Das gesellschaftliche und friedenspolitische Engagement der Gemeinschaft Sant’Egidio

Sant’Egidio: Für den Frieden leben

von Tobias Müller

Um den Frieden aufzubauen, braucht es eine weltweite Kultur des Friedens, eine Friedensbewegung, die möglichst viele Menschen guten Willens miteinbezieht – angefangen bei den Kindern und Jugendlichen. Die Gemeinschaft Sant’Egidio geht diesen Weg an vielen Orten der Welt, teilsweise in Regionen voller Spannungen und Konflikten wie in der Ukraine oder in Kivu: Im Einsatz für die Armen und den Frieden in den Gesellschaften, durch ihre Friedensvermittlungen zwischen Regierungen und bewaffneten Gruppen, sowie mithilfe eines weiten Netzwerks und einem konkret gelebten Dialog, der jährlich im Zuge der interreligiösen Friedenstreffen seinen sichtbaren Ausdruck findet.

Heute ist Sant’Egidio eine weltweite Bewegung in über 70 Ländern mit mehr als 70.000 Mitgliedern. Ihr unentgeltlicher Einsatz besteht darin, Menschen am Rande (Straßenkinder, Gefangene, Obdachlose, alte Menschen, Flüchtlinge) zu begleiten, Brücken zu bauen zwischen den Menschen, die getrennt voneinander leben wie Fremde und Einheimische, Ältere und Jüngere, Menschen aus verschiedenen Milieus. Sant’Egidio versucht, einen Beitrag zu einer Gesellschaft und einer Kirche zu leisten, wie sie Papst Johannes XXIII zu Beginn des Konzils beschrieb: „Die Kirche soll die Kirche aller sein, aber besonders der Armen.“ Für Sant’Egidio bilden die Begriffe „Evangelium“, „Freundschaft zu den Armen” und „Frieden” eine Einheit: Prayer, Poor, Peace – so hat es Papst Franziskus auf einen Nenner gebracht. Denn das Evangelium und die Armen besitzen eine Weisheit, die uns eine Kultur des Friedens lehrt.

In vielen Ländern der Erde engagieren sich beispielsweise junge Menschen kostenlos und ehrenamtlich in den „Schulen des Friedens“. In ihnen kommen Kinder und Jugendliche mit den verschiedensten Hintergründen, Kulturen und Religionen zusammen, bekommen schulische Unterstützung und lernen in vielen Aktivitäten, friedlich mit den Anderen zusammenzuleben und den Schwächeren zu helfen. Bei verschiedenen Projekten wird Wert auf die Übernahme von Verantwortung für andere, gewaltfreie Lösung von Konflikten und Offenheit für die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen gelegt. Die Schulen des Friedens erziehen die Kinder im Geiste einer Kultur des Zusammenlebens. Sie leisten einen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und sind auf diese Weise sowohl präventiv (gerade in den europäischen Gesellschaften) als auch im Aufbau einer Friedenskultur nach bewaffneten Auseinandersetzungen (beispielsweise in Ländern wie Mosambik und der Elfenbeinküste) ein Zeugnis für gelebte Solidarität und Inklusion.

Die internationale Friedensarbeit
International bekannt wurde Sant’Egidio durch die Vermittlung des Friedens im mosambikanischen Bürgerkrieg, welcher zu den von der Weltöffentlichkeit weitgehend vergessenen Kriegen in Afrika gehörte. Mosambik war gelähmt. Der Krieg war blutig, beide Seiten kämpften gnadenlos. Es gab grauenhafte Massaker, für die man sich gegenseitig die Verantwortung zuschob. Der Krieg forderte etwa eine Million Tote, 1,7 Millionen Flüchtlinge befanden sich im Ausland, im Land gab es etwa vier Millionen Vertriebene. Der Krieg war zum Dauerzustand geworden, auf den die traditionelle Diplomatie kaum Einfluss nehmen konnte.

In geduldiger, jahrelanger und systematischer Arbeit wurden auf diese Weise Beziehungen zu beiden Bürgerkriegsparteien aufgebaut, die nach zweijährigen Verhandlungen zwischen der Regierungspartei FRELIMO und der RENAMO-Guerilla in Sant’Egidio am 4. Oktober 1992 schließlich im Friedensschluss für Mosambik mündeten. Im geweckten Bewusstsein, als christliche Gemeinschaft potenziell ein authentischer und vertrauenswürdiger Vermittler in besonders schwierigen und festgefahrenen Situationen zu sein, folgten zahlreiche weitere Friedensvermittlungen, von Algerien bis Liberia, von Guatemala bis zur Elfenbeinküste. Im Moment vermittelt Sant‘Egidio unter anderem im Südsduan, im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik und vielen weiteren Kontexten.

