Reiseeindrücke aus Israel und Palästina im Oktober 2006

von Clemens Ronnefeldt

Vom 17 .-28. Oktober 2006 nahm ich an einer Begegnungsreise nach Palästina und Israel teil, die von der katholischen Friedensbewegung Pax Christi (Diözese Augsburg und München) vorbereitet wurde. Unsere Reise führte uns u.a, nach Bethlehem, Ramallah, Hebron, Jericho, Jerusalem und in das Dorf Neve Shalom - Wahat al Salam (Oase des Friedens). Das mit Pax Christi verbundene „Arab Educational Institut" in Bethlehem sorgte für die Unterbringung unserer 19-köpfigen Gruppe in palästinensischen Gastfamilien und·organisierte Termine und Busreisen vor Ort.

Bethlehem
"Peace be with you" (Friede sei mit Dir) steht auf einem ca. 8 Meter hohen und 10 Meter breiten Begrüßungsschild des israelischen Tourismus-Ministeriurns, das an der Mauer zwischen Jerusalem und Bethlehem angebracht ist und die Gäste der Ge¬burtsstadt Jesu begrüßt. Die in der Nähe des Schildes verstreut liegenden Metallreste von Tränenqas- und Geräuschgranaten stehen in deutlichem Kontrast zur seiner Botschaft.

Im Flüchtlingslager Deheishe, einem von dreien in der Stadt Bethlehem, zeigt uns ein 25-jähriger Palästinenser das nun schon jahrzehntelang andauernde Elend der Flüchtlinge. Auf ca. einem Quadratkilometer leben rund 12 000 Menschen, die Hälfte davon Kinder. ,,In meinem Alter gibt es kaum noch Männer im Lager - entweder sie sitzen im Gefängnis oder sie sind getötet", teilt uns unser Gesprächspartner mit, der allerdings in seinem Widerstandsgeist gegen die Besatzung keineswegs gebrochen wirkt.

Ebenfalls in Bethlehem besuchen wir. den evangelischen Pfarrer der Weihnachtskirche, Dr. Mitri Raheb, der in Deutschland studiert hat. Während die israelische Regierung durch ständig neue Siedlungen und den Mauer- und Grenzzaunbau Fakten schafft, würden Kirchen in Europa über die Produktion von Stellungnahmen und Erklärungen oftmals nicht hinauskommen. Deswegen sei es so wichtig, dass auch die palästinensische Seite Fakten schafft-wie zum Beispiel das von ihm mitinitiierte Begegnungszentrum oder eine Fachhochschule für Studierende der Fachrichtungen Kunst, Film und Tourismus. Diese Einrichtungen haben in den letzten zehn Jahren nicht nur rund 100 neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch tausenden Menschen den Verbleib in Bethlehem durch eine gute Ausbildung ermöglicht. ,,Jegliches Reden von einer Ein- oder Zweistaatenregelung ist derzeit reine Augenwischerei - das Projekt Israel ist gescheiert", meint Mitri Raheb, der hinter den israelisch-palästinensischen Konflikt einen Konflikt weit größeren Ausmaßes sieht.

Am Checkpoint Bethlehem
Am letzten Freitag im Ramadan, dem 20. Oktober, gehen wir an den Checkpoint in Bethlehem, ·wo sich am Morgen mehrere hundert Muslime bemühen, die erste Hürde auf dem Weg zum Freitagsgebet in der Al¬Aksa-Moschee in Jerusalem zu überwinden; Grundsätzlich ist es Palästinenser In¬nen nicht erlaubt, nach Jerusalem zu reisen - es sei denn, sie haben sich vorher um einen Passierschein bemüht. Doch selbst dann sind sie häufig der Willkür der israelischen Soldaten ausgeliefert und werden ohne Grund nicht durchgelassen. An der Nahtstelle zwischen wartenden Palästinenserinnen und israelischen Soldaten spielen sich Dramen ab: Nach langem War¬ten werden alle Palästinenserunter45Jahren von den Soldaten aussortiert und frustriert in Richtung Bethlehem zurückgeschickt. Wenn der Druck der wartenden Menge zu groß wird, zieht ein Soldat eine Lärmgranate und wirft sie mitten in die wartende Menschenmenge, die er¬schrocken zurückweicht. Kinder fangen anzuschreien, klammern sich weinend an ihre Eltern und werden von diesen getrö-stet. Zwei Krankenwagen stehen bereit, um Verletzte ins nächste Hospital zu fahren.

Am Rande des Geschehens stehen internationale Beobachter des Ökumenischen Weltrates der Kirchen, die die Vorgänge dokumentieren und ihre Berichte an UN-Menschenrechtsstellen sowie an Abgeordnete des israelischen Parlamentes senden. Wenn Palästinenser geschlagen werden, schreiten die Mitarbeiterinnen des ökumenischen Begleitdienstes ein, vers¬chen die Misshandlungen zu stoppen und informieren vorgesetzte Offiziere der Soldaten.

