Atommüll-Endlagerung

Skandal Asse II

von Armin Simon

Zur Frischhaltung von Lebensmitteln würde er einst dienen – mit derlei Versprechen wischten Atomwissenschaftler und Politiker Mitte der 1950er Jahre kritische Nachfragen zur Entsorgung von nuklearem Müll beiseite. Mehr als fünf Jahrzehnte sind seither vergangen, die Atomindustrie hat Hunderttausende Tonnen strahlender Abfälle produziert. Entsorgt, schadlos gar, hat sie noch kein einziges Gramm.

Der erste Reaktor in Deutschland ging 1957 in Betrieb. Ende 2007 waren in Deutschland rund 12.500 Tonnen hochradioaktives Schwermetall aus abgebrannten Brennelementen und gut 120.000 Kubikmeter schwach- und mittelaktiver Müll angefallen. Dazu kommen gut 60 Kubikmeter hochradioaktive Atomsuppe aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) sowie die verstrahlten Bauteile der Atomanlagen. Ebenfalls dazurechnen muss man die bei der Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls im Ausland angefallenen Abfälle sowie die strahlenden Halden der Uranbergwerke und der Erzaufbereitungsanlagen. Große Mengen radioaktiver Gase und Abwässer hat die Atomindustrie in den vergangenen 50 Jahren zudem durch den Schornstein abgelassen oder in Flüsse geleitet. 99,9 Prozent der Radioaktivität allen Atommülls stecken in der hochradioaktiven Fraktion, also vor allen den abgebrannten Brennelementen. Von den schwach- und mittelaktiven Abfällen stammen 95 Prozent aus Atomindustrie und Atomforschung, knapp fünf Prozent von industriellen Anwendern radioaktiver Isotope. Medizinische Anwendungen sind nur für 0,4 Prozent verantwortlich. Pro Jahr kommen derzeit um die 5.000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktive Abfälle sowie etwa 370 Tonnen hochradioaktiver Müll – 20-30 Tonnen pro Reaktor – hinzu.

Wo liegt der Atommüll bisher?
Schwach- und mittelradioaktiver Müll lagert oberirdisch in Fässern und Containern vor allem im Kernforschungszentrum Karlsruhe (KFK), in über einem Dutzend Landessammelstellen, in Lagern bei den einzelnen Atomanlagen (z.T. auch im Ausland) sowie in den zentralen „Zwischenlagern“ in Gorleben, Lubmin und Ahaus, im „Versuchsendlager“ Asse und im von der DDR gebauten und nach der Wiedervereinigung jahrelang weiter befüllten Endlager Morsleben. In Lubmin ist zudem radioaktiver Schrott aus stillgelegten AKW deponiert. 180 Tonnen Atommüll verklappte die Bundesregierung 1967 vor Madeira im Atlantik. Die hochradioaktiven abgebrannten Brennelemente aus den Atomreaktoren liegen in Abklingbecken („Kompaktlager“) innerhalb der Anlagen oder in so genannten Castor-Behältern. Diese stehen in mit Luftschlitzen versehenen Hallen („Zwischenlager“) an den Reaktorstandorten sowie in Gorleben, Ahaus und Lubmin. Etliche abgebrannte Brennelemente aus deutschen AKW liegen noch in den französischen und britischen Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague und Sellafield auf Halde. Dort lagert auch der größte Teil des bei der Wiederaufarbeitung angefallenen Atommülls; nur ein kleiner Teil (in Glaskokillen eingeschmolzene hochradioaktive Atomsuppe) wurde mit Hilfe massiver Polizeieinsätze in die Zwischenlagerhalle in Gorleben verfrachtet. Die hochradioaktive Atomsuppe aus der WAK, jahrzehntelang in Tanks dort aufbewahrt, wurde ab September 2009 in einer eigens gebauten Anlage verglast und Anfang 2011 in Castor-Behältern ins Zwischenlager Lubmin verfrachtet.

