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Ziviler Ungehorsam für Asylrecht:
Richterin bleibt erstmals weit unter der Strafforderung der Staatsanwaltschaft
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Bereits mehrfach berichteten wir im FriedensForum über die Folgen der Aktion zur symbolischen Einzäunung des Wormser Abschiebegefängnisses. Nun verurteilte das Bonner Amtsgericht am 20.11.95 weitere fünf Personen wegen des Aufrufes zu dieser symbolischen Einzäunung am Menschenrechtstag 1994 (10.12.) zu Geldstrafen von jeweils 15 Tagessätzen. Während jedoch in den früheren Verhandlungen alle RichterInnen den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgten und inzwischen sieben Personen zu jeweils 30 bzw. (bei Vorstrafen wegen anderer Aktionen Zivilen Ungehorsams) 40 Tagessätzen verurteilt haben, durchbrach Richterin Wuttke nun diese Serienurteile. Diesmal standen aus dem "Aktionskreis Ziviler Ungehorsam für Asylrecht" die Mitglieder Albert Scherr, Martin Singe, Elke Steven und Klaus Vack sowie Wolfgang Sternstein aus dem Kreis der 800 AufrufunterzeichnerInnen vor Gericht.
Die Angeklagten legten im Prozess sehr ausführlich ihre Rechtfertigungsgründe für die gewaltfreie Aktion des zivilen Ungehorsams dar: Der Skandal der Abschiebehaft und die Folgen für die betroffenen Asylsuchenden bis hin zu Suiziden und Suizidversuchen aus Verzweiflung seien so gravierend, daß eine geringfügige Sachbeschädigung zum Zwecke der eindeutigen Demonstration gegen das Institut der Abschiebehaft moralisch und auch rechtlich zu rechtfertigen sei. Die Staats-anwaltschaft anerkannte diese Rechtfertigungsgründe in keiner Weise, sondern forderte jeweils 30 Tagessätze Geldstrafe für Scherr, Steven und Sternstein sowie je 50 Tagessätze für Vack und Singe, da diese eine besondere Verantwortung für die Durchführung der Aktion übernommen hätten. Der Staatsanwalt sah den Straftatbestand des "Aufrufes zu Straftaten" (_111 StGB) in Verbindung mit gemeinschädlicher Sachbeschädigung (304 StGB) und Landfriedensbruch (_125 StGB) als gegeben an. Richterin Wuttke ließ im Urteil lediglich die "einfache" Sachbeschädigung nach _ 303 StGB gelten und verneinte, daß auch zu den Straftatbeständen Landfriedensbruch und gemeinschädliche Sachbeschädigung aufgerufen worden sei. Das Strafmaß legte sie einheitlich für alle Angeklagten auf 15 Tagessätze fest, den Anträgen der Angeklagten auf Freispruch wollte sie jedoch nicht folgen. Voraussichtlich werden die Verurteilten auch in diesem Fall - wie bereits in allen anderen Prozessen - die nächste Instanz anrufen.
Zu Beginn des Prozesses legte Klaus Vack aus Sensbachtal die Entstehungsgeschichte des Aufrufes zur Einzäunung und der am Menschenrechtstag 1994 in Worms durchgeführten Demonstration für das Menschenrecht auf Asyl und die Abschaffung der Abschiebehaft dar. Er verdeutlichte, inwieweit alle Angeklagten ihre legalen Protest- und Demonstrationsmöglichkeiten intensiv ausgeschöpft hätten, ehe sie zum Mittel des Zivilen Ungehorsams griffen. Für die Aktion selbst waren alle Eskalationsrisiken durch sorgfältigste Vorbereitung, Einstimmung auf die Prinzipien gewaltfreier Aktion, vorbereitende Polizeigespräche und Kontakte zu dem Leiter der Abschiebehaftanstalt und den dortigen Insassen ausgeschlossen worden. Die strikt gewaltfreie Aktion mit Symbolcharakter bedeutete einen politischen Appell an die Verantwortlichen.
