Internationale Militäreinsätze

Sind robuste Militärinterventionen hilfreich, Konflikte im Globalen Süden zu lösen?

von Hans Georg Ehrhart
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Gewaltkonflikte fordern durch Interventionen häufig mehr Opfer, dauern länger und sind schwieriger durch eine Verhandlungslösung beizulegen. Dieser Befund weckt erhebliche Zweifel am Sinn von robusten Militärinterventionen.
Weitere Argumente verstärken diese Skepsis:
1. Historische Argumente
Die Staaten des globalen Nordens haben eine lange Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus. Dabei waren Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebenso an der Tagesordnung wie Rassismus, Unterwerfung und Ausbeutung. Die Interventen tragen Mitverantwortung für strukturelle Verwerfungen in den Ländern des Südens. Diese abbauen zu helfen ist primär eine entwicklungs- und wirtschaftspolitische Aufgabe. Zudem entspricht das vom globalen Norden propagierte westfälische Staatsmodell nicht den gesellschaftlichen Realitäten vieler Staaten im globalen Süden, die durch gewachsene hybride politische Ordnungen gekennzeichnet sind. Es grenzt an Hybris zu erwarten, dass eine Entwicklung, die in Europa ca. 400 Jahre dauerte, sich im globalen Süden in wenigen Jahren durch robuste Interventionen und technokratische Praktiken externer Akteure umsetzen ließe. Die Entwicklung eines Staatswesens ist nun einmal ein langwieriger und kontroverser politischer Prozess, bei dem es letztlich um die allgemein akzeptierte Verteilung von Macht geht. In diesen von außen einzugreifen erfordert Verständnis und Respekt für die jeweilige hybride Ordnung, aber keinen militärischen Zwang.

2. Völkerrechtliche Argumente
Die UN-Charta (UN-Ch) verbietet in Artikel 2,7 die Intervention in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats. Allgemein gilt das Prinzip der souveränen Gleichheit nach Artikel 2,1 UN-Ch.Souveränität und Intervention schließen sich aus. Zudem besteht nach Artikel 2,4 UN-Ch ein umfassendes Gewaltverbot. Dieses erlaubt nur zwei Ausnahmen: ein Beschluss des Sicherheitsrats nach Kapitel VII oder die Wahrnehmung des individuellen oder kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 UN-Ch. Die nach neuerem Rechtsverständnis existierende Schutzverpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern (R2P) erlaubt es anderen Staaten eben nicht, ohne vorherige Autorisierung durch den Sicherheitsrat militärisch zu intervenieren. Die Libyenintervention 2011 war die erste Militärintervention, die der UN-Sicherheitsrat unter Berufung auf R2P mandatierte. Sie war möglicherweise auch die letzte dieser Art, weil sie zwar völkerrechtlich legal war, aber durch den erzwungenen regime change und den anschließenden Staatszerfall zu einem Desaster führte. Eine regelbasierte internationale Ordnung erfordert im Zweifel den Vorrang der Legalität vor der Legitimität, weil sonst der Selbstermächtigung Tür und Tor geöffnet würde.

3. Sicherheitspolitische Argumente
Das Argument, man müsse an der Quelle der Bedrohung militärisch eingreifen, sonst kämen sie zu uns, überzeugt nicht. Eher ist es umgekehrt: Durch das militärische Eingreifen läuft man Gefahr, zum Ziel von militärischem Gegenhandeln zu werden. Manche Probleme, die hierzulande als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen werden, wie die zunehmende Fluchtbewegung nach Europa, werden teilweise durch die gewaltsame Konflikteinwirkung verschärft. Zudem stellt sich die Frage, um wessen Sicherheit es denn eigentlich geht. Der Erfolg der jüngsten Interventionen ist mehr als fraglich. Sie haben etwa in Afghanistan zu mehr Unsicherheit geführt. Versuche der Stabilisierung wie etwa in Mali kommen nicht wirklich voran, weil die dem Konflikt zugrundeliegenden Ursachen komplex sind. Sie lassen sich deswegen weder durch bessere finanzielle und personelle Unterstützung der Interventen noch durch länger andauernde Interventionen lösen. Grundvoraussetzung ist der Wille der lokalen Akteure, die Konfliktursachen mit externer Unterstützung kooperativ zu bearbeiten.

