Rüstungskontrolle und Abrüstung bleiben weit hinter den seit dem INF-Vertrag geschürten Erwartungen zurück

von Andreas Zumach

Als Gorbatschow und Reagan vor zweieinhalb Jahren, im Dezember 1987 in Washington den INF-Vertrag über die Beseitigung ihrer landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen unterzeichneten. Galt dies weithin als großer Durchbruch und Einstieg in eine Abrüstungsdynamik zumindest zwischen West und Ost. Die Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt. Kurz vor dem Washingtoner Gipfel zwischen Bush und Gorbatschow, der sich nach bisherigen Ankündigungen wesentlich mit Abrüstungsfragen beschaftigen sollte, liegt an keinem der derzeitigen Verhandlungstische ein unterschriftsreifes Ergebnis vor. Was möglicher weise noch beim Vorbereitungstreffen zwischen den Außenministern Baker und Schewardnadse am 16./17. Mai zur Unterschrift durch die beiden Präsidenten fertiggestellt wird, bleibt weit hinter bisherigen Ankündigungen und vor allem abrüstungspolitischen Notwendigkeiten zurück. Die Schuldzuweisungen an die Adresse Moskaus haben inzwischen längst begonnen.

"Moskau stellt neue Forderungen bei Abrüstungsverhandlungen", "Verhärtung der sowjetischen Position", "Sinkende Kompromisbereitschaft des Kremel", "Militärs korrigieren Gorbatschows Kurs" - so und ähnlich stand es in den letzten Wochen in zahlreichen Berichten über die Verhandlungen in Wien, Genf und Budapest. Angefangen hatte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 29. März mit einer Tietelgeschichte ihres Bonner Korrespondenten Feldmeyer. Der berichtete unter Berufung auf westliche Diplomaten bei den Wiener VKSE-Verhandlungen, die Sowjetunion sei dort vom Motor zum "Bremser" geworden und nicht mehr bereit, ein Wiener Abkommen zu unterschreiben, bevor nicht ikm Rahmen der 4+2-Gespräche über die deutsche Vereinigung eine substantielle Begrenzung der Bundeswehr vereinbart ist. Die Bundesregierung erklärte Ende April auf eine Anfrage der Grünen, daß sie die in dem FAZ-Artikel gemachten Angaben nicht bestätigen könne.
Einige US-Blätterberichteten seitdem Ähnlich über das sowjetische Verhalten bei den Genfer START-Verhandlungen mit den USA sowie bei der zweiten "Open-Skies"-Runde zwischen den 23. NATO- und Warschauer Vertragsstaaten in Budapest.

Sicher gibt es Anzeichen dafür, daß in der Roten Armee die Unruhe über die Entwicklungen wächst; auf die nun seit 1987 eingeleiteten einseitigenAbrüstungsmaßnahmen Moskaus hat der Westen außer mit beifälliger Rhetorik bis heute nicht reagiert; dem Zerfall des Warschauer Vertrages steht keine entsprechende Entwicklung auf Seiten der NATO entgegen; bei den 4+2 Gesprächen, in deren Verlauf die UdSSR alle ihre Rechte als Siegermacht des 2. Weltkrieges aufgeben soll, beharren die westlichen Staaten - seit dem 18. März unterstützt von der DDR - auf Maximalpositionen (Verbleib Gesamtdeutschlands in der NATO etc.) und sind nicht bereit, in diesem Rahmen oder schon in einem ersten Wiener VKSE-Abkommen Vereinbarungen über für Moskau so existentiell wichtigen Fragen wie die künftige Größe einer deutschen Armee zu treffen. Diese Situation hat - zumal vor dem Hintergrund sich verschärfenden Nationalitätenkonflikte und massiver Wirtschaftsprobleme in jüngster Zeit zu einigen öffentlichen Äußerungen sowjetischer Militärs geführt, die von der offiziellen Regierungslinie abweichen. Kritische Äußerungen, wie sie seit neuestem auch von Generälen und Stabchefs in den USA gegenüber der im Weißen Haus beschlossenen politischen Linie zu hören sind. Das ist zwar auch  in den USA ein ungewöhnlicher Vorgang, hat aber bislang nicht zu Spekulationen geführt, die Militärs hätte die bisherige Politik Bushs und Bakers korrigiert.

