Soziale Verteidigung

von Christine Schweitzer

Angesichts unverminderten Wettrüstens, Plänen zur Neubelebung der westeuropäischen Verteidigungsunion und fortdauerndem Engagement der Großmächte in der sogenannten Dritten Welt ist die Friedensbewegung dringend gefordert, sich über vollständige Abrüstung Gedanken zu machen. Gerade in diesen Tagen erleben wir, daß die Abschaffung einzelner Waffensysteme keine Lösung bringt, da die Prinzipien der Abschreckung und der "berechtigten Lebensinteressen" der Industriestaaten in allen Kontinenten unberührt bleiben. Nur Entmilitarisierung - einhergehend mit genauso lebenswichtigen Wandlungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen - kann uns einer sicheren, lebenswerteren Gesellschaft näherbringen. Entmilitarisierung ist aber nicht umsonst zu haben. Wer ein Leben ohne Waffen will, muß sich der Frage stellen, wie sie oder er sich denn gegen Bedrohungen und Angriffe zur Wehr setzen will. Eine mögliche Antwort stellt die soziale Verteidigung dar, die einen dritten Weg neben dem Schreckgespenst "Gewalt oder Unterwerfung" öffnet.

FALSCHE FEINDBILDER Genauso wenig, wie in innergesellschaftlichen Konflikten auf gewaltfreie Aktion und zivilen Ungehorsam verzichtet werden kann, da die Regierenden in der Regel nicht be reit sind, auf Appelle zu reagieren, genauso wenig reicht politische Friedenssicherung aus, militärische Interventionen von außen zu unterbinden. Und hier muß ein häufig gehörtes Vorurteil gegen Soziale Verteidigung beseitigt werden: Es geht, zumindest bei den bundesdeutschen Vertreterinnen der sozialen Verteidigung, schon längst nicht mehr um die Frage: Was tun, wenn die Russen kommen? Es wurde erkannt, daß die tatsächlichen Bedrohungen eher von unseren Verbündeten und rechten Kräften der eigenen Gesellschaft herrühren, die eine Entmilitarisierung der BRD kaum hinnehmen dürften.

DIE MACHT DER VERWEIGERUNG
Soziale Verteidigung ist der Widerstand mit gewaltfreien, nicht-militärischen Mitteln gegen einen bewaffneten Angriff von außen (Invasion, Intervention) oder von ihnen (Putsch). Wir können sie auch weiter fassen und als gewaltfreie Verteidigung der Lebensweise und des Selbst-bestimmungsrechts gegen alle Arten von Aggression begreifen.

Jeder Aggressor, jeder Putschist, jede Herrschaft überhaupt, ist auf die Mitarbeit der Unterworfenen angewiesen. In den meisten denkbaren Konfliktfällen geht es darum, politische Macht über ein Volk oder eine Gruppe auszuüben oder/und ein Land ökonomisch auszubeuten.

Beides ist nicht denkbar ohne die Mitwirkung der Beherrschten. Diese soll - das ist der Grundgedanke der sozialen Verteidigung - dem Angreifer entzogen werden. Anstelle des Territoriums wird die Lebensweise verteidigt. Dies kann durch Streiks geschehen oder indem die Arbeit fortgesetzt, aber die Anordnungen des Gegners mißachtet werden ("dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration"). Was soll eine Regierung tun, wenn die Arbeiterinnen streiken, die Verwaltung ihre~ Anordnungen nicht nachkommt und ihre politische Propaganda mißachtet wird? Ohne eine große Zahl von Kollaborateurinnen kann sie die Arbeiten weder selbst erledigen, noch hinter jede/n Arbeiterin einen Bewaffneten stellen; der sie/ihn zu Gehorsam zwingt.
Die Nichtzusammenarbeit muß natürlich durch andere Methoden ergänzt werden: Behinderungsaktionen, wie Sitzblockaden, Go-Ins, Materialblockaden und Sabotage, tragen den Widerstand in die Öffentlichkeit und vor die Augen der Weltpresse. Auf der Gegenseite wird - soweit wie möglich - in Wort, Schrift und Bild ständig vor Augen geführt, daß sie sich im Unrecht befinden. (In der Tschechoslowakei wurde 1968 letzteres mit so viel Erfolg praktiziert, daß die Truppen der WVO-Staaten nach wenigen Tagen weitgehend ausgetauscht werden mußten.)