Beilin
Die inzwischen international bekannteste Gemeinde, die sich im Westjordanland gegen den Mauer-und Grenzzaunbauwende ist Beilin. Seit rund eineinhalb Jahren gibt es dort jeden Freitag nach dem Gebet in der Moschee eine Friedensdemonstration zur neu errichteten Grenzanlage, die nur rund einen Kilometer vom Dorf entfernt ver¬läuft. Schätzungsweise 500-600 Menschen sind diesmal gekommen, viele davon aus den USA, Europa oder Asien. Die Organisatoren der Demonstration geben uns Verhaltenshinweise zum gewaltfreien Verlauf. Mit einigen mitgetragenen Leitern zum Übersteigen des Stacheldrahtes und des völkerrechtswidriqen Grenzzaunes ziehen wir den bereits am Zaun wartenden Soldaten und Polizisten entgegen. Bereits beim ersten Versuch einiger Demonstranten, die Leitern an den Stacheldraht anzulehnen, werfen Soldaten Tränengasgranaten, deren Schwaden über die DemonstrationsteilnehmerInnen hinwegziehen und das Atmen schwer werden lassen. Nach ca. einer Stunde mit Sprechgesängen (.,Nein zur Mauer") fliegen plötzlich Steine auf die Soldaten und Polizisten, die daraufhin das Tor 'öffnen, die davor Demonstrierenden auseinander treiben und den Tränengaseinsatz gegen die Flüchtenden erhöhen. Beim Wiedersammeln am Ausgangspunkt in Beilin treffe ich den alternativen Friedensnobelpreisträger Uri Avnery, hustend und mit geröteten Augen. Er erzählt mir, · wie er vor einigen Monaten mitbekommen hat, wie die israelische Polizei offensichtlich steinwerfende Provokateure in ziviler Kleidung eingeschleust hatte, um einen Vor-wand für die Verhaftung einzelner De¬monstranten zu erhalten. Nach der Verhaftungsaktion hätten die Provokateure mit den uniformierten Polizisten zusammengestanden und ihre Dienstwaffen den Kollegen übergeben.

Im Gespräch mit Uri Avnery, der sehr gut deutsch spricht, kommen wir auch auf den Libanonkrieg zu sprechen. Da dieser in den Augen des israelischen Militärs verloren wurde, rechnet er mit erneuten Bombardierungen im Libanon, sobald die Waffenarsenale wieder aufgefüllt sind und die internationale· Situation günstig ist. Den Aufstieg zum stellvertretenden Regierungschef des Politikers Avidgor Liebermann, der den Palästinensern das Existenzrecht abstreitet und die Methoden Russlands in Tschetschenien für die israelische Armee im Gazastreifen propagiert, kommentiert Uri Avnery mit den Worten: .Dies ist der erste Schritt zum Faschismus".

Hebron
In Hebron werden wir von Mitgliedern des Christian Peace Maker Teams empfangen, die seit mehr als 11 Jahren die Menschen¬rechtsverletzungen dokumentieren - und· dabei selbst bei Hausdurchsuchungen der israelischen Armee ins Visier der Besatzungsmacht geraten sind.

Wegen des muslimischen Gebetes in der Moschee verschieben wir die Besichti¬gung zunächst und begeben uns auf einen Stadtrundgang - vorbei an Checkpoints, Soldaten und zugemauerten Seitenstraßen.

1929 gab es Pogrome von Palästinensern gegen Juden in der Stadt, denen 67 Menschen jüdischen Glaubens zum Opfer fielen. 1994 ging der jüdische Arzt Dr. Ba¬ruch Goldstein an einem hohen muslimischen Feiertag in die vollbesetzte Moschee, ermordete mit einem Maschinengewehr 29 Muslime und verletzte mehr als 70 schwer, bevor er überwältigt werden konnte. Im Hebron-Abkommen 1997 wurde die Stadt geteilt in einen jüdischen Sektor, in dem derzeit rund 500 Siedler leben - .geschützt von rund 3 000 israelischen Soldaten - und einen palästinensischen Teil für rund 180 000 Palästinenser. Im jüdischen Sektorwohnen noch einige wenige palästinensische Familien, die ihre Häuser zum Teil wegen der vielen zugemauerten Straßen· nur über Löcher in Häusern von Nachbarn verlassen können.

Über einer der Hauptgeschäftsstraßen im palästinensischen Teil der Stadt, die unmittelbar an die jüdische Siedlung grenzt, sind stabile Stahlmatten auf hohen Eisenträgern qespannt, damit die Wurfgeschosse der Siedler (Steine, Müll,, .. ) nicht auf den Köpfen der einkaufenden Palästinenserlnnen landen.