4. Entwicklungspolitische Argumente
Der oft gebrauchte eingängige Slogan zur Rechtfertigung militärisch gestützter Interventionen lautet: „Ohne Sicherheit keine Entwicklung, ohne Entwicklung keine Sicherheit“. Was im Prinzip richtig ist, erweist sich aber in der Praxis oft als problematisch oder falsch. Ein Grund dafür ist, dass die sicherheitspolitische Logik letztlich überwiegt. So wird beispielsweise in Afghanistan der überwiegende Teil der externen Finanzmittel für Sicherheit ausgegeben. Bei der Bevölkerung kommt wenig an, was zu Frustration und zu Ablehnung führen kann. Militärisch gestützte Staatsbildung ist letztlich nichts anderes als der vergebliche Versuch von social engeneering. Geht es nur um die Stabilisierung einer Regierung, so besteht die Gefahr, dass hinter der staatlichen Fassade nicht die gewünschte local ownership, sondern korrupte und autoritäre Eliten gestärkt werden. Diese verhindern auch eine demokratische Reform der Sicherheitssektoren und nutzen deren Ertüchtigung zur Stärkung der eigenen Macht. Demgegenüber wäre die Beachtung von vier Prinzipien notwendig: Gewaltenteilung, Legalität, Verantwortlichkeit und Transparenz.

5. Demokratietheoretische Argumente
Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Das Volk gibt sich eine Verfassung und wählt Repräsentanten auf Zeit, die dann als Treuhänder über politische Fragen entscheiden. Das Volk kann über Parteien oder direkt-demokratische Elemente an der politischen Willensbildung teilnehmen. Es hat ein Recht auf innere Selbstbestimmung und die Freiheit der Eigenentwicklung. Die konkrete Gestaltung des inneren Selbstbestimmungsrechts obliegt den betroffenen Staatssubjekten, die frei über die eigene Staats- und Regierungsform entscheiden. Von außen forcierter militärisch gestützter Staatsaufbau widerspricht dem inneren Selbstbestimmungsrecht. Begeht die Regierung allerdings Vergehen gegen die eigene Bevölkerung, kann der UN-Sicherheitsrat auch militärische Zwangsmaßnahmen beschließen. Ob diese dazu beitragen, den Konflikt zu lösen, hängt von den konkreten Umständen ab. Letztlich verfügen UN-mandatierte oder gar UN-geführte Einsätze zwar über eine höhere Legitimation als eigenmächtige Interventionen der Großmächte ohne UN-Mandat. Die praktischen Schwierigkeiten bei der Konflikttransformation bleiben aber die gleichen, solange die lokalen Konfliktparteien die Intervention nicht unterstützen.

6. Ethische Argumente
Statt die Probleme der Staaten des Globalen Südens durch militärisch gestützte Interventionen lösen zu wollen, wäre es ratsamer, mehr Mittel für friedliche Konfliktregelung und die Entwicklung des Ziellandes einzusetzen. Zudem ist es fraglich, ob es moralisch gerechtfertigt ist, Soldat*innen und Nichtkombattant*innen zu töten bzw. deren Tod als „Kollateralschaden“ in Kauf zu nehmen, um andere Menschenleben zu retten. Auch ist zu hinterfragen, ob ein Staat seine Bürger*innen zur Rettung anderer in den Krieg schicken darf, ohne dass seine eigene Existenz auf dem Spiel steht. Die vielfältigen Pathologien externer Interventionen machen es außerdem wahrscheinlich, dass diese mehr Schaden als Nutzen verursachen. Grundsätzlich gilt, dass ein guter Grund und die rechte Absicht zur ethischen Rechtfertigung nicht ausreichen. Es müssen auch noch die Kriterien der Proportionalität, der nicht-militärischen Konfliktlösungsmöglichkeiten und der Erfolgsaussichten beachtet werden.

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Dr. Hans-Georg Ehrhart ist seit 1989 wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).