Der interreligiöse Dialog
Ein Schwerpunkt von Sant‘Egidio auf internationaler Ebene ist der interreligiöse Dialog. 1986 hatte Papst Johannes Paul II. die Weltreligionen nach Assisi eingeladen, um für den Frieden zu beten. Diese Initiative war in gewissem Sinne prophetisch, da in der Zeit des Kalten Krieges noch eher die Unterschiede der Religionen hervorgehoben wurden, als ihre Bedeutung für den Frieden zu erkennen. Doch Papst Johannes Paul II. hatte eine andere Intuition.

Sant’Egidio hatte das Treffen im Jahr 1986 unterstützt. Für Andrea Riccardi, den Gründer von Sant’Egidio, war es entscheidend, dass dieser „Geist von Assisi“ fortgesetzt werden würde, sodass die Gemeinschaft seit 1987 jährliche Internationale Friedenstreffen an verschiedenen Orten organisiert.

Während die aktuellen Entwicklungen leider erneut von Terror und Gewalt geprägt sind und auf die Gefahr hinweisen, dass nicht gelöste langwierige Konflikte immer wieder zu furchtbarer Gewalt führen können, fand das 37. Internationale Friedenstreffen in der Tradition von Assisi im September 2023 in Berlin statt. Die Religionsoberhäupter und Vertreter*innen aus Politik und Kultur bekundeten erneut, dass sie an den Wert des Dialogs und der Geschwisterlichkeit als entscheidenden Faktor für den Frieden und das Zusammenleben der Völker und Kulturen glauben.

Diese Überzeugung stieß in Berlin auch auf eine besondere Aufmerksamkeit auf politischer Ebene. Dies zeigte sich in der Teilnahme von Bundespräsident Steinmeier an der Eröffnungsveranstaltung und von Bundeskanzler Scholz an einem eigenen Forum, wie auch an der Beteiligung des Präsidenten von Guinea-Bissau, des italienischen Außenministers Tajani und zahlreicher anderer Vertreter*innen.

Eine „Werkstatt des Friedens, die allen offensteht“, so hat Johannes Paul II. am Ende des Friedenstreffens 1986 die Arbeit für den Frieden charakterisiert. Dies wurde in den Tagen von Berlin vor allem auch durch das große Interesse der Bevölkerung und vieler Jugendlicher sichtbar. Über 1.000 Schüler*innen nahmen an verschiedenen Foren mit großer Aufmerksamkeit teil. Bei den abschließenden Gebetsmomenten und der großen Kundgebung am Brandenburger Tor zeigte sich in dem bunten Bild der versammelten Religionsoberhäupter und der weiteren Vertreter*innen die Vision von Assisi, die nichts von ihrer prophetischen Kraft verloren hat und die zahlreiche konkrete Themen im alltäglichen Zusammenleben der Gesellschaften und Völker beinhaltet.
Vom 22.-24. September 2024 wird die nächste Etappe des Internationalen Friedenstreffens in Paris begangen.

Fazit
Es ist der Mensch in extremen Schwierigkeiten, der Sant‘Egidio zum Handeln bewegt. Krankheit, Armut und die Bedrohung des menschlichen Lebens veranlassen die Gemeinschaft zu ihren Einsätzen. Ihre eher diplomatischen oder friedensstiftenden Aktivitäten hängen, jedenfalls was die Motivation und die Ziele betrifft, mit der Arbeit für die Armen und dem sozialen Einsatz von Tausenden von Mitgliedern der Gemeinschaft in unterschiedlichen Ländern zusammen. Der Krieg erscheint daher – wie es oft bei Sant’Egidio heißt – als „Vater aller Armut“. In diesem Sinne hat die Gemeinschaft den internationalen Horizont, die Herausforderung des Krieges, der Armut der Völker und der Gewalt im Blick und ist stets bereit, Anfragen zu erkennen und mögliche Wege zu erforschen.

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Rubrik

Friedensbewegung international
Tobias Müller ist Leiter des Berliner Sant’Egidio-Büros für Internationale Beziehungen, seit seiner Jugend in der Schule des Friedens engagiert und aktuell Teil des Vermittlungs-Teams von Sant‘Egidio für den derzeitigen Friedensprozess im Südsudan.