Belege für die entsprechenden Behauptungen bezüglich der sowjetischen Politik lassen sich bei genauer Prüfung des Standes und bisherigen Verlaufes der verschiedenen Rüstungskontrollverhandlungen nicht finden. Die jetzt als "neue Bedingungen" bezeichneten Postionen Moskaus in den noch ungeklärten Bereichen eines START-Abkommen sind keineswegs neu; die UdSSR hat seit Begihnn der GEnfer Verhandlungen die Einbeziehung seegestüzter Cruise Missiles gefordert, die USA, deren interkontinentales Arsenal sich überwiegend auf Schiffen und U-Booten sowie Flugzeugen befindet, haben dies immer abgelehnt. Der jetzt von Washington vorgelegte kompromißvorschlag einer unverbindlichen Absprache außerhalb des Vertrages lediglich über einen Teil dieser Waffenkategorie und ohne jede Kontroll- und Verifikationsmöglichkeit ist für Moskau nicht ausreichend. Die sowjetische Haltung findet übringens volle Unterstützung durch den ehemaligen Chefunterhändler der Paul Warncke, der sich in einem taz-Interview für die volle Einbeziehung der seegestützten Cruise Missiles in ein Abkommen plädierte und der Behauptung neue Moskauer Bedingungen bei START widersprach.
Auch die unterschiedlichen Positionen über die Reichweite, ab der flugzeuggestützte Cruise Missiles und Raketen von einem START-Abkommen begrenzt werden sollen (UdSSR: ab 600 km; USA: ab 1.500 km) lagen von Anfang an auf dem Genfer Tisch. Der jüngste Kompromißvorschlag Washingtons (1.000 km) löst das Problem Moskaus nicht, daß mit dieser Reichweite nach wie vor Ziele im Hinterland der UdSSR von in Westeuropa stationierten Flugzeugen erreicht werden können. Die Frage ist von beiden Seiten lange Zeit öffentlich nicht in den Vordergrund gestellt worden. Durch die Planungen der NATO zur Stationierung weitreichender atomarer Abstandsraketen auf Flugzeugen in Westeuropa erhält sie neue Brisanz. Die UdSSR hat im Laufe der START-Verhandlungen schließlich auf jegliche Verknüpfung eines Abkommens mit der SDI-Problematik und dem Raketenabwehrvertrag (ABM) von 1972 verzichtet. Die USA haben hier jetzt völlig freie Hand. Während Washington auf der Ausklammerung seegestützter Arsenale Beharrt und bei Bombenflugzeuge und ihrer Bewaffnung eine Zählweise durchgesetzt hat, durch die 75% der atomaren Sprengköpfe von einem Vertrag unberücksichtigt bleiben, ist Moskau zur 50% Reduzierung seiner wichtigsten Arsenale, dar von Washington als "Hauptbedrohung" empfundenen landgestüzten Interkontinentalraketen (SS 18 u.a.) bereit. Die Bush-Administration versucht jetzt, dies dem Kongreß und der amerikanischen Öffentlichkeit als "großen Erfolg" der START-Verhandlungen zu verkaufen. Doch das reicht nicht aus, um die Tatsache zu verschleiern, daß der START-Vertrag nach jetzigem Verhandlungsstand insgesamt nur eine knapp 15% Reduzierung statt der seit versprochenen Halbierung der Arsenale beider Großmächte bringen wird. Bush ist in Erklärungsnöten, zumal vor dem Gipfel mit Gorbatschow Anfang Juni, der dieses magere Ergebnis für alle Welt offensichtlich machen wird. Die Legendenbildung von einer Verhärtung der sowjetischen Position dient der Schuldzuweisung im Vorfeld des Gipfels.
Ähnlich verhält es sich bei den Chemiewaffen. Haupthindernis bei den multilateralen Verhandlungen für ein weltweites Verbot dieser Massenvernichtungsmittel im Rahmen der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz ist seit Jahren die Weigerung Washingtons, die eigene Binärwaffenproduktion einzustellen, bzw. bereits produzierte Vorräte entsprechend vertraglich vorgesehen Fristen zu vernichten. Unter Verweis auf diese Haltung der USA sowie auf regionale Bedrohungen rechtfertigt eine wachsende Zahl von "Drittwelt"-Staaten eine Option auf eigene C-Waffen - was wiederum dem Pentagon zur Begründung für die auf unabsehbare Teit notwendige Aufrechterhaltung eines "einsatzfähigen binären Abschreckungspotentials" dient. Bei den parallel laufenden bilaterlen C-Waffenverhandlungen haben Moskau und Washington zwar bereits im Herbst letzten Jahres einen inzwischen abgeschlossen Datenaustausch sowie Inspektionen ihrer Vorräte im eigenen Land vereinbart. Doch die Fertigstellung einer Vereinbarung über die Vernichtung der rund 32.000t US-amerikanischer und 50.000t sowjetischer Kampfstoffe runter auf jeweils 5.000t scheitert bisland ebenfalls an Washingtons Weigerung, bei Inkrafttreten dieser Vereinbarung auch die Binär-waffenproduktion einzustellen. Auch des ist keine neue sowjetische Forderung, sondern sie lag bereits in der ersten von inzwischen 15 Verhandlungsrunden auf dem Tisch. Finden die beiden ußenminister Baker und Schawardnadse bei ihrem Treffen am 16./17. Mai nicht noch einen Kompromiß, dürfte beim Washingtoner Gipfel keine C-Waffenvereinbarung unterschrieben werden.

