Rück- und Ausblick auf - nicht nur - Deutsche Interessen

von Angelika Beer

Im Jahr 1 der Wiedervereinigung erklärte Bundeskanzler Kohl in einer Regierungserklärung vom Januar 1991, wo es langgeht: "Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu einer Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten“.

Deutsche Vergangenheit wird abgewickelt und ebenso wie die nie gewollte und von den Siegermächten des 2. Weltkrieges aufgezwungenen außenpolitischen Beschränkungen Deutschlands ins Archiv gelegt. Gegenwart wird nur noch selektiv je nach Regierungsinteresse  in den Wahrnehmungsbereich der deutschen Öffentlichkeit gelassen. Zusammenhänge von Ausbeutung und Armut, von Flucht und Fluchtursachen bleiben ausgeblendet.

Die Menschenrechtspolitik dieser Regierung steht im krassen Widerspruch von zumindest geduldeter Ausbeutung, Strangulierung, Unterdrückung, Folter und Mord. Die Worte "Menschenrechte" und "Humanitäre Hilfe" sind für Kinkel, Kohl und Rübe zum Zauberwort des Großmachtstrebens geworden. Während NS-Kriegsverbrecher zögerlich verfolgt und deren Opfer nicht entschädigt werden, treiben Rassisten erneut ihr Unwesen gegen ausländische BürgerInnen; während der bisher größte out-of-area Einsatz für rund 500 Millionen DM unter dem Feigenblatt der Humanitären Hilfe für Somalia zum Fiasko wurde, sterben in den ausgeblendeten Teilen dieser einen Welt, wie z.B. in Südsudan tagtäglich Menschen wie Fliegen dahin und werden von Regierungstruppen bombardiert; und während endlich Kriegsverbrecher aus Ex-Jugoslawien (wenn auch bisher nur die der serbischen Seite) international angeklagt werden, finden andernorts Kriege mit direkter deutscher Unterstützung statt.

Kriege, Elend, Hungersnöte, Genozid und Massenvertreibung werden - von einer deutschen Politik der Doppelzüngigkeit - nach jeweiligem Interesse unterschiedlich schwer gewichtet oder einfach ignoriert.

Der Kampf um Einflussgebiete hat sich mit der Auflösung des östlichen Militärblockes verändert. Nicht mehr USA und Sowjetunion ringen gegenseitig um Regionen. Es geht um Besitzstandswahrung und weitere Ausdehnung  der Kampf um die letzten Ressourcen  hat begonnen. Völkern wird das Recht auf Selbstbestimmung, ja selbst das Recht auf Existenz, entzogen oder für immer verweigert, weil man mühsam gewonnenen Einfluß und vermeintliche Stabilität nicht gefährden will. So auch im Falle Kurdistans.

1. Golf-Krieg Irak/ Iran

70 Jahre immer wiederkehrender Aufstände der Kurden in den jeweils besetzten Gebieten scheiterten u.a. auch immer daran, daß die Kurden als Spielball der Mächtigen für eigene Interessen mißbraucht wurden. Die Beziehungen zu diktatorischen oder fundamentalistischen Regimen wurden nie von deren Situation der Menschenrechte abhängig gemacht. Obwohl Irak den Krieg gegen Iran begann, wurde die Aggression Iraks unterstützt und der Irak mit westlicher Hilfe auf militärisches Gleichgewicht gegen den fundamentalistischen Iran hochgerüstet. Die dann folgenden gleichzeitigen Waffenlieferungen an Irak und Iran waren nicht nur dem erhofften Profit der Rüstungsexporteuere zuzuschreiben, sondern erfolgten aus dem Interesse, durch anhaltende Kämpfe beide Länder langfristig zu destabilisieren. Das Kriegsende wurde vom Westen, insbesondere den USA bestimmt. Nach 10jährigem Krieg, als sich beide gleichermaßen geschwächt gegenüberstanden, wurde der Irak durch westliche militärische Unterstützung in die Lage versetzt, Iran zur Kapitulation zu zwingen.

Die ANFAL Offensive Saddam Husseins gegen die Kurden im Irak

Die Vernichtungspolitik der Baath-Partei gegen die Kurden im Irak hatte keinerlei einschränkende Konsequenzen auf die Beziehung zu dem allein wegen seiner Ölvorkommen interessanten Land. Die überwiegend im Norden lebende Kurdische Bevölkerung wurde zwangsumgesiedelt, Tausende von ihnen verschwanden in später entdeckten Massengräbern, zerbombte kurdische Dörfer wurden vermint, um eine eventuelle Rückkehr zu verhindern. Folterzentren fanden sich in fast jedem Keller der saddamtreuen Baathisten. Selbst als die Bilder von Halabja um die Welt gingen, führte dies nicht zu einem Abbruch der Beziehungen. Die Bundesregierung bestritt jeden Hinweis auf die deutsche Beteiligung und Unterstützung an der Giftgasproduktion Saddam Husseins. Widergutmachungsansprüche der Überlebenden wurden niedergeschlagen -wie auch Anfang 1994, sechs Jahre nach dem Giftgaseinsatz, die Darmstädter Prozesse gegen die Händler des Todes folgenlos auszugehen droht.