Als wir nach mehr als einer Stunde wie¬der an der Moschee ankommen, die von israelischer Seite nach dem Massaker 1994 zur Hälfte in eine Synagoge umgewandelt wurde, um von zwei Seiten das Grab des gemeinsamen jüdisch-muslimischen Stammvaters Abraham zu besichtigen, stehen dort noch immer an die Wand gelehnt zwei junge Palästinenser. Ihnen war zuvor von israelischen Soldaten der Personalausweis-Ersatz (ID-Card) abgenommen worden - und die Soldaten lassen sie ohne erkennbaren Grund warten.

Jerusalem
Im Menschenrechtsbüro „Society of Saint Yves", dessen Präsident der katholische Erzbischof von Jerusalem und Palästinenser Michel Sabbah ist, und das von kirchlichen Hilfswerken aus Deutschland finanziell unterstützt wird, erfahren wir von den großen Schwierigkeiten, Palästinenser vor der Zerstörung ihrer Häuser durch den Malierbau zu bewahren oder Familienzusammenführungen zu ermöglichen.

Im Büro von „Betselem" (Im Angesicht Gottes), der größten israelischen Menschenrechtsorganisation, empfängt uns die Direktorin Jessica Mantell, die das Büro mit 35 Angestellten leitet. „Betselem". wurde vor israelischen Abgeordneten, kritischen Jounalistlnnen und Anwältinnen gegründet, gibt zuverlässiges Kartenmaterial über die Situation in den besetzten Gebieten heraus und ist eine der wichtigsten Informationsquellen für die nationale und internationale Presse  n Bezug auf Menschenrechtsverletzungen. Jessica Mantell teilt uns mit, dass trotz eines offiziellen Folterverbotes immer noch bei. Verhören in israelischen Gefängnissen gefoltert wird. Unter den rund 10.000 palästi¬nensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen seien rund 700-800 „Verwaltungsgefangene", denen keine Straftat vorzuwerfen sei. Sie würden lediglich präventiv festgehalten - ihre Haftzeit immer wieder ohne Prozesseröffnung verlängert. Seit dem Jahre 2000 seien mehr als 3 000 Palästinenser- von der israelischen Armee oder Polizei getötet worden, über die Hälfte von ihnen unbewaffnete Zivilisten. Trotz der kritischen Berichterstattung fänden bei Umfragen in Israel rund 20 Prozent der Befragten die Arbeit von ,,Betselein"-wichtig.

Am Jaffa-Tor haben wir uns mit Reuven Moskovitz verabredet, der das israelisch-palästinensische Friedensdorf Neve Shalom- WahatalSalam, zwischen Tel Aviv und Jerusalem gelegen, mitaufgebaut hat. Dort leben derzeit rund 100 erwachsene Israelis und Palästinenser mit ihren Kindern. Reuven MoskoVitz ist pensionierter Geschichtsprofessor und zeigt uns Jerusalem mit viel jüdischem Humor. In einer Kirche spielt er für uns auf seiner Mundharmonika die Vertonung der Psalmworte „Suche den Frieden und jage ihm nach". Vielen von uns geht die Musik sehr zu Herzen.

Fazit:
Unsere Reise zeigt den hohen Preis, den die palästinische Bevölkerung für die jahrzehntelange Besatzung bezahlt- und die Unmöglichkeit der israelischen Seite, dieses Unrecht aufrechtzuerhalten und gleichzeitig eine auf Menschenrechten gegründete Demokratie zu erhalten.

Bei Fortsetzung der gezielten Tötungen im Gazastreifen durch die israelische Armee ist es vermutlich eine Frage der Zeit, bis wieder ein palästinisches Selbstmordattentat die von der israelischen Besatzungspolitik in Geiselhaft genommene israelische Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Die drei derzeit gefangen gehaltenen israelischen Soldaten haben vermutlich erst dann eine Chance auf ihre Freilassung, wenn die israelische Armee ihren „Operation Herbstwolken“ genannten Feldzug gegen die BewohnerInnen des Gazastreifens einstellt. Der palästinischen Führung ist zu wünschen, dass sie die extremistischen Kräfte der eigenen Seite vom Abschuss weiterer Kurzstreckenraketen auf israelisches Territorium abbringt.

Nach dieser Reise ist noch unbegreiflicher, dass die Bundesregierung der israelischen Führung U-Boote liefern möchte, die in Israel für den Einsatz mit Atombomben umgebaut werden sollen. Weitere deutsche Rüstungsgüter wie der Truppentransportpanzer „Dingo“ wurden in Aussicht gestellt. Es wäre ein Akt der Vernunft und der Verantwortung, sämtliche Rüstungsexporte in das Pulverfass Nahost zu unterlassen.

Was derzeit fehlt, sind Initiativen für einen neuen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern, der an die Ergebnisse der Friedensverhandlungen von Taba 2001 und der Gender Initiative 2003 abgeknüpft, wo wichtige Ausfahrten zu einer Konfliktregelung verpasst wurden. Für die gesamte Region wäre die Einberufung einer Konferenz nach Vorbild der KSZE/ OSZE für die ABC-waffenfreie Zone von großer Bedeutung, die sowohl Israel als auch Iran einschließt.

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Krisen und Kriege
Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.