonangebenden, sich selbst als „entwickelt“ verstehenden Industriegesellschaften des Nordens. In dem in der Zeit der Aufklärung und damit in der der des europäischen Kolonialismus entstandenen Konzept von „Entwicklung“ – verstanden als Fortschritt bzw. Höherentwicklung – spielte insbesondere die Annahme eine Rolle, nach der wahre Menschlichkeit erst durch die Unterwerfung und Kontrolle von Natur und Menschen möglich sei. Als Kennzeichen von Menschlichkeit wurde eine in Europa verortete „Rationalität“ gesehen, sodass Weiße sich in der Pflicht sahen, den Rest der Welt zu „humanisieren“. Diesen Vorstellungen entsprang die Annahme der „Bürde des weißen Mannes“: dass Weiße die Aufgabe hätten, andere Menschen und Gesellschaften zu „verbessern“. Diese Idee lebt bis heute im Feld der internationalen „Entwicklungspolitik“ fort.

Die Zweiteilung der Welt in „entwickelte“ und „weniger entwickelte“ Länder in der „Entwicklungszusammenarbeit“ wurde aus dem Kolonialismus übernommen, die „Entwicklung der Unterentwickelten“ knüpfte direkt an die „Zivilisierung der Unzivilisierten“ an. Auf der Grundlage der Einordnung des Eigenen als ideale Norm werden dabei die Anderen als defizitäre Abweichung identifiziert und als eine historische Vorstufe dieser Norm klassifiziert. In diesem kolonialen Blick stehen die Überlegenheit des Eigenen und die Rückständigkeit des Anderen von Anfang an fest. (1) D.h. andere Gesellschaften werden in dieser universalistischen Sichtweise nicht als gleichwertige Möglichkeiten der Organisierung menschlichen Zusammenlebens gesehen, es gibt nicht verschiedene „Entwicklungswege“, sondern nur einen einzigen, weshalb Differenz nur als Rückständigkeit interpretiert werden kann. (2) Vielfalt und der Eigenwert von spezifischen gesellschaftlichen Phänomenen können nicht wahrgenommen werden.

Mit der Zweiteilung der Welt ist eine Fokussierung auf Probleme im globalen Süden verbunden, für die dem „entwickelten“ Norden eine Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird. Eine dieser eurozentrischen Problemkonstruktion entgegengesetzte Konstellation und somit ein wechselseitiges Lernen bleibt außerhalb des Bezugsrahmens. Internationale Verflechtungen werden gleichermaßen ausgeklammert. (3) Da der Norden als „entwickelt“ gilt, hält er aller Nachhaltigkeitsrhetorik zum Trotz an der althergebrachten Problemkonstellation fest, obwohl sich sein Ressourcenverbrauch, seine Produktions- und Konsummuster längst als untragbar für den Planeten erwiesen haben. Sie sind nur aufrechtzuerhalten, solange sie einer exklusiven Minderheit (mittlerweile auch im Süden) vorbehalten bleiben, weshalb von einer oligarchischen oder imperialen Lebensweise gesprochen werden kann. (4) Diese vornehmlich den Menschen im Norden vorbehaltene Lebensweise wird nicht als „Entwicklungsproblem“ in den Blick genommen. Auch bleiben durch den Fokus auf vermeintlich dem Süden inhärente Defizite die (historischen und gegenwärtigen) Aktivitäten von Staaten, Organisationen und Unternehmen des Nordens und ihre Rolle für die Probleme des Südens in der Regel unterbelichtet.

Entwicklung, du entpolitisierende Qualle
In der Geschichte der Entwicklungspolitik sind alle möglichen Maßnahmen und Programme unter das Ziel der „Entwicklung“ subsumiert worden, von Staudämmen bis zur Grundschulbildung, von Krankenhäusern bis Mikrokrediten, von transparenter Regierungsführung bis hin zur Schwangerschaftsverhütung, von partizipativer über grundbedürfnisorientierter, von nachhaltiger, lokaler bis hin zur geschlechtergerechten „Entwicklung“ – in den immer wiederkehrenden Neuauflagen des Entwicklungsversprechens haben wir alles schon gesehen. KritikerInnen bezeichneten „Entwicklung“ daher als „schwammiges“, „qualliges“ „Amöbenwort“: es ändert ständig die Form. (5) Der Begriff ist nicht auf einen eindeutigen Inhalt festzulegen, sondern kann mit einem beliebigen Inhalt verknüpft werden, solange die entsprechenden Maßnahmen als unpolitische Interventionen mit dem Ziel des Gemeinwohls dargestellt werden kann.

