„Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker“?

Religiöse Überhöhung des Militärischen

von Albert Fuchs

Religiöse Überhöhungen von Militär und Soldatentum gehören seit jeher zum Kern der kulturellen Gewalt, dem Fundament beliebiger Formen von direkter Militärgewalt oder Gewaltvorbereitung. Die explizite, öffentliche und positive Verbindung von Militär und Religion unterliegt allerdings konjunkturellen Schwankungen, die insbesondere von der politischen Prominenz des Militärischen in einer Gesellschaft abhängen dürften. So ist hierzulande im Zusammenhang der Militarisierung der deutschen Außenpolitik seit der Epochenwende von 1989/90 eine zunehmende Resakralisierung des Militärischen zu beobachten. Dabei werden je nach Anlass und Kontext unterschiedliche Bestandteile des religiösen bzw. theologischen Konstruktinventars hervorgehoben und in Anspruch genommen. Das sind, gleichfalls auf die neudeutschen Verhältnisse bezogen: religiöses Daseinsverständnis, Geschichtsbild, Normen und Werte sowie Opfervorstellungen.

Daseinsverständnis
Für das christlich-religiöse Daseinsverständnis ist der Gegensatz von Gut und Böse – genauer: der Gegensatz zwischen moralisch Gutem und moralisch Bösem – konstitutiv. Die Möglichkeit des (moralisch) Bösen gilt als kennzeichnend für das Wesen des Menschen. Ein wahrhaft „gutes Leben“ ist in dieser „noch nicht erlösten Welt“ nicht wirklich möglich, jedenfalls nicht ohne die besondere „Gnade“ Gottes, als deren Vermittler Jesus von Nazareth verstanden wird.

Die Lehre von der „noch nicht erlösten Welt“, von der Realität des „Bösen in der Welt“ o.Ä. dient im Zuge der kirchlichen Selbstangleichung an den neuen Militarismus vor allem im protestantischen Milieu als quasi-axiomatische Kurzformel, wenn es darum geht, das Gewaltsystem Militär theologisch-anthropologisch als Instrument „gottgewollter“ Abwehr des „Bösen“ zu fundamentieren, einen „rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauch“ als „äußerstes Mittel“ jedenfalls grundsätzlich zu befürworten (1) – den dazu erforderlichen Rüstungs- und Rüstungsexportbetrieb eingeschlossen.(2) Etwas weniger bedeutungsschwer und essentialistisch sprechen die katholischen Bischöfe von „einer gewaltdurchwirkten Welt, die den messianischen Gottesfrieden noch nicht“ kenne und annehmen wolle, halten im Hinblick auf einen unterstellten allgemeinen „menschlichen Hang zur Gewalt“ gewaltförmige „Mechanismen der Gewaltbändigung und Gewaltvorbeugung“ für vernunft- und sachgemäß und schärfen den Gläubigen ein, sich „in ihrem Beten und Tun um den allen insgesamt möglichen [den sog. noachitischen] Frieden“ einer gewaltbewehrten Rechtsordnung zu bemühen. (3)

Geschichtsbild
Die Weltgeschichte erscheint vor dem Hintergrund dieses Daseinsverständnisses nicht zuletzt als Kampf zwischen Gut und Böse, freilich nicht nur als Abwehrkampf gegen das Böse, sondern als proaktiver, auf „Gottes Herrschaft“, „Gottes Reich“ oder den „messianischen Frieden“ angelegter Kampf. Auch könne Gott in diesem Kampf – mit und durch „Menschen seiner Huld“ (Lk 2,14) – Gutes durch Böses schaffen („felix culpa“).

Dieses anspruchsvolle Narrativ hat das Christentum bzw. die verschiedenen „Christentümer“ nicht vor der Narzissmus-Falle bewahrt, sie im Gegenteil immer wieder in das „Ours is the way of God“ (Unser Weg ist Gottes Weg) hineingezogen. (4) Die Folgen sind besonders fatal, wo dabei seit der sog. Konstantinischen Wende die Kooperation mit der staatlichen (Zwangs-) Macht gesucht und praktiziert wird. Mit der Reformation und dem u.a. von Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre inspirierten neuzeitlichen Prozess der Säkularisierung wurde die mittelalterliche kirchliche Machtpolitik (inkl. unmittelbarer Beteiligung am Krieg) zwar zurückgedrängt. Luthers These, Gott regiere die Welt zum Wohl des Menschen auch mittels des Schwertes und demnach sei es geboten, das Schwert zu führen und der schwertführenden Obrigkeit grundsätzlich Gehorsam zu leisten, begünstigt andererseits eine religiöse Überhöhung des Militärischen bis in die Gegenwart. Ganz dieser Linie entspricht bspw., wenn der Militärdienst anscheinend als solcher in zeitgenössischen kirchlichen Dokumenten als Form „aktiver Liebe zum Nächsten“, als „Dienst am Mitmenschen“ gilt oder wenn Soldaten vergleichbar pauschal nahegelegt wird, sich „als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker“ zu begreifen. (5)

