Sind wir die letzten Besserwisser? Versöhnung aus bundesdeutscher Sicht

von Christoph Heubner

Der folgende Text Ist die verkürzte Fassung einer Rede, die der Autor anläßlich eines Mitgliedergesprächs von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste am 29. 10. 1988 in Bad Segeberg hielt.

Eine Parallele beim Besuch von Konrad Adenauer und von Helmut Kohl in Moskau kann nachdenklich stimmen. Konrad Adenauer ist damals im wesentlichen mit dem Anspruch nach Moskau gefahren, etwas zu tun für die deutschen Kriegsgefangenen, die noch in der Sowjetunion in Kriegsgefangenschaft waren. Er hat das verbunden mit einem sehr vagen Gefühl, einen begehbaren Weg zu finden, auf dem ein Gespräch mit der sowjetischen Führung möglich sein könnte. In einer der Tischreden damals hat Adenauer ungefähr so formuliert: Ihr habt viel Leid erlebt, Menschen sind gestorben, das Land war verwüstet. Und genau dieselbe Analogie jetzt beim Besuch von Helmut Kohl. Gorbatschow hat viel Leid erlebt, mein Bruder ist gefallen, das Leid verbindet uns. Ich denke, wir sind uns alle einig, daß die menschliche Kategorie von Leid, wenn immer man das als Kategorie überhaupt bezeichnen kann, ganz sicher Menschen im Sinne von Gesprächsöffnung verbinden kann.
Aber sind wir die letzten Besserwisser, wenn wir immer wieder darauf beharren und danach fragen, wer das Leid in welcher Folge verursacht hat? Wo liegen Ursachen und Folgen, welche Schritte müssen wir historisch in unserer Erinnerung genau gehen, um Abfolgen deutlich zu machen?
Die Erinnerung bei den Menschen in unserem Lande im Blick auf die Sowjetunion, daß in Hamburg einer aufsteht und sagt, ich war in Kriegsgefangenschaft und hab Schlimmes erlebt und ich weiß, wofür, die Erinnerung, sich eigenem Schmerz auszusetzten und schonungslos mit sich selber umzugehen, ist in unserem Lande nicht sehr populär. Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, daß in einer Gesellschaft, die Erinnerung und Trauerarbeit bisher so wenig geleistet hat,  der Schritt in einen Versöhnungsprozeß mit den Völkern der Sowjetunion so rasant und schnell erfolgen kann, wie es teilweise im Moment der Fall ist. Wissen wir mehr? Haben wir mehr getan? Was prädestiniert uns für eine Vorreiterrolle oder eine avantgardistische Rolle? Meiner Ansicht nach eigentlich gar nichts! Das ist eine der zentralen Erfahrungen der Gruppenarbeit. Jährlich fahren mehrere Grup¬pen von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Jüngere und Ältere, nach Minsk. Doch auch wenn die Gruppenteilnehmer politisch denkende, kulturell interessierte, historisch bewußt lebende Menschen sind, werden bei Begegnungen in der Sowjetunion die Wissenslücken deutlich. Der Punkt, an dem wir uns auf die Reise machen, ob Studenten im zweiten Semester, ob Angestellter bei einer Versicherung, ob  Leiter eines Wasserwerkes oder Kirchenrat, der Punkt, an dem wir uns auf die Reise machen, ist meistens der Punkt Null plus zwei. Das Wissen  über Kultur, über Geschichte ist sehr gering. Und deswegen ist der erste Schritt bei diesen Fahrten, sich deutlich zu machen, wo Defizite sind.
In der Sowjetunion passiert etwas, das diesem wunderbaren Märchen vom Hasen und dem Igel zu entnehmen wäre. Der Igel sitzt immer schon da. Der Igel steht für die Geschichte. Die Geschichte, nicht die ominöse Geschichte, die Uns umgibt, in der wir agieren, sondern ich meine die persönliche Geschichte eines jeden Einzelnen, der fährt, das, was er in der Schule gelernt hat, das was an Gesprächen mit Großeltern deutlich wurde. Und plötzlich sitzt es in der Ecke, meldet sich im Hinterkopf, im Unterbewußten, in Gesprächsbeiträgen, in Aggressionen, die plötzlich hochkommen. Das sind für jeden Einzelnen wirklich spannende Fragen, sich jetzt auch nicht nur den Eindrücken, die sehr schnell auf einen eindringen, sondern auch sich selbst gegenüber den Erinnerungen zu öffnen und sich klarzumachen: Dieser Weg, den ich jetzt gehe, der fordert mich auch,
