Schrott aus Kasachstan - Bericht vom Beginn der Raketenabrüstung in der Sowjetunion

So sollen alle Raketen werden!

von Martin Gräbener

Montag; 1. August 1988, 15.00 Uhr Ortszeit bei Saryosek - Taldy Kurgan, 150 km nordöstlich von Alma-Ata inmitten der Kasachischen Steppe: "tri - dva - a'din - nol: Drei-Zwei-Eins-Null" kommt die Stimme aus dem Lautsprecher am Bunkereingang auf der Spitze des Hügels neben uns.
In ca. zweieinhalb Kilometer Entfernung von unserem Beobachtungspunkt, unterhalb eines Felshanges mit einer riesigen, aufgemalten 2, zuckt ein orangefarbener Blitz auf, entfaltet sich schnell zu einem enormen Feuerball von geschätzt ca. 100 m Durchmesser. Die Schall- und Druckwelle erreicht uns nach einigen Sekunden, sie ist so heftig, daß es mich fast von den Füßen haut und die Trommelfelle schmerzen. Die sich am Explosionsort entfaltende Wolke aus Staub und Rauch ist von beklemmender Symbolik: Sie gleicht exakt einem Atom-Pilz, steigt höher. und höher, bis sie schließlich nach einigen Minuten die Wolkendecke in ca. 3000 m Höhe erreicht und beginnt, sich im Höhenwind aufzulösen.

Beifall kommt in unserer Beobachtergruppe auf: wir haben eben einen wirklich historischen Augenblick erlebt. Hier in der Wüste von Kasachstan hat mit der Sprengung von 4 SS-12-Raketen, die mit dem INF-Vertrag zwischen den USA und der UdSSR vereinbarte Zerstörung einer ganzen Waffen-Kategorie, der landgestützten Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5000 km begonnen.

Die Raketentypen SS 12 und SS 23 (900 und 600 km Reichweite), die in Saryosek, 15 km vom Sprengplatz entfernt, erst demontiert und zur Inspektion durch die amerikanische Seite zwischengelagert, dann durch Sprengung zerstört werden, haben einen 7000 km. weiten Bahntransport hinter sich. Sie waren vorher in der DDR und der CSSR stationiert - als Reaktion auf die Stationierung von Pershing I und II und Cruise Missiles in. der Bundesrepublik Deutschland, erläutert der die Zerstörung leitende sowjetische Armee-Oberst Petrenko bei der Führung durch das Raketenzwischenlager. Wir werden an ca. 300 in ihre wesentlichen Bestandteile zerlegte Raketen (Sprengköpfe in Transportbehältern, 1. und 2. Raketenstufe, Antriebsmotoren, Steuer und Elektronik-Module, Raketentransporter) vorbeigeführt, können fast alles aus nächster Nähe photographieren.

Stunden später sind vier von diesen Raketen Schrott, hinterlassen am Explosionsort einen Krater von 30 m Durchmesser und 4 m Tiefe. Und bis zur völligen Unkenntlichkeit zerfetzte und verbogene Metallteil - von denen wir uns gerne einige als Beweisstücke und Souvenirs von einer guten Sache für die daheim einpacken.

Internationale Beobachterdelegation Organisiert durch das sowj. Komitee zum Schutze des Friedens und der für die Durchführung des INF-Vertrages zuständigen Abteilung des Generalstabes der sowjetischen Roten Armee waren 27 Vertreterinnen der Friedensbewegungen aus 18 Ländern sozusagen als "Inspekteure in eigener Sache" eingeladen. Aus der BRD war neben mir ein Vertreter der "Krefeld er Initiative" aus Bremen anwesend. Aus den USA Captain James T. Bush vom Washingtoner "Center for Defense Information", ein ehemaliger Atom-UBoot-Kommandant, aus den Niederlanden Mient Jan Faber vom IKV, aus Großbritannien Mary Caldor von END.

Am Dienstag, zurück in Alma-Ata, gaben uns die sowjetischen Offiziere im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz weitere Auskünfte: Insgesamt werden 1752 sowjetische und 859 amerikanische Raketen durch Sprengung, Abschuss in den Weltraum oder kontrollierten Abbrand und anschließende Zerquetschung zerstört. In der Steppe von Kasachstan werden im Zeitraum von 18 Monaten alle sowj. Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweiten der Typen ÖTR 22 (SS 2) und OTR 23 (SS 23) durch Sprengung zerstört. Immer 4 auf einmal auf insgesamt drei Sprengplätzen bei Saryosek, wobei zur Sprengung jeweils 300-500 Kilogram TNT pro Rakete benötigt werden).

Zwei Punkte werden von unserer Seite deutlich hinterfragt: Was geschieht mit den Atom-Sprengköpfen und was ist mit der Umweltbelastung durch die Sprengungen? Denn wir wissen aus unserer Friedensarbeit, daß es in den  USA und bei der NATO Pläne gibt, die Sprengköpfe der Pershings und der Cruise-Missile auf neuen Waffensystemen mit ähnlicher Funktion wieder zu verwenden.

Die Antwort der Sowjets: Das nukleare Material soll für friedliche Zwecke eingesetzt werden - so für zivile unterirdische Sprengungen Oberst Petrenko gibt allerdings zu, daß dies mittlerweile in der UdSSR sehr umstritten ist, < oder in Atomkraftwerken nach vorheriger Wiederaufbereitung.

