Studientag des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) und des Instituts für Friedensarbeit u. gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK) in Hannover

Soziale Verteidigung: Alte Klamotte oder Maßanzug für gegenwärtige und zukünftige Gefahrenabwehr?

von Renate Wanie

Hat die Soziale Verteidigung (SV), d.h. die gewaltfreie Alternative zu Militär und Krieg, als "Konzept des Kalten Krieges" ausgedient? Hieß es früher "Die Russen kommen" und wurden Verteidigungskonzepte auf dieses Drohszenario ausgerichtet, könnte es heute lauten "Die Amis kommen" - militärische Interventionen finden in Afghanistan, Irak und potenziell im Iran statt. Auch andere Bedrohungen, z.B. durch Terrorismus, lassen nach einer aktuellen Einschätzung der Sozialen Verteidigung fragen. Doch bevor Positionen vom Studientag vorgestellt werden, soll zunächst gefragt werden, welches Konzept der Sozialen Verteidigung (SV) zu Grunde liegt.

Konzept Soziale Verteidigung
Konstitutiv für die SV sind Grundsätze und Wirkungsweisen der gewaltfreien Konfliktaustragung. Nach dem herkömmlichen Verständnis ist SV ein Konzept, mit dem sich eine Gesellschaft wirksam gegen einen militärischen Überfall von außen, aber auch gegen eine gewaltsamen Staatsstreich von innen schützen kann. Mit dem Machtpotenzial, das in der Gewaltfreien Aktion liegt, sollen Institutionen und Werte der Zivilgesellschaft verteidigt, d.h. die Integrität einer Gesellschaft bewahrt werden. SV bedeutet auch die Abkehr von territorialer Verteidigung und gleichzeitig eine Alternative zur militärischen Verteidigung. Als politische Verteidigungsdoktrin gibt es das Konzept noch nicht, Elemente sind jedoch in historischen Ereignissen mit gewaltlosem Kampf gegen Militär und Gewaltsysteme zu finden, z.B. beim Kapp-Putsch 1920 in Deutschland, in Prag 1968, auf den Phillippinen 1986, in der DDR 1989, in Moskau 1991.

Ziel des Studientages war es, Konzepte und Erfahrungen mit SV auszuwerten, sie auf die aktuelle Anwendbarkeit hin zu überprüfen und eine Einschätzung zu gewinnen, ob es sich lohnt, an dem Konzept weiterzuarbeiten. Sehr gut vorbereitet von Christine Schweitzer (Nonviolent Peace-force) und von Barbara Müller (IFGK) haben zwanzig Menschen - Koryphäen aus der SV-Forschung und Aktive aus den Bewegungen in der BRD wie auch aus Italien und Afrika - teilgenommen. Acht ganz unterschiedliche Vorträge folgten dicht aufeinander zwischen kurzen Diskussionsrunden - jedoch so spannend und in guter Atmosphäre, dass kaum Ermüdung aufkam.

Verknüpfung mit zivilen Interventionen
Christine Schweitzer war skeptisch bzgl. der Relevanz von SV in heutigen Konflikten. Sie wies darauf hin, dass bei allen Spielarten der SV die Kooperation mit der Bevölkerung des besetzten Landes benötigt wird. Kerngedanke der SV sei, den Besatzern diese Kooperation zu entziehen, um ihre Kriegsziele unmöglich zu machen. Doch wo solle Nichtzusammenarbeit ihren Platz finden, wenn es beispielsweise um Sicherung von Rohstoffen, Siedlungsraum, Errichtung von Militärbasen oder um Vertreibung gehe? Christine Schweitzer stellte die These auf, dass die Reichweite von SV u.U. durch die Verbindung mit Methoden der gewaltfreien Intervention gesteigert werden könne. Bei der Propagierung von SV solle das Schwergewicht auf Abrüstung gelegt und so das Drohpotenzial verringert werden.

Durch die militärgestützte Interventionspolitik im Rahmen des Globalisierungs-Prozesses erhalte das Konzept der SV eine neue Relevanz, so die These von Renate Wanie, Mitarbeiterin in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden. In den militärisch bedrohten Ländern könne der gewaltfreie Widerstand nach bestimmten Kriterien durch gewaltfreie zivile Interventionen von Externen gestärkt werden. Dabei könne auf die in den letzten ca. 15 Jahren entwickelten Instrumentarien zurückgegriffen werden, wie z.B. auf Monitoring (im besetzten Land) und Boykott als Form der Nonkooperation (außerhalb des besetzten Landes). Neu wäre die Verbindung von gewaltfreier Intervention zur SV, was mit den Grundsätzen der SV kompatibel sei.

Bedrohungsszenarien
Auf welches aktuell plausible Szenario könnte das Konzept der SV noch angewen-det werden, fragte Theodor Ebert, Vordenker der SV in der BRD. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen prog-nostizierte Ebert ein Anwachsen der Widersprüche innerhalb des bestehenden Systems und damit einhergehend wahrscheinlich größere Krisen. Doch wer ist der Feind, der die Vorbereitung auf SV legitimiert? Gefahren stellen nach Theodor Ebert auch der Rechtsextremismus und der internationale Terrorismus dar, doch solle die Existenzberechtigung der SV nicht mit ihnen gerechtfertigt werden. Ebert plädierte dafür, wieder mehr über eine alternative Sicherheitspolitik mit gewaltfreien Mitteln zu reden.