Ich will versuchen, es an einem Beispiel deutlich zu machen. Eine Gruppe fuhr nach Minsk und nach Vilnius. Wir waren eine Woche in Minsk, eine neu aufgebaute, vielfach im stalinschen Baustil gebaute Stadt mit sehr breiten Boulevards, architektonisch nicht schön, wenn man nicht das Leben der Menschen hinter den Fassaden sieht, eine Stadt also, die uns in erster Linie fremd erscheint. Nach dem Aufenthalt in Minsk die Weiterreise nach Vilnius, Wilna, eine wunderschöne Stadt, Perle des Abendlandes mit vielen Kirchen, schönen alten Gassen, also das zivilisierte Europa. Und der Mensch blüht auf. Das ist die Umgebung, die wir als unsere Umgebung kennen. In der Gruppe entstehen ganz plötzlich Diskussionen darüber, ob die Minsker Architektur asiatisch ist, die Vilniuser Architektur hingegen europäisch. Das sind nicht Neckermann-Reisen, sondern das sind unsere Leute. Hat man in Minsk so groß gebaut, so riesig, damit der Mensch von der stalinschen Betonmasse ganz klein gedrückt wird, daß ihm deutlich wird im Baustil, daß das Kollektiv alles  ist und er ein Nichts? Ich hab nicht gehört, daß jemand in Wilna vor der Kathedrale diese Frage gestellt hat, die riesig und unübersehbar in den Himmel ragt, denn das ist uns vertraut, das sind wir in unserer eigenen Geschichte. Das andere ist fremd und wird bestimmten politischen Einschätzungen, die jeder mit sich rumträgt, zugeordnet. Bei den Reisen ist also nicht nur der Blick in die Gesellschaft wesentlich, sondern auch der Blick zu sich selbst, das Sich Aussetzen von Erinnerungen und Erfahrungen, die man mitbringt. Nach den Fahrten ist es wichtig, die Erfahrungen, die Erinnerungen an Gespräche zu transportieren. Vieles bei einer ersten Fahrt ist so, daß viel mehr Fragen offenbleiben als vorher. Kürzlich hat ein Freiwilliger, der in Auschwitz in der Jugendbegegnungsstätte gearbeitet hat, gesagt nach seinem Dienst, eigentlich habe er in Auschwitz die Fragen auf seine Antworten gefunden, die er vorher alle schon wußte. Und mir scheint das eine ganz gute Beschreibung eines Prozesses zu sein, den man auch in der Begegnung mit der Sowjetunion durchlaufen kann. Sich selbst in Frage. zu stellen, nicht ständig nach Antworten auf Fragen, auch Vorurteile zu suchen, sondern zu wissen, wenn ich eine solche Reise, eine solche Beschäftigung eingehe, dann stelle ich mich erst mal in einen Raum, der mir unvertraut ist und wo ich Wege finden muß, ihn für mich zu dechiffrieren, zu entschlüsseln. Eine ganz wesentliche Rolle bei dieser Dechiffrierung für unsere Gruppen spielt die Kultur, um zu merken, wie im kulturellen, und damit meine ich vor allem den literarischen Raum, in der Sowjetunion Probleme beschrieben, diskutiert werden. In Büchern, die man mit nach Hause nehmen kann,  mit denen ein Stück Sowjetunion auf dem heimischen Schreib- oder Wohnzimmertisch steht. Und um zu merken, daß die Probleme verbindende Probleme in einem europäischen Haus sind.
In dem spannendsten und interessantesten Prozeß, der derzeit mitzubekommen ist, ist zu sehen, daß die Position der Bundesdeutschen, die sich durchweg im antikommunistischen Sinn moralisch und materiell höher als die Menschen in der Sowjetunion, gerade die sehr kritischen, formulieren mit einem Selbstbewußtsein, einer ganz großen Prägnanz und Schärfe Fragen auch an uns. Die Bescheidenheit schwindet und es kommt die Normalität im Umgang.
Ein zweiter Gedanke zu diesem Komplex. Wenn die Verhältnisse sich umkehren, dann kann die Situation entstehen, daß wir viel mehr die Lernenden sind als die Belehrenden. Und wenn es im Moment in der Sowjetunion einen Aspekt gibt, wo wir tatsächlich sehr, sehr viel lernen können, dann ist es der folgende. So intensiv wie im Moment über Gedächtnis, Aufarbeitung der Stalinzeit, das Durchleben dieser Zeit und das Sich-Konfrontieren mit bestimmen Ursachen, mit Versagen von ganzen Generationen und mit entsetzlichen Wahrheiten, so radikal und intensiv wie man sich dem jetzt in der Sowjetunion aussetzt, so ist das in der Bundesrepublik nie geleistet worden. An diesem Punkt zu lernen, wie ein Volk beginnt sich zu erinnern, wie Völker auch beginnen sich zu erinnern über ihre Verhältnisse zueinander, siehe die baltischen Völker im Verhältnis zum russischen Volk, das ist einer der entscheidensten Prozesse zur Zeit.
Wie bringt man Menschen dazu, die vergessen wollen, weil es sie schmerzt, sich zu erinnern, und weil sie Angst davor haben. Wie bringt man Menschen dazu, sich erinnern zu können, wie nimmt man ihnen die Angst vor der Ehrlichkeit im Umgang mit sich selbst.
Das ist im Moment eine der ganz zentralen Fragen in nicht nur der intellektuellen Diskussion in der Sowjetunion, die in den Zeitungen unter Schriftstellern geführt wird, sondern das ist eine ganz, ganz breite Diskussion.

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Christoph Heubner arbeitet bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste.