Die Spannungen um die Ukraine - eine Konfliktanalyse

Russland-Ukraine

von Otmar Steinbicker

Die Problematik der aktuellen Spannungen zwischen Russland und der NATO liegt vor allem darin, dass wir es mit einem komplizierten Geflecht verschiedener Themenstellungen und verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Interessen zu tun haben. Die Situation unterscheidet sich damit deutlich von früheren Spannungszeiten des Kalten Krieges.
Es gibt dabei mehrere Themenkomplexe, von der Rivalität zwischen USA und China über die Auswirkungen des Klimawandels, die Gefahr eines Atomkriegs bis hin zu dem, was in der Ukraine passiert.

Mehrere Akteure
1. Russland. Das Land steht geostrategisch vor erheblichen Herausforderungen. Es ist militärisch mit seinem Atomwaffenpotenzial eine Weltmacht, gleichzeitig jedoch wirtschaftlich schwach. Seine Wirtschaftskraft ist vergleichbar der Italiens. Seine relative wirtschaftliche Stärke besteht im Export von Gas und Öl, die im Zuge der durch den Klimawandel erzwungenen Energiewende tendenziell an Bedeutung verlieren. Zugleich birgt der Klimawandel das Problem des Auftauens des Permafrostbodens mit sich, der erhebliche CO2-Mengen freisetzen dürfte. Sicherheitspolitisch sieht Russland perspektivisch die Gefahr der Stationierung von US-Atomraketen in unmittelbarer Grenznähe. Obendrein steht Russland vor erheblichen innenpolitischen Problemen durch Putins autoritäre Politik. Putin möchte gerne UdSSR-Weltmacht spielen und sich auf keinen Fall mit dem Status einer Regionalmacht zufriedengeben oder sich China als dominierendem Partner unterordnen. Wenn sich mit Militäraufmärschen direkte Gespräche mit den USA erzwingen lassen, wie der erste Putin-Biden-Gipfel im Mai 2021 und folgende, mögen sie aus Moskauer Sicht offenbar als nützlich erscheinen. Dass Russland jedoch einen größeren Krieg um die Ukraine mit unkalkulierbaren Verlusten riskiert, ist unwahrscheinlich.
2. USA. Das Land sieht sich seit langem von China in der Rolle des Hegemons herausgefordert und will sich auf diesen Konkurrenzkampf politisch, wirtschaftlich und militärisch konzentrieren. Die Partner in EU und NATO sollen diesen Kurs aktiv mittragen. Russland soll dabei auf keinen Fall an die Seite Chinas gedrängt werden. Ein solches Szenario wäre aus Sicht der USA hochgefährlich. Widerstrebende Interessen der europäischen Partner machen die Durchsetzung eines solchen Kurses schwierig, und Russland nutzt seine Chance und stellt Ansprüche an die USA, um dabei mitzuspielen. Gemeinsam mit Russland, möglichst auch mit China, wird eine atomare Rüstungsbegrenzung, eventuell auch Abrüstung angestrebt. Dazu laufen bereits seit Monaten Verhandlungen auf Expertenebene mit Russland.
3. EU. Die EU-Staaten sehen die USA nicht mehr als zwingend zuverlässigen transatlantischen Partner an und fürchten obendrein eine Wiederwahl Trumps oder eines vergleichbaren Präsidenten. Von daher gibt es Bestrebungen, vorangetrieben durch Frankreichs Präsident Macron, die europäische Sicherheit – auch mit Atomwaffen – in die eigene Hand zu nehmen und sich nicht mehr auf die USA zu verlassen. Zugleich gibt es innerhalb der EU heftige Differenzen – sowohl zwischen Nord und Süd um das Thema Staatsverschuldung als auch zwischen West und Ost im Hinblick auf wachsenden Nationalismus.
4. NATO. Das Bündnis hat seit dem Ende des Warschauer Paktes Probleme mit seiner Eigendefinition. Als „Verteidigungsbündnis“ benötigt es einen Feind, gegen das es sich „verteidigen“ muss, ansonsten ist es unnötig und zerfällt an inneren Widersprüchen. Zwischen 2001 und 2013 mussten die Taliban als Feind und damit Klammer herhalten. Vorschläge für eine Friedenslösung wurden von Politiker*innen und Militärs mit dem Hinweis zurückgewiesen: „Dann zerbricht die NATO“. Seit 2014 dient Russland wieder als Feind. Russlands finanziell eher bescheidener Militäretat von 61,7 Mrd. Dollar (Deutschland: 52,8 Mrd. Dollar, USA 778 Mrd. Dollar) in 2020) reicht dabei nicht für eine Begründung steigender NATO-Rüstungsausgaben. Da muss dann abweichend von einer realistischen „Bedrohungsanalyse“ eine Steigerung per 2 % vom BIP herhalten. Angesichts der aktuellen Zuspitzung der Spannungen um die Ukraine findet die NATO schnell wieder zusammen und warnt Russland.
5. Ukraine. Die Regierung besteht auf der Rückgabe der Krim, unternimmt aber bisher keine ernsthaften Schritte zu einer Rückeroberung, unterbricht allerdings die Wasserversorgung. In dem vor allem von Kanzlerin Merkel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) ausgehandeltem Minsk-2-Abkommen von 2015 zur Befriedung der Ostukraine wurde für die von Russland unterstützten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk ein Autonomiestatus in Aussicht gestellt. Doch dieser zentrale Punkt wurde nicht umgesetzt. Damit kann es dort keine Friedenslösung geben. Stattdessen droht die ukrainische Regierung mit der Rückeroberung der Gebiete und zieht auch Truppen zusammen. Die Separatisten ihrerseits stören immer wieder die im Abkommen verankerten Kontrollen der Waffenstillstandsvereinbarungen durch die OSZE. Bisher starben circa 14.000 Menschen bei Kampfhandlungen um die Ostukraine.
6. Deutschland ist in diesem Konflikt hin und hergerissen. Es ist noch auf absehbare Zeit abhängig von russischem Gas. Das erfordert Zurückhaltung. Andererseits will zumindest die Außenministerin keine deutsche Sonderrolle bei der Vermittlung mit Russland spielen, sondern sich auf eine gemeinsame EU- und NATO-Linie zurückziehen. Das wäre eine Abkehr von jahrzehntelanger Regierungspolitik unter Kanzlerin Merkel.