Dr. Elke Steven wies darauf hin, daß viele gesellschaftliche Organisationen wie Kirchen, Caritas, Pro Asyl, UNHCR sowie hochrangige PolitikerInnen und JuristInnen scharfe Kritik an den Folgen der Asylrechtsänderung von 1993 und Zweifel an deren Legalität geäußert hätten. An Einzelfällen verdeutlichte sie, wie die Grundrechte von Asylsuchenden verletzt würden, nicht zuletzt, indem sich die Bundesregierung bei Abschiebungen auf die Zusagen und Versicherungen von Regimen verlässt, in denen Folter üblich ist. Weiterhin ging sie auf ein Gutachten von Prof. Knösel ein, der die Abschiebehaft aus rechtlichen Gründen für verfassungswidrig hält. Zum einen seien die Richter in ihrer Urteilskompetenz den Informationen der Ausländerbehörden bei der Anordnung von Abschiebehaft ausgeliefert und nicht mit eigener Prüfungskompetenz ausgestattet, zum anderen würden in der Abschiebehaft systematisch Grundrechte der Betroffenen verletzt, da es kein entsprechendes Vollzugsgesetz gibt.
Martin Singe stellte in seiner Einlassung die Folgen der Abschiebehaft in den Mittelpunkt und verlas Passagen aus persönlichen Briefen von Abschiebehäftlingen, in denen diese ihre verzweifelte Lage schildern. Er benannte 18 Personen, die sich seit der Asylrechtsänderung 1993 aus Angst vor der Abschiebung selbst das Leben genommen haben, meist durch Erhängen in der Zelle der Abschiebehaftanstalt. Zustände, die zu solchen Verzweiflungstaten führten, dürften nicht länger schweigend hingenommen werden. Des Weiteren zitierte Singe den Strafrechtler Roxin aus München, der in seinem "Allgemeinen Strafrecht" zu Aktionen Zivilen Ungehorsams ausführt, daß ein Ausschluss der strafrechtlichen Haftbarmachung solcher Täter - also ein Freispruch - durchaus möglich ist, wenn "die demonstrativen Akte der öffentlichen Meinungsbildung in lebenswichtigen Fragen dienen und die Behinderungen keine ernsthaften Belange des Gemeinwohls gefährden".
Prof. Dr. Albert Scherr setzte sich vor allem mit dem im Landfriedensbruch-Paragraphen enthaltenen Gewaltvorwurf auseinander. Von einer Gewalttätigkeit gegen Sachen könne im Zusammen-hang des funktionslosen äußeren Zaunes der Haftanstalt keine Rede sein, da dieser Gegenstand weder eine reale Sicherheitsfunktion noch irgendeine Bedeutung für die physische und psychische Integrität von Personen habe. Außerdem verdeutlichte Scherr, daß die Grund- und Menschenrechte den Flüchtlingen ohne Not durch den sog. Asylkompromiss genommen worden seien. Einflussreiche Politiker und Medien hätten eine irrationale und gefährliche Debatte gegen einen angeblich nicht verkraftbaren Ausländer-Zustrom bewusst geschürt. Durch diese Debatte sei das Feindbild "Asylanten" produziert und der Boden für die rechtsextreme Gewalt gegen Ausländer bereitet worden. Um die politische Öffentlichkeit, die sich an die unmenschliche Praxis der Abschiebungen gewöhnt hätte, aufzurütteln, sei eine Aktion Zivilen Ungehorsams notwendig gewesen.
Schließlich ging Dr. Wolfgang Sternstein ausführlich auf die Bedingungen und Zielsetzungen der Aktionsform Ziviler Ungehorsam ein. Er zitierte den Rechtstheoretiker Ralf Dreier aus Göttingen, der für eine rechtliche Rechtfertigung für zivilen Ungehorsam die Formel vorgeschlagen hatte: "Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist." Diesen Kriterien hätte die geplante Aktion Zivilen Ungehorsams voll genügt, und sie sei daher auch rechtlich zu rechtfertigen. Ziviler Ungehorsam bedeute so auch einen Kampf um das Recht: Wenn auf den ersten Blick die Übertretung einer Verbotsnorm zu konstatieren ist ("prima facie"-Ungehorsam), so kann diese Übertretung jedoch aus den Rechtfertigungsgründen der Handelnden heraus auch rechtlich gerechtfertigt werden. Sternstein legte dann seine Rechtfertigungsgründe für die geplante Aktion dar und schloss mit Gandhi: "Ziviler Ungehorsam wird zu einer heiligen Pflicht, wenn der Staat den Boden des Rechts verlassen hat."