ERFOLGREICHE BEISPIELE
Es gibt allein in diesem Jahrhundert etliche Beispiele, wo mit gewaltfreien Methoden ein Putsch zum Mißlingen; eine militärische Besetzung zu ihrem Ende und Vorhaben von Regierungen zum Scheitern gebracht wurden. So gelang es mittels eines Generalstreiks, rechtsgerichtete Offiziere (unter Kapp), die 1920 gegen die junge Weimarer Republik putschten, schon nach wenigen Tagen zum Aufgeben zu zwingen. Die Aktionen zivilen Ungehorsams von Millionen Indern trugen entscheidend dazu bei, daß Großbritannien seine langwährende Besetzung des indischen Subkontinents aufgeben mußte. In Wyhl verhinderten die Anwohnerinnen mit gewaltfreien Aktionen den Bau eines AKW's auf dem Larzac, die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes und in Hainburg/Österreich den eines Donaustauwerks. Bedenkt mensch, daß dies keine eigentlichen Beispiele sozialer Verteidigung im Sinne eines geplanten und vorbereiteten gewaltfreien Wi-derstandes sind, so sind dies ganz erstaunliche Erfolge.

ABHALTUNGSTATIABSCHRECKUNG
Als der schwächste Punkt der sozialen Verteidigung wird häufig ihre abhaltende Wirkung - das Gegenstück zur Abschreckung - angesehen. Meine Überzeugung ist, daß zu dein Zeitpunkt; an dem gewaltfreie die militärische Verteidigung ersetzt, sie ihre Überzeugungskraft und Wirksamkeit schon so erwiesen haben wird, daß sie auch abhaltend gegenüber einem äußeren Gegner wirkt. Ein potentieller Aggressor muß sich nämlich vergegenwärtigen, daß
1. es ihm erschwert oder unmöglich gemacht wird, seine Ziele zu erreichen, da er gezwungen ist, alle Arbeiten, die er erledigt haben möchte, auch selbst zutun - ein Personalaufwand, dem kein angreifender Staat und erst recht kein Putschist gewachsen ist;
2. er in ernsthaften Legitimationsdruck gegenüber der internationalen Öffentlichkeit wie gegenüber seinen eigenen Leuten gerät;     
3. er hohe ökonomische Kosten einzukalkulieren hat. Selbstverständlich kann auch soziale Verteidigung mit einer Niederlage enden. Doch besteht diese Gefahr schließlich genauso bei der militärischen Verteidigung, selbst, wo diese nicht einem Selbstmord der VerteidigerInnen gleichkommt. Und der Verzicht auf Gewalt von einer Seite aus schafft u.U. günstigere Voraussetzungen, den Widerstand später wieder aufzunehmen.

EINFÜHRUNG VON OBEN ODER DURCHSETZUNG VON UNTEN?
Es gibt verschiedene Modelle, wie soziale Verteidigung durchgesetzt werden könnte. Das eine hofft, daß sie durch eine fortschrittliche Regierung - vielleicht zunächst in Kombination mit defensiver militärischer Verteidigung - eingeführt werden könnte. Das andere; das ich für das realistischere halte, geht davon aus, daß wir unsere Erfahrungen in sozialer Verteidigung im Kampf gegen unsere eigene Regierung werden gewinnen müssen, im Kampf für Entmilitarisierung, gegen Umweltzerstörung und gegen die Kriege der Europäer und Nordamerikaner gegen Länder und Bewegungen der sogenannten Dritten Welt.

Diese und andere Fragen werden übrigens Thema des Kongresses "Ohne Waffen - 'aber nicht wehrlos. Wege zur sozialen Verteidigung" sein, der vom 17. - 19. Juni 1988 in Minden/Westfalen stattfindet

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.