Sicherheit und Stabilität - für Rohstoffe, Kapital und Waren

von Martin Singe
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Sicherheitspolitik war schon immer eine Politik, die in erster Linie die Sicherheit der jeweils herrschenden Gruppen und ihrer Interessen im Auge hatte. Auch in der Zeit des Ost-West-Konfliktes ging es den Staa­ten nie zuerst um den Schutz von Bürgerinnen und Bürgern, sondern in erster Linie um die Absicherung bzw. Ausdehnung der weltweit erreich­ten Einflußsphären. Allerdings läßt sich diese Zielsetzung gegenwärtig nicht mehr hinter vorgegaukelten Verteidigungsszenarien verstecken. Dennoch ist es fast verwunderlich, wie unverhohlen die ökonomischen Hintergründe und Zielsetzungen der Sicherheitspolitik in den offiziellen Dokumenten und Strategiepapieren von Bundeswehr und NATO ange­sprochen werden.

Setzt man gar darauf, daß ein neuer verteidigungspolitischer Konsens auch in der Bevölkerung dahingehend er­reicht werden kann, daß militärische Wohlstandssicherung ein legitimes Ziel ist?

Drei Dokumente sollen hier kurz zu­sammenfassend beleuchtet werden, um die auf ökonomische Zielsetzungen ge­richtete "Sicherheits-" und "Stabilitätspolitik der westlichen Regierungen zu verdeutlichen. Es geht um das neue Strategische Konzept der NATO, das diese 1991 - ein halbes Jahr nach dem 2. Golfkrieg - in Rom verabschiedet hat (im folgenden zit. als "NATO"), um die inzwischen recht bekannte Verteidi­gungspolitische Richtlinie (VPR) Rühes von 1992 und das Weißbuch von 1994. Liest man diese drei Dokumente im Kontext, dann wird deutlich, wie schnell sich das westliche Bündnis aus seiner kurzfristigen Orientierungslosigkeit und seinem Feind(bild)verlust erholt hat und nun sozusagen den G7-Ländern als Er­füllungsgehilfe für die Absicherung ih­rer ökonomischen Weltherrschaftsposi­tion zur Verfügung steht.

Ausgangspunkt für die Sicherheitspoli­tik der BRD ist die nationale Interes­senlage, die in erster Linie ökonomisch definiert wird. So heißt es in den Kapi­teln 7 und 8 der VPR u.a.:

"7. Auf der Grundlage dieser Werte (GG, UN-Charta, d. V.) verfolgt Deutschland seine legitimen nationalen Interessen. ... Die nationale Interessen­lage ist daher auch Ausgangspunkt der Sicherheitspolitik eines souveränen Staates.

8. ... dabei läßt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten:

(1) Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr und politischer Erpressung

(2) Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinflussen können

(8) Aufrechterhaltung des freien Welt­handels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirt­schaftsordnung." (Die "gerechte Welt­wirtschaftsordnung" soll offensichtlich die Peinlichkeit der Zielsetzung abmil­dern - in der Erstfassung des Doku­mentes fehlte dieses Anhängsel noch!)

Bereits im NATO-Papier von 1991 hieß es "(13) ... Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden, einschließlich der Ver­breitung von Massenvernichtungswaf­fen, der Unterbrechung der Zufuhr le­benswichtiger Ressourcen sowie von Terror- und Sabotageakten. ..."

Die zugleich wirtschafts- und militär­mächtigen Staaten definieren also Si­cherheitspolitik im konfrontativen Sinne. Eine kooperative Sicherheitspo­litik ist auf einer solchen Denkgrundlage überhaupt nicht möglich. Die Weltwirt­schaftstrukturen haben sich nicht etwa am Wohle der Menschheit oder an den Menschenrechten zu orientieren, son­dern sie müssen die Interessenlage der bereits reichen Staaten bedienen. Alles, was die Interessendurchsetzung dieser Staaten behindert, gilt solcher Sicher­heitspolitik als Risiko und Gefahr, für die künftig grundsätzlich auch militäri­sche Antworten bereitgehalten werden müssen: "Im Gegensatz zur Hauptbe­drohung der Vergangenheit sind die bleibenden Sicherheitsrisiken der Alli­anz ihrer Natur nach vielgestaltig und kommen aus vielen Richtungen ..." (NATO, 9.) - "In einer interdependenten Welt sind alle Staaten verwundbar, un­terentwickelte Länder aufgrund ihrer Schwäche und hochentwickelte Indu­striestaaten aufgrund ihrer empfindli­chen Strukturen. Jede Form internatio­naler Destabilisierung beeinträchtigt den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt ... Kommt es zu solchen Fehlentwick­lungen, werden zerstörerische Einflüsse auch in die hochentwickelten Gesell­schaften getragen." (VPR, 23.) - "Deutschland ist aufgrund seiner Inter­essen, seiner internationalen Verflech­tungen und  Verpflichtungen vom ge­samten Risikospektrum betroffen. (Weißbuch, 255)

Die Folge dieser Krisen- und Risiken­analyse ist, daß Sicherheitspolitik natür­lich nicht mehr als territoriale Verteidi­gungspolitik begriffen werden kann, sondern als Strategie zur weltweiten Bekämpfung eben solcher Risiken und Krisen, die die herrschende Wirtschafts­stabilität in Frage stellen könnten. So ist es nur logisch, daß es um weltweit an­setzende Militärpolitik gehen muß, also um die Planung von Militäreinsätzen "out-of-area", dort, wo die Krisen lauern und der Kern künftiger Auseinanderset­zungen liegen wird: "Unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen läßt sich Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen. ... Risi­kovorsorge muß folglich als erweiterte Schutzfunktion verstanden werden. Prioritäten der Sicherheitsvorsorge sind 'von außen nach innen' zu definieren. Die Fähigkeit zur Verteidigung Deutschlands bleibt auch in diesem Si­cherheitskonzept eine fundamentale Funktion der Streitkräfte. Zukünftig muß aber politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld ein­deutig im Vordergrund unserer Maß­nahmen zur Sicherheitsvorsorge ste­hen." (VPR, 24., 25.)

