Friedensbildung stärken durch verlässliche Infrastruktur und innovative Lernformate

Servicestelle Friedensbildung in Baden-Württemberg

von Uli JägerAnne Kruck
Hintergrund
Hintergrund

Seit 2015 gibt es in Baden-Württemberg die Servicestelle Friedensbildung. Das Team der Servicestelle berät interessierte Lehrkräfte, erarbeitet Lernmedien und führt Fortbildungsveranstaltungen oder Schulprojekte durch. Ein Internetportal bietet Informationen und dient als Kommunikationsplattform. (1)

Grundlage für die Einrichtung der Servicestelle ist eine gemeinsame Erklärung zur Stärkung der Friedensbildung, welche vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sowie von 18 Organisationen und Initiativen aus der Friedensbewegung und Friedenspädagogik unterzeichnet wurde. Ziel dieser Erklärung ist es, „die Bedeutung der Friedensbildung in den Schulen zu betonen und sie in den Bildungsplänen als fächerübergreifendes Anliegen stärker zu verankern. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Infrastruktur für Friedensbildung in Baden-Württemberg weiterentwickelt werden.“ (2) Getragen wird die Servicestelle von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Berghof Foundation (mit ihrem Dienstsitz in Tübingen) sowie dem Kultusministerium.

Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums als einem ersten Schritt auf dem langen Weg zur Etablierung von Friedensbildung an Schulen heißt es in einer Broschüre der Servicestelle zur aktuellen Bedeutung der Friedensbildung:

„Friedensbildung,

  1. entwickelt mit (jungen) Menschen Vorstellungen und Modelle eines Zusammenlebens in Frieden;
  2. bestärkt (junge) Menschen darin, eine eigene Haltung zu Frieden und Gewaltfreiheit zu entwickeln und unterstützt sie bei der Suche nach Orientierung in einer sich rasch und manchmal bedrohlich verändernden Welt;
  3. hilft, globale Herausforderungen besser zu verstehen;
  4. macht Mut zum persönlichen und gemeinsamen gewaltfreien Handeln;
  5. fördert Fähigkeiten und Kompetenzen für den gewaltfreien Umgang mit Konflikten und lässt somit Frieden in der eigenen Lebenswelt erfahrbar werden“.  (3)

Für die Umsetzung dieser anspruchsvollen Programmatik kann auf den langjährigen theoretischen und pädagogisch-praktischen Erfahrungsschatz der Friedenspädagogik aufgebaut werden.

Welcher Logik folgt die Friedenspädagogik?
Eine umfassende und doch klar konturierte Definition hat der an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen lehrende Norbert Frieters-Reermann vorgelegt: „Das zentrale Ziel der Friedenspädagogik ist die Befähigung zur konstruktiven und gewaltfreien Konfliktaustragung. Friedenspädagogische Maßnahmen sollen Individuen sowie soziale Gruppen und Systeme in die Lage versetzen, Konfliktdynamiken zu erkennen, Konfliktpotenziale mit friedlichen Mitteln zu bearbeiten und Konflikteskalationen zu vermeiden. Dabei ist die Orientierung an einem prozessorientierten, positiven Friedensbegriff und einer Kultur des Friedens als Leitbild friedenspädagogischen Denkens und Handelns oftmals handlungsleitend.“ (4)

Schule ist mehr denn je als Lern- und Erfahrungsort für gelingendes Zusammenleben gefordert, und Friedensbildung gewinnt in offiziellen Dokumenten an Bedeutung. So heißt es in der Einführung zu dem 2016 verabschiedeten baden-württembergischen Bildungsplan: „Der Bildungsplan 2016 ist angelegt auf vernetztes und nachhaltiges Lernen insbesondere in den Feldern Demokratieerziehung, Friedensbildung und kulturelle Bildung“. (5) Räume für Friedensbildung sind auch wichtig, weil nach wie vor Schulen (auch in Deutschland) Orte sind, wo direkte, strukturelle Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen (Diskriminierung, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit) stattfindet.