Der Vertrag macht keine Aussage über die Vernichtung der Sprengköpfe, während die Zerstörung der Raketen im Detail festgelegt ist, was für alle in der Delegation eindeutig ein zentraler Kritikpunkt war. 'Da.s Problem der Umweltbelastung wird gesehen", so Oberst Petrenko, aber der V ertrag lege für Saryosek diese Art der Zerstörung fest, damit zweifelsfrei verifizierte überprüft werden kann. Man habe eine Expertenkommission gebildet, die regelmäßige Analysen der Rückstände durchführe. Auch am 1. August war wenige Minuten nach der Explosion schon ein Hubschrauber in der Luft und *durchfolg - Luftproben nehmend - die Explosionswolke. Laut Oberst Petrenko seien weder Schutt noch Asche giftig, die Wolke selber habe in ihren chemischen Belastungswerten unterhalb der Grenzwerte gelegen. W eiche Grenzwerte und wofür hat er allerdings nicht gesagt. Aus diesen Gründen - bei aller Freude über den ersten echten Abrüstungsschritt:
Sie ist nicht ungetrübt.

Ausblick: Beginnt jetzt ein Abrüstungswettlauf?
Auf einer Saal-Kundgebung mit ca. 800 Vertretern der Öffentlichkeit von Alma-Ata habe ich am Dienstag Gelegenheit, für die Delegation zu sprechen. Ich führe aus, daß mit dem 1. August die Abrüstung aus der Sphäre des Redens und der Papiere herausgetreten und ein Stück Wirklichkeit geworden ist. Und daß dies eine Chance bedeutet, einen Abrüstungswettlauf einzuleiten - auch wenn der INF-Vertrag nur 4 % aller Atomwaffen (Trägersysteme) weltweit erfaßt. Denn diejenigen, die mit Aufrüstung und militärischer Konfrontation fortfahren wollen, werden ihre Pläne gegen großen Widerstand der öffentlichen Meinung. und der weltweiten Friedensbewegung durchsetzen müssen. Weshalb wir als Friedensbewegung uns auch nicht mit den 4 % zufrieden geben, sondern entschieden für weitere Abrüstungsschritte und gegen alle "Modernisierungs-Aufrüstungen einsetzen wollen.

Besondere Zustimmung bekomme ich, als ich als Bürger der Bundesrepublik betone, welche Bedeutung es gerade für uns hat, daß die Zerstörung mit den in der DDR stationierten Raketen beginnt: Gerade die in beiden deutschen Staaten gegeneinander stationierten Raketen zeigen angesichts der Geschichte Deutschlands besonders deutlich den Wahnsinn der sog. "Abschreckung" durch militärische Konfrontation auf. Und daß wir hoffen, daß der Schritt der UdSSR, mit diesen Raketen zu beginnen, von der westlichen Seite alsbald mit der Zerstörung des hiesigen Gegenstücks zur SS 12, der Pershing beantwortet wird.

Westliche Wirklichkeit
Mit echtem Raketenschrott, der Vorfreude auf die ungläubigen Gesichter der Grenzbeamten .in Frankfurt-Flughafen ( die uns dann doch nicht filzen, leider) und der Hoffnung auf ein breites Echo in den Medien fliegen wir am Mittwoch wieder nach Hause. Die Wirklichkeit hat uns schnell wieder: Es gibt kaum Berichte über Saryosek, selbst das ZDF-Team, das bei der Sprengung dabei war, hat nur einen 2- Minuten-Spot absetzen können. Lediglich da, wo wir leben, gelingt es, regional etwas ausführlich zu berichten. Selbstverständlich stoßen wir in unseren jeweiligen Friedensarbeitsbereichen auf großes Interesse. Jedoch die Medienöffentlichkeit erweckt den Eindruck, als sei das alles schon nicht mehr sensationell genug, und sowieso: Propaganda und weit weg.

Anderes beherrscht die sicherheitspolitische Szenerie: Die geplante Modernisierung der Kurzstreckenwaffen (LANCE), der Jäger 90, weil die Sowjetunion ja ach so überlegen sei ... Zwar hat zwischenzeitlich 'der Abzug der Pershing 2 und Cruise Missile von der Waldheide und aus Großbri-tannien begonnen, aber wo bleibt die Verschrottung der Pershing 1 der Bundeswehr? Wäre es nicht schön, wenn "dieser unser" Kanzler Pershing- 1-Schrott quasi als Gastgeschenk mit in die UdSSR zu Michail Gorbatschow nimmt, wenn er denn im Oktober hinfliegt!? 

Wieder einmal ist mir in den wenigen Wochen seit Saryosek völlig klar geworden, daß es auf unsere energische und ausdauernde Kraft ankommt als Friedensbewegung, wollen wir Abrüstung bei uns und weltweit wirklich durchsetzen. Unser innenpolitischer Druck erst hat es der NATO, den USA und unserer Regierung unmöglich gemacht, dem einseitigen Schritt Gorbatschows zur Ermöglichung des INF-Abkommens nicht zu folgen - sie hätten ihre Glaubwürdigkeit vollständig eingebüßt. Ebenso ist es mit der Pershing 1 der Bundeswehr. Und: Gleiches gilt für die Sowjetunion, denn ohne breite gesellschaftliche Bewegung, Diskussion und, Unterstützung wird auch die Politik Gorbatschows nicht erfolgreich sein. 

Wir müssen bei uns weiter und immer wieder den politischen Druck auf die Regierung organisieren.  Die Herbstaktionen der Friedensbewegung bieten dazu genügend Gelegenheit
 

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Martin Gräbener arbeitet in der Arbeitsgruppe "Keine Grundgesetzänderung" der Friedenskoperative mit.