Atomkraftwerke und andere Atomanlagen dürfen laut § 9a Atomgesetz nur betrieben werden, wenn sichergestellt ist, dass der anfallende Atommüll „geordnet beseitigt“ wird. Doch Regierung und Gerichte begnügten und begnügen sich mit Interims-Lösungen und dem Verweis auf mehr oder weniger konkrete „Entsorgungs“- Projekte. Das „Versuchsendlager“ Asse gehörte dazu, später die Bohrarbeiten am und im Gorlebener Salzstock, die Pläne für ein Endlager in der Eisenerzgrube Schacht Konrad bei Salzgitter und die rund zehn Versuche, an verschiedenen Orten eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) zu errichten, zuletzt im bayerischen Wackersdorf. Alle diese Projekte dienten in erster Linie dazu, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu ermöglichen – weil „Fortschritte“ bei der Wiederaufarbeitung und der Endlagersuche als Entsorgungsnachweis genügten.

Mit dem offiziellen Aus für die WAA Wackersdorf im 1989 brach das Kartenhaus des „nuklearen Entsorgungskonzepts“ zusammen. In der Folge akzeptierten die Bundesregierungen von Schwarz- Gelb bis Rot-Grün de facto oder de jure die Zwischenlagerung der abgebrannten Brennelemente im In- und Ausland als Entsorgungsnachweis. Demnach gilt die Entsorgung von Atomkraftwerken als „gesichert“, wenn klar ist, wo der Müll, der Hunderttausende von Jahren strahlt, für ein paar Jahrzehnte liegen kann: in Castor-Behältern, die offiziell 40 Jahre halten.

„Forschungsendlager“ Asse II
Die Asse ist ein ehemaliges Kali- und Salz-Bergwerk bei Wolfenbüttel. Der Bund erwarb die Anlage 1964 für 600.000 DM und überließ sie dem KFK und der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) als Atommülllager und Experimentierfeld. 1968 erklärte die Bundesregierung die Asse offiziell zum Endlager für die bis zum Jahr 2000 anfallenden Abfallmengen.

In den 1960er Jahren suchten die Mitgliedsländer der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) dringend nach Möglichkeiten, ihren Atommüll loszuwerden; für Anstrengungen in diesem Bereich gab es Fördergelder. Die BRD reichte das Projekt „Endlagerung in Salzformationen“ ein. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Meinung in vielen anderen Ländern hielt die Bundesanstalt für Bodenforschung (BfB) das in Norddeutschland weit verbreitete Salz für das ideale Endlagergestein, das Atommüllproblem damit für gelöst: „(Es) steht heute bereits fest, dass auch Abfälle hoher Aktivität – fest, flüssig, gasförmig – in großen Mengen säkular [dauerhaft] sicher im Untergrund untergebracht werden können.“

Geplant war zunächst die Anlage einer Kaverne in einem Salzstock im Emsland. Durch einen Schacht wollte man den radioaktiven Abfall einfach von oben hineinfallen lassen. Das Projekt scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Die maroden Stollen von Asse II kamen da gerade recht: „Es könnten damit bereits ab 1965 sämtliche Einlagerungswünsche erfüllt und deshalb Zeit für die weiteren Planungen gewonnen werden“, lobten die Atomtechniker.

Den Betriebsbüchern zufolge landeten von 1967 bis 1978 insgesamt 124.494 Fässer mit „schwachradioaktiven“ (10 Prozent enthalten in Wahrheit mittelradioaktiven Müll in einem Betonmantel, 49 Fässer vermutlich sogar hochradioaktive Abfälle) und 1.293 Fässer mit mittelradioaktiven Abfällen aus Atomkraftwerken, -forschungszentren, -industrie, Atommüllsammelstellen und der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe im Salzstock, darunter lecke und korrodierte Fässer, flüssige Abfälle, rund 28 kg Plutonium sowie mindestens 94 Fässer mit kugelförmigen Brennelementen aus dem Versuchsreaktor AVR im Kernforschungszentrum Jülich. „Entsorgt“ wurden in der Asse auch Gifte wie Arsen, verstrahlte Tierkadaver und selbst die radioaktive Asche von Leichenteilen zweier 1975 bei einem Unfall im AKW Gundremmingen ums Leben gekommener Techniker. Proben, die Aufschluss über die tatsächlich im Berg liegenden Nuklide geben könnten, gibt es bisher keine. Zum Stichtag 1.1.1980 lagerte in der Asse eine Aktivität von etwa 7,8 Billiarden Becquerel. 90 Prozent davon stammen aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe, die wiederum vor allem mit abgebrannten Brennstäben aus Atomkraftwerken gefüttert wurde. Zählt man die direkt in die Asse verfrachteten Betriebsabfälle der AKW hinzu, sind die vier Atomkonzerne EnBW, Eon, RWE und Vattenfall für 86 Prozent der gesamten Strahlungsmenge verantwortlich.