Die zur Erfassung von „Entwicklung“ üblicherweise verwendeten, relativ leicht messbaren ökonomischen oder sozialen Indikatoren erfassen die soziale Wirklichkeit zudem höchst ungenau: Ein gestiegenes Einkommen kann dennoch zunehmende Verelendung bedeuten, wenn ehemals kostenlose Ressourcen (Wasser, Bildung, Gesundheit) entgeltpflichtig werden. Zudem spielen schwer messbare Elemente wie Selbstbestimmung, Würde und Gerechtigkeit für Marginalisierte oftmals eine wichtige Rolle. Auch wenn eine gewisse soziale Gleichheit vorherrscht, kann dies – wie die Erfahrung des Realsozialismus im Ostblock gezeigt hat – durchaus mit Unterdrückung einhergehen. Objektive Kriterien reichen also bei weitem nicht aus, um über das Wohlstandsempfinden von Menschen Aussagen machen zu können. Vielmehr könnte von menschlichen Grundbedürfnissen ausgegangen werden, die zum Großteil nur über die direkte Befragung von Menschen erfasst werden könnten: Hier wären zu nennen gesicherter Lebensunterhalt, Schutz, Zuneigung, Teilhabe, Verstehen, Muße, Gestalten, Identität und Freiheit. (6)

Kritische Beiträge plädieren aufgrund des amöbenhaften Charakters des Entwicklungsbegriffs dafür, deutlich herauszustellen, was mit dem Bezug auf „Entwicklung“ gemeint ist: So geht es oftmals um den historischen Prozess kapitalistischen gesellschaftlichen Wandels (7); mit „Entwicklung“ können aber auch sozial-technologische Interventionen, also bewusste staatliche bzw. staatlich sanktionierte Eingriffe zur Abmilderung bzw. zur Aufrechterhaltung von kapitalistischem Wandel gemeint sein (8); zuletzt wird der Entwicklungsbegriff auch gerne verwendet, um darauf zu verweisen, wie man sich eine erstrebenswerten Gesellschaft, also als das „gute Leben“, vorstellt. Hier wird ersichtlich, dass wir uns von dem Begriff auch gänzlich verabschieden können und dass dies zu mehr Klarheit führt.

Der Kampf um ein besseres Leben kann genauer und deutlicher mit anderen Begriffen geführt werden. In vielem, was heute unter dem Etikett „Entwicklung“ stattfindet, geht es nicht darum, die „Unterentwickelten“ zu „entwickeln“, d.h. aus einer paternalistischen Position als defizitär konstruierte dem eigenen Idealbild anzugleichen – es geht um globale Gerechtigkeit und um Solidarität. Letztlich ist „Entwicklung“ hier ein Bedeutungsrahmen zur Erfassung und Erklärung von globaler Ungleichheit. Aber es gibt andere: wir können dieselben Phänomene in Begriffen wie Ausbeutung und Unterdrückung beschreiben. Und wir können aufhören, Lebensqualität mit der Summe von gekauften Waren gleichzusetzen, und uns an anderen Merkmalen einer guten Gesellschaft orientieren: Gastfreundschaft und Friedfertigkeit statt Produktivität und Effizienz, ein Leben in Würde anstatt eines mit Privilegien auf Kosten anderer und der Natur, internationale und innergesellschaftliche Solidarität statt Paternalismus. Eine solche Perspektive ermöglicht auch, den globalen Norden mit seiner innergesellschaftlichen Ungleichheit als Problem in den Blick zu nehmen und Kämpfe für ein gutes Leben als wirklich globale Auseinandersetzungen zu begreifen, in die sich alle auf unterschiedliche Weise und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verwicklungen einbringen können.

 

Anmerkungen
1 Henning Melber (2001) Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel

2 Hypothetisch wäre in dieser Sichtweise auch eine Interpretation von Differenz als Vorsprung denkbar.

3 Hier hat die dependenztheoretische Kritik auf entscheidende Blindstellen der Debatte aufmerksam gemacht, indem sie einzelne Länder im Hinblick auf ihre Stellung im kapitalistischen Weltsystem hin analysierte.

4 Ulrich Brand und Markus Wissen (2011) Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus, eds. Alex Demirović et al. Hamburg: VSA, S. 78-98

5 Gustavo Esteva (1989), Development: Metaphor, Myth, Threat. In: Development. Seeds of Change, Nr. 3 (1988): 79. Wolfgang Sachs, Zur Archäologie der Entwicklungsidee. In: epd-EP, Nr. 1 (1989)

6 Manfred Max-Neef (1995) Paradoxien des Wachstums und der Globalisierung. In: Entwicklungsmodelle und Weltbilder, Hrsg. Eckhard Deutscher, Thomas Jahn und Bernhard Moltmann. Frankfurt: Societäts-Verlag, S. 105-111.

7 Gillian Hart (2001) Development Critiques in the 1990s: Culs de Sac and Promising Paths, Progress in Human Geography 25, Nr. 4 (2001): 649-658

8 Michael Cowen und Robert Shenton (1996), Doctrines of Development.London: Routledge

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