Über die Mühen, ein Thema rechtzeitig in die Medien zu bringen - und die Konsequenzen

Somalia: Verdrängter Straftatbestand

von Walter Michler
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Im diesjährigen Sommerloch unserer Informationsfabrikanten war plötzlich - über Bosnien-Herzegowina hinaus - weitere Betroffenheit, neues Entsetzen angesagt: Die somalische Apokalypse wurde zum ak­tuellen Medienthema. "30000 Tote allein in Mogadischu", "viereinhalb Millionen Menschen vom Hungertod bedroht", "Situation wie nach Atombombenexplosionen". Per Satellitenschüsseln kamen die Bilder aus den Hungerlagern direkt und "live" auf unsere Bildschirme: die ausgemergelten Knochengerippe der Kinder, das bitterliche Weinen der kleinen Kreaturen, die mit letzter Kraft an leeren Brüsten saugen -, nach wenigen Tagen Berichterstattung über das Bürgerkriegsinferno am Horn von Afrika war klar: Somalia ist schlimmer noch als Bosnien-Her­zegowina!

Aber: Wie kann es denn so plötzlich zu einer solchen Superkatastrophe kom­men, ein Massensterben ohne Voran­kündigung - wie ist das möglich? Beim "alten" Jugoslawien war das doch völlig anders! Da haben wir doch die Ent­wicklung zur Katastrophe Schritt um Schritt mit-gesehen, mit-gehört, mit-gelesen. Aber dieses Somalia! Da sprin­gen sich diese Neger plötzlich alle ge­genseitig an die Gurgel; komisch - die­ses wilde, schwarze Afrika. Nein, werte BürgerInnen, so, so war das alles nicht. Auch die somalische Katastrophe hat sich ganz allmählich entwickelt.

Noch bevor es in Bosnien-Herzegowina zum Schießen, Brandschatzen, Foltern und Morden kam, gab es das alles schon in Somalia; nicht nur gleich viel Schrecken, sondern noch viel, viel mehr davon. Nur: Da gibt es etliche Medien­gewaltige - sie hocken überall, bei den privaten und öffentlich-rechtlichen - Mediengewaltige also, die mir im März gesagt haben - als ich gerade aus dem Bürgekriegsinferno Somalias zurück­kam: "Du hast Dir das falsche Thema ausgesucht! - Somalia, das ist zu weit weg für unsere Zuschauer und Hörer." Immer wieder wurde mir das gesagt. Die auf den Redaktionsstühlen reagier­ten so, weil offensichtlich als Entschei­dungskriterien galt und gilt: "Schwarze Tote zählen weniger." Sonderberichter­stattung zuhauf übers alte Jugoslawien, monatelanges Verschweigen der somali­schen Katastrophe. So ist das nun mal in unserer rechtsstaatlichen Medienwet. Medien-Rassismus also, und ein Stück Verdummung der Öffentlichkeit.

Weil nicht berichtet wurde, geschah auch politisch nichts.

Doch dabei ist es nicht geblieben. Weil nicht berichtet wurde, weil das somali­sche Elend nicht hautnah auf den Bild­schirmen erschien, geschah auch poli­tisch - fast ein ganzes Jahr lang - absolut nichts. Die UNO verschlief die schwarze Apokalypse im New Yorker Glashaus, und der von Weißen domi­nierte Sicherheitsrat war in erster Linie mit dem alten Jugoslawien beschäftigt. Die Politik hielt sich ganz an das, was die Medien vorpraktiziert hatten: "Schwarze Tote zählen weniger."

All das hat verheerende Konsequenzen für das somalische Volk. Und das ist der eigentliche Skandal. Weil die Medien blind waren und die UNO nichts tat, es­kalierte die Katastrophe zur Superkata­strophe. Und diese Art Eskalation wäre vermeidbar gewesen.

Damit steht aber auch fest: Ein Großteil des somalischen Massensterbens geht auf das Konto des Auslands und dessen Stillhaltepolitik. Die internationale Ge­meinschaft hat sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, und dies ist - bis jetzt leider nur beim inlän­dischen Recht - ein Straftatbestand. Denn eine frühzeitige Intervention der Vereinten Nationen zu Beginn des Jah­res, die Berufung eines hochrangigen Sonderbeauftragten und die Entsendung von UN-Truppen hätten das jüngste Horrorszenario verhindern können. Doch diesem ersten Versagensrekord folgte bald ein zweiter, der mit allge­meinem Menschenverstand im Kopf gar nicht mehr zu begreifen ist. Wegen der "Anarchie total" in Somalia lassen sich Hilfsgüter nur unter dem Schutz auslän­discher Truppen verteilen. Ebenso wie es nur einer Interventionsmacht von au­ßen möglich wäre, die erforderlichen landesweiten Friedenskorridore für die Abwicklung der Nothilfe zu etablieren.

Nach wochenlangen Diskussionen be­schloß der Sicherheitsrat Ende Juli end­gültig die Entsendung von 500 UN-Sol­daten. Die sollten den See- und den Flughafen sowie einige Verkehrsachsen in der Hauptstadt Mogadischu schützen. Anfang September waren die "500" immer noch nicht in Mogadischu: Die Plünderungen von Hilfsgütern dauerten an, folglich konnten viele Hungernde nicht gerettet werden. Ende August be­schloß der Sicherheitsrat die Entsen­dung von weiteren 3000 Blauhelmen, verkündete aber gleichzeitig, an eine ra­sche Entsendung sei nicht gedacht. Die vornehmen UN-Diplomaten wollten zunächst noch die Zustimmung eines Bürgerkriegsgenerals namens Aideed einholen. Dem allerdings trieft das Blut von den Händen, und dessen Mannen sind erwiesenermaßen an den Plünde­rungen beteiligt.

Grund genug eigentlich, statt der Blau­helme eine militärische Eingreiftruppe unverzüglich nach Somalia zu chicken. Aber die UNO übt sich lieber in dem Verrenkungs-Kunststück, sich zu bewe­gen, aber dennoch stehen zu bleiben. Derweil sterben die Somalis weiter, und niemand regt sich ernstlich auf. Ganz in dieses Bild paßt denn auch, daß die Bundesrepublik bis in den September hinein praktisch nichts unternahm, um die UNO endlich auf Trab zu bringen und in entschlossener Weise zur Kon­fliktlösung beizutragen. Jener Minister, der bei seinem Dienstantritt Afrika einen höheren Stellenwert innerhalb der deutschen Außenpolitik versprochen hatte, dieser Chef des AA schickte nach monatelangem Zuwarten seinen Staats­minister nach Mogadischu für ganze acht Stunden.

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Walter Michler, geb. 1949, 1977 bis 1984 für Terre des Hommes - Initiierung und Betreuung zahlreicher Hilfsprogramme in Asien und Afrika. Dritte-Welt-Berichterstattung für Zeitungen, seit 1980 für alle Rundfunkanstalten der ARD. 1986 und 1991 "Journalistenpreis Entwicklungspolitik", 1989 Preis "Das politische Buch des Jahres" für "Weißbuch Afrika".