Seit 1988 dringen aus unbekannter Quelle täglich 12 Kubikmeter Wasser in die Stollen ein. Die Lauge sammelt sich im Bergwerk und ist unter anderem mit radioaktivem Cäsium, Plutonium und Americium kontaminiert – also ganz offensichtlich in Kontakt mit dem Atommüll. Die Helmholtz-Gesellschaft (Nachfolgerin der GSF) pumpte die strahlende Brühe jahrelang ohne Genehmigung in andere Bergwerke und in andere Sohlen von Asse II. Zuletzt plante sie die gezielte Flutung der Atommüllkippe. Das aggressive Salzwasser könnte die Fässer binnen weniger Jahrzehnte korrodieren, die radioaktiven Partikel mit dem Wasser durch den Gebirgsdruck nach oben dringen – bis in die Wasserschichten über der Asse, die von Hildesheim bis Magdeburg und vom Harz bis Lüneburg reichen. Ein Statusbericht vom Sommer 20084 hält fest: Das Bergwerk ist einsturzgefährdet, die radioaktive Lauge droht das Grundwasser zu verseuchen – genau das Szenario, vor dem die KritikerInnen des „Versuchsendlagers“ stets gewarnt hatten. Eindringendes Wasser könnte chemische Reaktionen bis hin zu Chlorgasexplosionen auslösen. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), seit 2009 für die Asse zuständig, soll die unterirdische Atom-Altlast jetzt sichern. Der „Optionenvergleich“ hierfür ergab: Um eine Kontamination des Grundwassers dauerhaft zu verhindern, muss der ganze Müll wieder raus aus dem Berg. Ob das praktisch funktioniert, ist offen. Die Kosten der Maßnahmen, bis zu vier Milliarden Euro, müssen die SteuerzahlerInnen tragen. Das haben CDU/CSU, SPD und FDP eigens ins Atomgesetz geschrieben.

Den Behörden und Gutachtern war die Wassereinbruch und Einsturz-Gefahr von Anfang an bewusst. Schon bei der ersten Besichtigung der Stollen 1963 fiel ihnen auf, dass Wasser eindrang. Die Bergbehörde sah darin jedoch „keine akute Gefahr“. Dabei waren beide benachbarten Schächte (Asse I und Asse III) bereits abgesoffen. Sicherheitsbedenken des Forschungsministeriums wischte die Bundesanstalt für Bodenforschung beiseite. In dem Bergwerk „stehen mindestens 20-30.000 Kubikmeter Hohlraum zur Verfügung, der ohne Bedenken zur Einlagerung radioaktiver Abfallprodukte benutzt werden kann“, schrieb sie. Die Einlagerung von Atommüll in Salzstöcken sei „säkular sicher“, in Asse II seien „ausreichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, sodass die Bevölkerung nicht gefährdet ist“. Insbesondere ein Eindringen radioaktiver Stoffe in die Biosphäre sei ausgeschlossen, beteuerten Geologen. Und die Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) verkündete noch 1985 in einer Broschüre, dass „ein Wasserzutritt in das Salzbergwerk Asse im höchsten Maße unwahrscheinlich ist“.