Die Staatsanwaltschaft gestand zwar ein, daß es tatsächlich im Zusammenhang mit der Abschiebe-haft zu bedrückenden Situationen komme, diese jedoch eine Gesetzesübertretung nicht recht-fertigten. Die Asylentscheidung sei demokratisch zustande gekommen und verdiene Toleranz und Akzeptanz, selbst wenn sie falsch sein sollte, was das Verfassungsgericht ja noch prüfe. Außerdem - so der Staatsanwalt - sollten die Angeklagten auch einmal an die Polizisten denken, die wegen einer solchen Aktion am Samstag von ihren Familien getrennt würden. So sei das öffentliche Interesse auch dadurch tangiert, daß ein solch großes Polizeiaufgebot bereitgestellt werden mußte. Der Staatsanwalt blieb auch beim Vorwurf des Aufrufs zum Landfriedensbruch und forderte die oben genannten Strafmaße für die Angeklagten.
Rechtsanwalt Urbanczyk, der Klaus Vack verteidigte, ging in seinem Plädoyer vor allem auf die in Art. 4 GG verbürgte Gewissensfreiheit ein. Wenn es zu einer Pflichtenkollision zwischen vorgeschriebenen Rechtspflichten und der eigenen Gewissenspflicht kommt, müsse der Freiheit des Gewissens und seiner Betätigung der Vorrang gegeben werden, solange die Gewissenstat verhältnismäßig bleibt und keine Grundrechte anderer verletzt werden. Rechtsanwalt Sterzing, MdB, der Albert Scherr verteidigte, bezog sich noch einmal auf den Vorwurf der gemeinschädlichen Sachbeschädigung. Da die Abschiebehaftanstalt nicht dem unmittelbaren öffentlichen Nutzen diene, sei der Tatbestand nicht erfüllt. Bei Interessenkonflikten müsse eine der Hierarchie der Rechtsgüter entsprechende Abwägung vollzogen werden, um zu einem Urteil zu kommen. Die immer breiter werdende Kirchenasyl-Bewegung sei auch ein Indikator für das tatsächlich vorhandene staatliche Unrecht. Auch bei Politikern gehe das Erschrecken über die Folgen des neuen Asylrechts weit über das Absehbare hinaus. Die Demokratie brauche das Korrektiv des Zivilen Ungehorsams, insofern dieser an klaren Regeln orientiert bleibt. Beide Anwälte - wie auch alle Angeklagten - plädierten auf Freispruch.
Richterin Wuttke sprach nach fünfstündiger Verhandlung schließlich das Urteil: 15 Tagessätze einheitlich für alle Angeklagten. Damit setzte sie sich in Gegensatz zu allen bisherigen Urteilen in derselben Sache und in Widerspruch zur Staatsanwaltschaft, die das Doppelte, bzw. das bis über Dreifache dieses Maßes für Vack und Singe beantragt hatte. Richterin Wuttke schloss die Tatbestände Landfriedensbruch und gemeinschädliche Sachbeschädigung aus. Wenn die von Sternstein zitierte Formel des Rechtsprofessors Dreier Bestandteil des Strafgesetzbuches wäre, so Richterin Wuttke, "könnte ich Sie alle freisprechen". An anderer Stelle sollte über den Vorschlag, den zivilen Ungehorsam zu verrechtlichen, politisch diskutiert werden, schlug sie vor. Im vorliegenden Fall sah sie angesichts der gegebenen Rechtslage den strafrechtlich relevanten Aufruf zu einer Sachbeschädigung als gegeben an. Wegen des Wegfalls der weitergehenderen Vorwürfe, aber auch wegen der anerkennenswerten Motivation der Angeklagten und der Sorgfalt im Hinblick auf die Gewalt-freiheit der Aktion sei jedoch ein Strafmaß von 15 Tagessätzen ausreichend. Die von der Staats-anwaltschaft geforderte Differenzierung und höhere Bestrafung von Vack und Singe lehnte Richterin Wuttke ab.
Weitere Prozesstermine könnten bei der Kontaktadresse des Aktionskreises Ziviler Ungehorsam für Asylrecht, c/o Martin Singe, Lennéstr. 45, 53113 Bonn, 0228-264615 oder 0221-523056, erfragt werden.