Mögliche Szenarien:
Großer Krieg: In einigen Medien bis hin zur FAZ wird über ein großes Kriegsszenario spekuliert, wonach Russland womöglich gar Europa bedrohen könnte.
Was Russland angeht, muss man nicht darüber spekulieren, was es womöglich will oder nicht. Da reicht es aus, zu betrachten, was es kann. Dafür, einen großen Krieg zu führen, ist Russland schlicht ökonomisch zu schwach. 
Ein alles vernichtender Atomkrieg könnte auch von Russland aus gestartet werden, wäre aber ein im wahrsten Sinne „todsicheres“ Selbstmordprogramm. Eine solche Absicht zu unterstellen, führt nicht weiter. Ein Krieg wird begonnen, wenn der Angreifer sich davon einen Sieg oder zumindest einen Gewinn verspricht. Ob solche Erwartungen am Ende aufgehen, muss sich gegebenenfalls später zeigen. Ein eindeutig absehbares Selbstmordprogramm zu starten, ist extrem unwahrscheinlich.
Was die Ukraine angeht, so haben bereits die USA und die NATO erklärt, dass sie der Ukraine keinen militärischen Beistand leisten wollen. Hier droht somit keine unmittelbare Eskalation zwischen Russland und der NATO.
Aktuell kündigen die USA und die NATO eine Verstärkung ihrer Truppen in den osteuropäischen NATO-Staaten an. 8500 Soldaten und einige wenige Schiffe sind da allerdings eine eher symbolische Geste.
Eine weitere Eskalation bleibt dennoch nicht ausgeschlossen, schon gar nicht bei provokativen Akten der einen oder anderen Seite, die auf der jeweiligen Gegenseite fehlinterpretiert und mit scharfen Reaktionen ihrerseits eskaliert werden können. Dass aber eine solche Eskalation selbst bei einem Flugzeugabschuss zu einem Auslöser eines großen Krieges werden könnte, erscheint derzeit eher ausgeschlossen. Das muss aber nicht für die Ewigkeit festgeschrieben bleiben.
Derzeit scheint allen Seiten klar zu sein, dass ein großer Krieg aus reinem Überlebenswillen vermieden werden muss. Das schließt kleinere, überschaubare und begrenzbare militärische Konflikte nicht aus. Das Restrisiko, dass auch vermeintlich kleinere, überschaubare Konflikte eskalieren können, ist dabei allen Seiten bewusst.
Russische Provokationen mit Militärflugzeugen, die unter Ausschaltung des Transponders, der eine Verifikation ermöglicht, Kurs auf NATO-Territorium, u.a. Großbritannien nahmen und kurz vor Erreichen des Hoheitsgebietes abdrehten, sind seit Jahren bekannt und führten bisher glücklicherweise nicht zu Überreaktionen auf westlicher Seite. Auch Russland klagt über Provokationen der Gegenseite. Solche Provokationen bleiben aber letztlich immer gefährlich.
Begrenzter Krieg: Russland hat 2014 die Krim militärisch besetzt und anschließend annektiert. Auch unterstützt Russland die Separatisten in der Ostukraine mit Waffen und eigenem Militärpersonal. Lässt sich daraus auf Interesse Russlands an weiteren militärischen Besetzungen ukrainischen Territoriums schließen?
Die Situation 2022 ist nicht vergleichbar mit 2014. Damals fürchtete Russland, den strategisch überaus wichtigen Kriegshafen in Sewastopol zu verlieren. Das hätte das Ende jeglicher Großmachtambitionen bedeutet. Daher entschloss sich die russische Regierung, in einer Blitzaktion mit „grünen Männchen“ russischer Spezial-Streitkräfte vollendete Fakten zu schaffen und die gesamte Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bringen. Aufgrund der ethnischen Konfliktlage in der Ukraine konnte man sich dabei einer Zustimmung mindestens aber einer Duldung der Mehrheit der auf der Krim lebenden Bevölkerung sicher sein.
Nicht nur die Unmöglichkeit eines Überraschungsangriffs der heute unter ständiger US-Satellitenbeobachtung stehenden russischen Truppen, auch andere zu berücksichtigende Faktoren sprechen gegen einen russischen Einmarsch. Zu erwartende scharfe westliche Sanktionen kämen noch hinzu. Russland hätte mit einem Einmarsch nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren.
Drohgesten: Bei allen berechtigten Sicherheitsinteressen, die in Verhandlungen unbedingt zu berücksichtigen sind, hat sich Putin wohl mit seinen Drohgesten verzockt und die Einigkeit der NATO ungewollt und unnötig gestärkt. Da müssen jetzt Russland und die USA einen diplomatischen Ausweg finden. 
Dass ein großer Krieg keine Lösung, sondern nur das existenzielle Ende bietet, wissen beide. Die USA wissen darüber hinaus auch, dass sie nicht riskieren dürfen, dass Russland in ihrem für sie wesentlicheren Konflikt mit China auf der anderen Seite steht. Russland weiß, dass die USA das wissen und testet den Preis dafür aus. Das macht die aktuelle Entwicklung spannend.

Russische Innenpolitik
Zu berücksichtigen sind darüber hinaus auch Aspekte russischer Innenpolitik. Putin möchte sich gerne als Sieger oder zumindest als „starker Mann“ inszenieren, um verlorenes Ansehen, das bei den letzten Wahlen in Russland deutlich wurde, zurückzugewinnen. Dass es in Russland seit dem verlorenen Afghanistankrieg der 1980er Jahre keine Kriegsbegeisterung gibt, sondern eine Vielzahl toter Soldaten befürchtet wird, ist der Regierung bekannt. Wie sie das gescheiterte Drohszenario einigermaßen gesichtswahrend beenden kann, muss sich zeigen.
 

Ausgabe

Rubrik

Im Blickpunkt

Themen

Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de