Von Anfang an umstritten war auch die Standfestigkeit des Bergwerks. Geologen und Behörden registrierten ständige „Verschiebungen im Schacht“, nur den kleinsten Teil der Anlage hielt das Bergamt für gefahrlos begehbar. Gegen ein Atommülllager hatte es jedoch nichts einzuwenden. 1977, nach zehn Jahren „Entsorgung“, hielt schließlich die GSF selbst „zusätzliche Arbeiten zum Nachweis der langfristigen Standfestigkeit des Grubengebäudes“ für nötig. Wenig später sprach das Bergamt von akuter Einsturzgefahr.

Kein atomrechtliches Genehmigungsverfahren
Asse II wurde als „Versuchsendlager“ lediglich nach Bergrecht genehmigt – ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und ohne belastbare atom- und umweltbezogene Sicherheitsstudien. Tatsächlich dachten Wissenschaftler und Behörden nie daran, den Abfall wieder herauszuholen. Sie wollten ihn loswerden, und das möglichst billig. Ziel war die „routinemäßige“ und „endgültige Lagerung“ sowie ein Signal an die Atomindustrie: Entsorgung ist kein Problem.

Die „Versuche“ befassten sich vornehmlich damit, wie noch größere Mengen Müll noch kostengünstiger in den Untergrund geschafft werden könnten. Ergebnis waren etwa die „Abkipptechnik“ für Fässer und Pläne zur behälterlosen Einlagerung. Um den Ende 1978 erzwungenen Einlagerungsstopp aufzuheben, wäre ein ordentliches Planfeststellungsverfahren erforderlich gewesen. Das kam schnell zum Erliegen – weil Asse II die Anforderungen niemals hätte erfüllen können. 2009 legalisierte der Bundestag die Atommüllkippe, deren Sicherheit niemals nachgewiesen wurde, nachträglich als Endlager: Ob man dort überhaupt Atommüll lagern durfte und darf, muss nun nicht mehr geprüft werden.

Was soll mit dem Müll geschehen?
Wem die Badewanne überläuft, der wird zunächst den Hahn zudrehen, bevor er sich ans Aufwischen macht. Gleiches sollte für Atommüll gelten. Erst wenn es einen echten, unumkehrbaren und auch von den Energiekonzernen akzeptierten Atomausstieg gibt, also die weitere Produktion von Atommüll gestoppt ist, kann man überhaupt ernsthaft nach einer möglichst sicheren Lösung für dessen „Entsorgung“ suchen. Die Vergangenheit zeigt: In jedem anderen Fall ist der Druck, ein Lager zu finden, so groß, dass nicht der bestmögliche, sondern ein beliebiger Standort zum Endlager erklärt wird – einfach, um die Entsorgung zu regeln. Morsleben und Asse II haben drastisch genug vor Augen geführt, was dabei herauskommt.

Dass Stromkonzerne und atomfreundliche Parteien trotz fehlender Entsorgung bis heute an der Nutzung der Atomenergie festhalten und sogar eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten durchgesetzt haben, ist ein Skandal. Jede und jeder weiß: Der möglichst lange Betrieb der Atomkraftwerke beschert einzig E.on, RWE, Vattenfall und EnBW kräftige Gewinne – Sicherheitsaspekte und die Interessen der kommenden Generationen bleiben auf der Strecke. Für die teuren Sanierungskosten der Atommüllkippen muss, siehe Morsleben und Asse, im Zweifelsfall immer die Allgemeinheit aufkommen. Atomkraft eine Zukunftsenergie? Das kann nur behaupten, wer von Asse, Gorleben, Morsleben und Schacht Konrad nichts wissen will. Kein Wunder, dass die Atomkraft-BefürworterInnen in ihrem Werbefeldzug das Thema „Atommüll“ geflissentlich ausklammern. Umso wichtiger ist es, das schwerwiegende Argument der ungelösten „Entsorgung“ in der Debatte um die Atomkraft immer wieder zur Sprache zu bringen. Denn die Atommull-Entsorgung ist noch nicht einmal technisch gelöst.

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Armin Simon ist Historiker, Journalist und Buchautor. Auszüge aus der Broschüre „Asse, Gorleben und andere Katastrophen. Fragen und Antworten zum Thema Atommüll“. Beziehbar über: www.ausgestrahlt.de