Die Bundesrepublik koordiniert dabei ihre eigene Wirtschaftssicherheitspolitik und ihre eigene Interessendurchsetzung im Club der übrigen Reichen (EU / G7), jedoch kann es auch zu Situationen kommen, in denen nationale Sonderin­teressen verfolgt werden müssen: "Trotz prinzipieller Übereinstimmung werden sich die deutschen Interessen nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der Verbündeten und anderer Partner dec­ken." (VPR, 7.)

Bei der Absicherung von Wirtschafts­macht geht es immer zugleich auch um Absicherung von politischer Macht in globaler Hinsicht: Für Deutschland als "kontinentale Mittelmacht mit weltwei­ten Interessen" ist "Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unserer Wirtschafts­kraft"  (VPR, 8.3; 8.10) zentrales Ziel von Sicherheitspolitik im Zeitalter glo­baler Produktion und Märkte:  "Wirtschaftliche Dynamik und techno­logische Innovation, der Wettbewerb um künftige Märkte und Ressourcen be­stimmen den internationalen Einfluss ei­nes Landes heute mehr als militärische Macht. Neue politisch-ökonomische Zentren formieren sich. Vor diesem Hintergrund kann sich kein Staat der wachsenden Dynamik und Interdepen­denz der Weltwirtschaft entziehen. Auch wirtschaftliche und soziale Krisen sowie Umweltkatastrophen können si­cherheitspolitische Auswirkungen auf westliche Gesellschaften haben." (Weißbuch, 213)

Die Aufrechterhaltung von "Stabilität" dient der Absicherung des gegenwärti­gen ökonomischen status quo: "'Stabilitätsorientierung' bedeutet, daß Sicherheitspolitik nicht mehr wie in der Vergangenheit in erster Linie an militä­rischen Potentialen und numerischer Pa­rität orientiert ist,  sondern künftig mehr an der Notwendigkeit, das internationale Beziehungssystem nach sozio-ökonomi­schen, rechtlichen sowie ordnungs- und strukturpolitischen Stabilitätsfaktoren zu gestalten ..." (VPR, 28.)

Dieser Neuformulierung von Sicher­heitsinteressen angesichts des nach Wegfall des Ost-West-Konfliktes ein­getretenen neuen Globalisierungsschu­bes entspricht der in den Dokumenten beschriebene Funktionswandel des Mi­litärs. Militäreinsatz, also Krieg, wird zu einer normalen Kategorie im Spektrum der Möglichkeiten von Krisenbewälti­gung: "Für einen Erfolg der Bündnispo­litik ist ein von der politischen Führung des Bündnisses festzulegender ko­härenter Ansatz erforderlich, wobei sie nach Bedarf die geeigneten Krisenbe­wältigungsmaßnahmen aus einer Palette politischer und sonstiger Optionen, dar­unter auch aus dem militärischen Be­reich, auswählt und koordiniert." (NATO, 33) Dabei wir deutlich hervor­gehoben, daß die militärische Option nicht mehr von einem vorher stattgefun­denen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff abhängig sein dürfe (was u.a. das Grundgesetz noch vorschreibt): "Streitkräfte sind prioritär auf die Wahrnehmung solcher Risiken zu opti­mieren, die einen hohen Intensitätsgrad aufweisen. Dies sind auf absehbare Zeit jene, die frühzeitiges Krisen- und Kon­fliktmanagement erfordern. Wesentli­ches Kennzeichen der dazu benötigten militärischen Kräfte sind rasche Ver­fügbarkeit sowie ein hohes Maß an Fle­xibilität und Mobilität. ... Strategisches Denken in Phasen ist ... überholt. Daher verbietet sich auch eine starre Zuord­nung militärischer Fähigkeiten zu den Kategorien Frieden, Krise und Krieg." ( VPR, 39., 49.)

Militäreinsätze sind in dieser Strategie nicht die vielbeschworene "ultima" ra­tio, sondern können genauso gut die "prima" ratio sein:  "...wird im interna­tionalen Krisenmanagement künftig auch ein frühzeitiger Einsatz militäri­scher Mittel zur Wahrung und Wieder­herstellung der internationalen Sicher­heit und des Völkerrechts unter einem legitimierenden Mandat der VN oder der KSZE erwogen werden müssen." (VPR, 40.) Völkerrechtswidrig wird in diesem Militärkonzept zugleich die Rolle der Nuklearwaffen verewigt: "Einzig Nuklearwaffen machen die Ri­siken jeglicher Aggression unkalkulier­bar und unannehmbar. Sie sind daher nach wie vor von entscheidender Be­deutung für die Wahrung des Friedens." (NATO, 39)

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".