Die Hauptprobleme bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Waffen in Europa (VKSE) im Frühjahr 1990 waren auch schon die Hauptprobleme im September 1989; Truppenstärken und Kampfflgzeuge. Die Weigerung der NATO-Staaten, schon in einem ersten Wiener Abkommen außer für US- und SU-Truppen in Zentraleuropa auch für die Streitkräfte anderer Staaten Vereinbarungen über Personalstärken zu treffen, ist angesichts der inzwischen eingetretenen mitteleuropäischen und deutsch-deutschen Entwicklungen noch problematischer für die UdSSR und die meisten anderen Staaten der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) als noch vor acht Monaten. Die Position Moskaus, bestimmte Militärflugzeuge aus der Vertragskategorie "Kampfflugzeuge" heraushalten zu wollen, bzw., in dieser Kategorie sehr viel höhere Obergrenzen zu verlangen als die NATO, ist aus abrüstungspolitischer Sicht abzulehnen und wird auch von Moskaus Bündnisländern nicht geteilt. Allerdings wird bei der Darstellung dieser Problematik zumeist unterschlagen, daß die NATO durch Erhöhungen ihres Kampfflugzeugbestandes auf dem Papier wie de facto durch Verlegungen aus den USA nach Westeuropa im Sommer letzten Jahres sichergestellt hat, daß bei einer Einigung auf die von ihr vorgeschlagene Obergrenze von 4.700 lediglich ältere Modelle und kein einziges der modernen Westlichen Kampfflugzeuge verschrottet werden müßte. Nicht, wie behauptet, sowjetische Verhärtungen, sondern das technologische Gefälle zwischen West und Ost sowie die mangelnde Bereitschaft der NATO-Staaten zu vollständiger Transparenz auch über das eigene Bündnis hinaus sind der Grund für das vorläufige Scheitern der "Open Skies"-Konferenz, deren zweite Runde am 10. Mai in Budapest ohne den angepeilten Vertrag zu Ende ging. Obwohl sie als politisches Ziel eines Abkommens über die "offenen Himmel" die "Vertrauensbildung" betonen, zeigen sich die NATO-Staaten nicht bereit, künftig bei Aufklärungsflügen über WVO-Staaten gewonnene Erkenntnisse nicht nur den eigenen Bündnispartnern, sondern auch der anderen Seite zur Verfügung zu stellen. Der sowjetische Wunsch, wonach das jeweils zu überfliegende und nicht das überfliegende Land die eingesetzten Flugzeuge und Auflärungstechnologien bestimmen soll, läßt sich natürlich leicht als "Rückfall in Geheimniskrämerei" brandmarken. Bei dieser Kritik bleibt jedoch zumeist unerwähnt, daß die NATO-Staaten modernste Technologien einsetzen können, die genaue Aufklärung auch bei Nacht oder Unwetter erlauben, die UdSSR - und noch weniger die anderen WVO-Staaten - über diese Technologien aber bislang nicht verfügen. Das ist ein Ergebnis nicht zuletzt der jahrzehntelangen westlichen COCOM-Listen-Politik.

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