Normen- und Wertekanon
Der Kern des Militärischen, die militärische Tötungslizenz, widerspricht aber ganz offensichtlich der zivilisatorischen, nicht zuletzt (auch) religiös fundierten Grund- und Generalnorm, dem prinzipiellen Tötungsverbot. So könnte das Militärhandwerk als solches zumindest ebenso böse sein wie das Böse, zu dessen Abwehr es dienen soll. Man braucht also eine Argumentationsfigur, die es ermöglicht, die besagte Grundnorm zwar nicht aufzuheben, aber doch gelegentlich auszusetzen. Seit spätrömisch- frühmittelalterlicher Zeit wird dazu (in der westlichen Christenheit) auf die von Aurelius Augustinus (354-430) assimilierte römische Lehre vom „gerechten“ oder „gerechtfertigten Krieg“ oder auf Varianten dieser Lehre zurückgegriffen. Unter der Voraussetzung, dass Kriegführen grundsätzlich einer ethischen Bewertung zugänglich ist, versucht man zu klären, unter welchen Umständen Krieg gerechtfertigt oder gar geboten sein könnte und wie diese Umstände gegebenenfalls zu operationalisieren sind.

Die mit dem religiösen Geschichtsbild aufs engste verbundene Leitidee eines zwar letztlich transzendenten, aber politisch-moralisch gleichwohl relevanten „messianischen Friedens“ ist so abstrakt und interpretationsoffen, dass sie immer wieder für sehr „diesseitige“ Ziele und Zwecke vereinnahmt werden kann. Daher erfordert sie eine Differenzierung bzw. Konkretisierung. In der Logik der modernen säkularen Idee universeller Menschenrechte skizzierte Papst Johannes XXIII diesen Friedenshorizont als globale gerechte politische und wirtschaftliche Weltordnung, in der Krieg strukturell überwunden ist und die Beziehungen zwischen den sozialen Einheiten von der persönlichen bis zur staatlichen Ebene „von der Norm der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der tatkräftigen Solidarität und der Freiheit bestimmt werden“. (6) Seit gut zwei Jahrzehnten geht es im (deutschen) kirchlich-theologischen Diskurs programmatisch um „gerechten Frieden“ als (nie abschließbaren) Annäherungsprozess. In der Friedensdenkschrift der EKD werden vier Komponenten dieser Leitidee erläutert: Schutz vor Gewalt, Abbau von Not, Förderung von Freiheit, und Anerkennung kultureller Vielfalt und Selbstbestimmung.

Damit ist die Überhöhung des Militärischen in den beiden erstgenannten Richtungen – negativ als Instrument zur Abwehr des Bösen, positiv und proaktiv als Werkzeug des Friedens – fest in ein Normengefüge eingebunden, das eine Art Überhöhung zweiten Grades bietet: Mit der Übernahme der Bellum iustum-Kriteriologie verfügt man (scheinbar) über ein solides Instrument der Situationsanalyse, das einen „verantwortungsvollen Gewaltgebrauch“ gewährleistet. Durch Einbettung dieser Argumentationsfigur in das positiv getönte und anspruchsvolle Begriffsumfeld des „gerechten Friedens“ ist dieses Instrument u.U. besser als je zuvor geeignet, das Militärische ethisch zu salvieren. Der Gipfel der religiös getönten Überhöhung – die „Ehre der Altäre“ sozusagen – resultiert jedoch aus (pseudo-)religiösen Opfervorstellungen.

Opfervorstellungen
Opfer – verstanden als rituelle Darbringung einer Gabe an die Gottheit in unterschiedlicher Intention – gelten in verbreiteter religions- und sozialwissenschaftlicher Sicht als zentrale Bestimmungsstücke des Religiösen. Das dürfte eine Übergeneralisierung sein; jedoch gehört die Opferkategorie seit Paulus und vor allem im sog. Hebräerbrief zur ebenso nachhaltigen wie frühen christlich-theologischen Standardinterpretation des Kreuzestodes Jesu als Selbstopfer (z.B. Hebr 9,13f.).