In der Friedensbildung geht es daher um die Vermittlung von friedensorientierten Kompetenzen und Fähigkeiten und um die Arbeit an diesbezüglichen Haltungen aller beteiligten Personen - Schulleitungen, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen, Schüler*innen, Eltern und andere Beteiligte. Es gilt im Alltag und mit vielfältigen Methoden alle Sinne anzusprechen: ob in Geschichte, Gemeinschaftskunde oder in den Naturwissenschaften, ob in Sport oder Musik, ob projektorientiert mit theaterpädagogischen Ansätzen oder der Einübung gewaltfreier Kommunikation. Es gilt aber auch, einen ganzheitlichen, die strukturellen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Blick einzunehmen – und dann gegebenenfalls auch die Grenzen friedenspädagogischer Programme wahrzunehmen. Denn es ist auch zu bedenken, dass Friedensbildung (noch) nicht systematisch in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung verankert ist. Es gibt in Deutschland keinen Lehrstuhl für Friedensbildung und keine systematische Förderung friedenspädagogischer Programm- und Projektlinien.

Weiterer Ausbau der Infrastruktur für Friedensbildung
Vor diesem Hintergrund wäre ein weiterer Ausbau der Infrastruktur für Friedensbildung ein Zeichen der Zeit. Dazu gehört in Baden-Württemberg die eingangs erwähnte Servicestelle Friedensbildung oder die 2021 in Niedersachsen eingerichtete Koordinierungsstelle Friedensbildung. Eine verstärkte inhaltliche Auseinandersetzung mit der in der baden-württembergischen Landesverfassung verankerten „Erziehung zur Friedensliebe“ und die pädagogisch-praktische Umsetzung in Gestalt zeitgemäßer Friedensbildung können gerade in herausfordernden Zeiten sinnstiftende Impulse für Schulen setzen. (6)

Angebote der Friedensbildung stärken Lehrkräfte und Schüler*innen darin, Kriege und internationale bewaffnete Konflikte zu verstehen, unterschiedliche Friedensstrategien zu kennen und sich auf eigene Weise für Frieden zu engagieren. Ein aktuelles Beispiel sind die von der Servicestelle kürzlich veröffentlichten Konfliktanalysen zu 18 Ländern weltweit. Die Zugriffszahlen der Website haben sich seitdem verzehnfacht, was auf ein hohes Informationsbedürfnis der Bevölkerung, besonders aber von Schüler*innen und Lehrkräften verweist.

Friedensbildung bedeutet auch, Visionen für die Zukunft zu entwickeln und sich bewusst zu werden, dass es immer verschiedene Handlungsoptionen gibt. In einem neu entwickelten Workshop der Servicestelle erarbeiten Schüler*innen ausgehend von der Gegenwart verschiedene Zukunftsszenarien für das Jahr 2035 in Bezug auf den Verlauf des Kriegs gegen die Ukraine. Die aktuellen politischen Ereignisse und Strategien im deutschen und internationalen Umgang mit dem Krieg dienen dabei als Basis. Entlang der Einflussfaktoren Friedenslogik vs. Sicherheitslogik sowie militärische vs. nicht-militärische Konfliktbearbeitung werden unterschiedliche Szenarien entworfen und kritisch diskutiert.

Ein weiteres Material der Servicestelle, das im Laufe des ersten Halbjahres 2023 erscheinen wird, ist ein Aktionsheft für Schüler*innen mit 26 Ideen für konkretes Engagement für den Frieden in ihrer Schule. Inspiriert wurde der Leitfaden auch durch das Engagement der „Modellschulen Friedensbildung“, welche die Servicestelle über zwei Jahre dabei begleitet, eine Kultur des Friedens in der Schule im Unterricht und Schulalltag zu stärken.

Anmerkungen

  1. https://www.friedensbildung-bw.de
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Norbert Frieters-Reermann 2017: Friedenspädagogik, in: Gregor Lang-Wojtasik/Ulrich Klemm (Hrsg.): Handlexikon Globales Lernen, Ulm, klemm+oelschlaeger, S. 94.
  5. Hans Anand Pant 2016: Einführung in den Bildungsplan 2016, in: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Lehrkräftebegleitheft, Stuttgart: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, S. 12.
  6. Vgl. Meisch, Simon/Uli Jäger/Thomas Nielebock (Hrsg.) 2018: Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden, Nomos.

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Hintergrund
Uli Jäger, von 1986 bis 2011 Ko-Leiter des Instituts für Friedenspädagogik Tübingen e.V.; seit 2012 Director of Peace Education bei der Berghof Foundation/ Friedenspädagogik Tübingen.