2. Golf-Krieg Irak /Kuwait

Ein Sinneswandel  - wiederum von Wirtschafts- und vor allem Ölinteressen geprägt - erfolgte mit der Besetzung Kuwaits durch Irakische Truppen, "Desert Storm", der Krieg der Anti-Saddam Allianz, wurde mit dem Argument geführt, man könne die völkerrechtswidrige Grenzverletzung nicht ungestraft geschehen lassen. Wo hätte man unter diesem Gesichtspunkt damals nicht überall intervenieren müssen - vor allem gegen die USA?

"Desert Storm" hatte viele Nebenaspekte: nicht nur die innenpolitische Situation in den USA erforderte einen  militärischen Schlag gegen den Aggressor. Auch Militärs wollten die günstige Gelegenheit nutzen, einsatzbereite high-tech-Waffen erstmals zu erproben.

Die deutsche Außenpolitik erhoffte sich durch logistische und finanzielle Unterstützung der Anti-Saddam-Allianz auch für die Zukunft ein Mitspracherecht für die Region des Mittleren und Nahen Ostens zu erkaufen. Denn auch Kohl war und ist klar: trotz des Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern gehört  der immer wieder aufflammende Brennpunkt auch heute nicht zu den sogenannten "befriedeten Regionen". Daß es trotz massiver Kriegsunterstützung aus Deutschland zu offener Kritik vor allem aus den USA - an der deutschen Rüstungsexportpolitik und Kooperation mit Irak kam, war eher Ausdruck bündnisinterner Differenzen und die Bundesregierung reagierte zunächst wie die beleidigte Leberwurst.  Anfänglichen Dementis und gegenseitige Schuldzuweisungen bereitete der ehemalige Außenminister Genscher ein geschicktes Ende: er begab sich auf die Suche nach den schwarzen Schafen der deutschen Rüstungsindustrie. Nach monatelangen Beratungen wurde vom Bundestag eine Verschärfung des AWG verabschiedet. Seitdem ließ Deutschland keine Gelegenheit aus, auf internationalem Parkett der politischen Sonntagsreden die in Europa einmalig restriktive Rüstungsexportpolitik zu rühmen. Diese Exportpolitik änderte allerdings nichts daran, daß Deutschland heute einen der Spitzenplätze der Rüstungsexportländer erreicht hat. Das Hauptproblem, nämlich die legalen Rüstungsexporte, wurden nicht thematisiert. Nach Ansicht von Mitgliedern der Koalition sollen die damals getroffenen Beschränkungen jetzt revidiert werden.

Schutzzone für die irakischen Kurden - ein leidiges Übel und Feigenblatt

Nach der militärischen "Befreiung" Kuwaits und anfänglicher Ermutigung des kurdischen Widerstandes gegen Saddam, überwog letztlich der Wunsch der Alliierten, eine "Libanisierung" der Region durch eine Teilung Iraks (im Süden Schiiten, im Norden Kurden) zu verhindern. Die Kriegsallianz ließ Saddams Truppen gewähren, als sie sich zum Rachefeldzug gegen die Kurden im Norden formierten. Erst angesichts des im Fernsehen dokumentierten Elends der während der Massenflucht erfrierenden und verhungernden Kurden entschloss man sich, das humanitäre Gesicht zu wahren und einzuschreiten.

Die im April 91 auf Vorschlag des damaligen türkischen Staatspräsidenten Özal von der UNO getroffenen Maßnahmen zur Einrichtung einer Schutzzone nördlich des 36. Breitengrads und die Operation "Provide Comfort" haben  die irakischen Kurden zwar vor einem Massensterben bewahrt. Der Preis dafür aber ist die bis heute anhaltende Abhängigkeit der autonomen Region vom Good Will der Türkei und der Westalliierten.

Die Schutzzone verhindert zwar massive Angriffe der irakischen Luftwaffe. Dennoch sehen die "Beschützer" tatenlos den immer häufiger stattfindenden Luftangriffen der türkischen Luftwaffe sowie iranischen Militärs auf südkurdisches Gebiet zu. Daß wenige Kilometer neben dem Stationierungsort der alliierten "Beschützer' eine 'Militäroffensive der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei durchgeführt wird, die immer mehr die von Saddam Hussein angewandten Mittel des versuchten Völkermordes nun vom NATO-Partner Türkei  praktizieren, wird ignoriert. Alle Versuche des erstmals frei gewählten kurdischen Parlaments im Norden Iraks, das doppelte Embargo (sowohl das Embargo Saddam Hussein gegen Südkurdistan als auch das der UNO gegen Irak) aufzuheben, sind bislang gescheitert. Hilfe kommt wohldosiert in zu kleinen Rationen auch aus Deutschland. Das Auswärtige Amt rühmt sich der humanitären Hilfe (wie übrigens auch die Türkei). Ein Beauftragter des Auswärtigen Amtes hat seinen bezahlten Job in Südkurdistan; vor allem rotgrüne oder SPD geführte Landesregierungen finanzieren  Schulprojekte und vieles mehr. Spricht man sie auf die fatale Lage der von der Vernichtung bedrohten Kurden in der Türkei an, verschließen sie Augen und Ohren. Die bundesdeutsche Sozialdemokratie läßt sich nur ungern daran erinnern, daß ihre türkische Schwesterpartei in Regierungsverantwortung und damit auch Verantwortung der menschenverachtenden Politik steht.