Frühchristliche Märtyrer galten als „Blutzeugen“ für den christlichen Glauben; die für ihr Bekenntnis verhängte Todesstrafe verstanden die Gläubigen als Opfer in der Nachfolge Jesu. Anscheinend erstmals im Rolandslied (um 1100, Nordfrankreich), vor dem Hintergrund der gegen 1000 vom christlich gebliebenen Nordspanien aus intensivierten Rekonquista und der Ende des 11 Jh. einsetzenden Kreuzzugsbewegung, wurde der Tod eines christlichen Soldaten als Märtyrertod gerühmt. Papst Urban II (1088-1099) stellte den Teilnehmern an dem von ihm auf der Synode von Clermont (1095) propagierten ersten Kreuzzug den Erlass der kirchlichen Bußstrafen und als „himmlischen Lohn“, im Falle des Todes bei dieser Unternehmung, die „sofortige Vergebung aller Sünden“ in Aussicht. Mit zunehmender Emanzipation von der Vormundschaft der Kirche wurde diese Vorstellungswelt – vielfach „neu-heidnisch“ archaisiert – für diverse Nationalmonarchien und Kriegsherren nutzbar gemacht, im deutschsprachigen Raum besonders im Zusammenhang der Befreiungskriege. Der Krieg wurde zum „Opfergang“, der „Altar des Vaterlandes“ zu einem verbreiteten Typ von Kriegerdenkmälern. Ihre Bedeutung für die Kriegspropaganda im 20. Jh. ist hinlänglich bekannt. Der Stimmungs- und Mentalitätswandel der Nachkriegszeit konnte ihr anscheinend wenig anhaben. Seitdem deutsche Soldaten im Zuge der Umwandlung der Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“ auch wieder „fallen“ (können), wird jedenfalls die Opferkategorie von interessierter Seite erneut zur Sinnstiftung für das Sinnlose bemüht, zur Blockierung politischer Auseinandersetzungen um diese Neuausrichtung und zur Mobilisierung weiterer „Opferbereitschaft“ – jetzt angeblich für „Frieden, Recht und Freiheit“ und abermals mit tatkräftiger Unterstützung aus Intelligenz und Geistlichkeit.

So sicher man sein kann, das die erläuterten abstrakten Dimensionen der religiösen bzw. christlichen Gedankenwelt nicht nur zur Hinnahme des Militärischen als irgendwie „notwendiges“ Übel beitragen (können), sondern zu dessen Überhöhung in einem quasi-religiösen kollektiven Glauben an die Heilkraft militärischer Gewalt, so schwer fällt eine genauere Bestimmung des Gesamtzusammenhangs wie der Bedeutung der einzelnen Aspekte. Am adäquatesten dürfte sein, dieses Konstruktinventar als ein tiefenkulturelles konzeptuelles Gefüge zu betrachten, das nicht per se militärgewalt-affin ist, sondern ambivalent und interpretationsbedürftig. Das besagt, dass es weitgehend in der Verantwortung der Interpreten liegt, wie es sich auswirkt. Das Interpretations-Zusammenspiel von politisierenden TheologInnen und theologisierenden PolitikerInnen ging allerdings nur allzu oft in Richtung Überhöhung des Gewaltsystems Militär. Um die Interpretationshoheit aber kann und muss gestritten werden.

 

Anmerkungen
1 EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Ziff. 60). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Verfügbar unter: http://www.ekd.de...

2 Vgl. die diesbezügliche Einlassung des EKD-Vorsitzenden Nikolaus Schneider in der ARD-Dokumentation "Tod für die Welt – Waffen aus Deutschland", 08.04.2013, 23.30 h. Verfügbar unter: http://mediathek.daserste.de...

3 Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede (Ziff. 55f., i.V.m. Ziff. 51f.). Bonn: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz. Verfügbar unter: http://www.dbk-shop.de...   

4 Vgl. Seul, J.R. (1999): „Ours is the way of God”: Religion, identity and intergroup conflict. Journal of Peace Research, 35, pp. 553-569.

5 EKD (2007), wie Anm. 1 (Ziff. 60); Vaticanum II (1965): Pastoralkonstitution Gaudium et Spes – über die Kirche in der Welt von heute (Ziff. 79). Verfügbar unter: http://www.vatican.va...

6 Joannes PP. XXIII (1963): Enzyklika Pacem in Terris. Rom, 11.04.1963 (Ziff. 46 und passim). Verfügbar unter: http://www.vatican.va…

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