Der NATO-Partner Türkei im Kriegszustand

Beim jüngsten Gipfeltreffen zwischen der türkischen Staatspräsidentin Ciller, Außenminister Kinkel und Hurd (England) bestätigte Kinkel, daß er an dem labilen Zustand der irakischen Kurden nichts ändern wolle und daß die Schutzzone dort ein einmaliges Modell sei, das nicht auf die Türkei übertragen werden soll. Deutschland hat die Erwartungen der Türkei erfüllt: Die gegenseitigen Geschäfte im Rüstungs- und Wirtschaftsbereich wurden intensiviert. Die Türkei kann die immensen Kriegskosten und Staatsterror im eigenen Land nur mit Unterstützung von außen finanzieren. Mit dem von Innenminister Kanther im Herbst 93 erlassenen Verbot der PKK sowie weiterer 35 kurdischer Vereine in Deutschland hat die Bundesregierung die "Terrorismusargumentation" der Türkei auch offiziell übernommen. Es gibt kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terrorismusproblem, die PKK. Und das, so hat auch die NATO im Januar 94 entschieden, muß notfalls militärisch gelöst werden.

Was die so gemeinsam betriebene Bekämpfung des Terrorismus bedeutet, dokumentieren Berichte der Menschenrechtsvereine: über 800 zerstörte kurdische Dörfer, 1,7 Millionen "Inlandsflüchtlinge", gezielte Ausschaltung der kritischen Öffentlichkeit und prokurdischen Politiker durch Todesschwadrone.

Geschichte wiederholt sich nicht -aber die Fehler

Syrien, ehemals zusammen mit Libyen an der Spitze der Staatsfeinde und als den Terrorismus unterstützende Regime sanktioniert, ist heute auf die Rangliste der befreundeten Staaten Amerikas gehoben worden. Daß auch in Syrien die Kurdinnen, die sich der brutalen Arabisierungspolitik des Regimes widersetzen, verschleppt und spurlos in den Gefängnissen des Präsidenten Assad verschwinden, spielt keine Rolle.

Ebenso wird den in der islamischen Republik Iran lebenden Kurden das Recht auf nationale Selbstbestimmung mit brutaler Gewalt verweigert. Seit 1979 bemüht sich das Mullah-Regime in Teheran die Opposition der Kurden mit Waffengewalt zu unterdrücken. Tausende wurden Opfer der militärischen Feldzüge durch die iranische Armee, Folter und Gefängnis sind grausamer Alltag in jenem Land, das immer häufiger deutschen Staatsbesuch empfängt, weil wirtschaftliche Beziehungen bis hin zur atomaren Kooperation vertieft werden sollen. Die geheimdienstliche Zusammenarbeit mit Iran wurde trotz der  Ermordungen oppositioneller Kurden im Ausland (Dr. Ghassemlou 1989 in Wien und Dr. Sharafkandi 1992 in Berlin) nicht beendet. An der Aufklärung der Morde hat niemand Interesse.

Fehler der Vergangenheit werden wiederholt und führen gegenwärtig den Weg in die nächsten Kriege und Vernichtungskämpfe. Die Arabische Welt als treuer Diener der Westalliierten während des. 2. Golf Krieges wurde vor allem von den USA militärisch ausgerüstet wie früher der Irak. Waffenlieferungen an Griechenland und Türkei nähren den bestehenden Krisenherd zwischen beiden Staaten.

Deutsche Gründlichkeit - Irrtum ausgeschlossen

Wer trotz der auch bei uns herrschenden Zensur von den alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, von der Not und dem Widerstand des kurdischen Volkes hört, erkennt  hinter den diplomatisch geschulten Menschenrechtsfratzen unserer Politiker die tatsächlichen Interessen. Deren Blick ist in die Zukunft gerichtet: auf die Brückenkopffunktion des NATO-Partners Türkei zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent. Dahinter steht die Analyse, daß vor allem die Türkei als militärisch strategisch wichtiger NATO Partner über die Waffe der Zukunft gegen den Krisenherd im Nahen Osten verfügt: das Zweistromland allein kann darüber entscheiden, ob der Wasserhahn geöffnet oder geschlossen wird.     

Um ein Mitspracherecht hierüber zu erlangen, scheut sich Deutschland nicht, neben der Finanzierung von Rüstungsgeschäften über Hermes Bürgschaften nun auch die Waffe der Zukunft, Wasser, mit Vergabe von Hermes Bürgschaften zum Bau von gigantischen Staudämmen in der Türkei zu finanzieren und zukünftigen Einfluß auf diese Waffe abzusichern.

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Angelika Beer ist Verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.