Von unten aufbauen
Der Aktivist und Friedensforscher Wolfgang Sternstein thematisierte die Anwendbarkeit von SV auf einen konkreten innergesellschaftlichen Konflikt, den Atomwaffenabzug aus Deutschland. Er stellte ein mehrstufiges, langfristiges Kampagnenkonzept zur Umrüstung vor. Nach Gandhi müsse die Gesellschaft zunächst in Richtung Gewaltfreiheit umgestaltet werden. Die SV könne nicht "von oben" durch den Staat eingeführt, sondern nur in einem jahrzehntelangen Prozess im gewaltlosen Kampf aufgebaut werden.

Auch Berthold Keunecke vom Vorstand des BSV hob die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen hervor, die Voraussetzungen für eine SV seien: Dezentralität in Politik und Konturen einer "auf Gewaltfreiheit fußenden Gesellschaft", die nicht leicht von Aggressoren usurpiert werden könnten. Für solch eine Utopie propagierte Berthold Keunecke das Einüben der Methoden des gewaltfreien Kampfes, die - aus den sozialen Bewegungen entsprungen - bereits jetzt alternative (sicherheits)politische Handlungsmöglichkeiten darstellten. Das Konzept der SV müsse heute bedeuten: Empowerment, Politisierung und Wegweisung gegen die aktuellen Bedrohungsängste und Ohnmachtsgefühle.

Ansätze in Italien
Den Terrorismus als aktuelle Bedrohung führt auch Francesco Tullio an, Psychotherapeut und Honorarpräsident des Forschungszentrums für Zivile Verteidigung in Rom. Terrorismus kennzeichnete er als politische Strategie mit gezielter Gewaltausübung, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Sein Wirkungsziel richte sich gegen den psychosozialen Zusammenhalt einer als "gegnerisch" identifizierten Gruppe oder Gesellschaft. Für den Fall von SV sollten daher nicht nur taktische und strategische zivile Verteidigungsprogramme berücksichtigt werden. Auch sozialpsychologische Aspekte wie Angst, Flucht und Aggression seien von zentraler Bedeutung genauso wie ökonomisch-politische und müssten für die Konflikttransformation weiter erforscht werden. In Italien werde derzeit geprüft, wie die SV gesetzlich verankert werden könnte - innenpolitisch wie auch international angewendet.

... und Afrika
Über weitgehend unbekannte organisierte gewaltfreie Aktionen in Kenia, Togo und Angola, überliefert aus der Praxis afrikanischer Streitkultur, die nicht in den Geschichtsbüchern stünden, informierte der Journalist Emanuelle Matondo. Exemplarisch berichtete Matondo von einer im großen Maßstab angelegten gewaltfreien Aktion mit hunderttausend Menschen im vom Militär regierten Togo. An einem so genannten "Tag der toten Stadt" verließen die Bewohner/-innen zu einem bestimmten Zeitpunkt und Zeitraum die Straßen und erreichten dadurch die zunächst von der Regierung verhinderte Durchführung von Wahlen. Eine bei der Organisierung der Aktionen wichtige Rolle spiele die aus der gewaltfreien Bewegung entstandene Einrichtung "Balabanda". Auch eine große Zahl von Kriegsdienstverweigern stelle mittlerweile ein echtes Problem für die Herrschenden z.B. in Angola dar. Generell sei es schwer, in despotisch regierten Ländern aus dem Gewaltzyklus herauszukommen. Doch gerade Diktaturen müssten mit der öffentlichen Meinung konfrontiert und "Der 3. Weg ohne Uniform" weiter bekannt gemacht werden.

Soziale Verteidigung weltweit
Die Friedensforscherin Barbara Müller brachte mit einer Internet-Recherche erfreulich vielfältige weltweite Aktivitäten zu Tage: SV wird als Teilaspekt gewaltloser kollektiver Konfliktaustragung weiterhin erforscht und auf verschiedenen Ebenen auch methodisch angewendet - von Europa (z.B. Baltikum) über Asien (Taiwan) bis nach Australien. Als Alternative zur militärischen Verteidigung wird die SV derzeit nicht eingesetzt. Als weltweit kleinsten gemeinsamen Nenner von SV formulierte Barbara Müller die "kollektive Fähigkeit zur zielgerichteten, gewaltlosen Machtentfaltung in eskalierten Konflikten" von ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen. Schließlich nahm sie die aktuelle Kritik an dem EU-Verfassungsvertrag auf und regte an, eine radikale Alternative zur Militarisierung der EU zu entwerfen und damit auf eine weitergehende Abrüstung zu drängen. Damit würde das Konzept der SV zu einer wirklichen europäischen Friedenspolitik führen.

Wie weiter?
Auffallend war am Ende, wie häufig in den Debatten mit allen Teilnehmern/-innen das weite Verständnis der SV angesprochen wurde, das die SV nicht nur im Fall einer militärischen Intervention einsetzt, sondern z.B. auch bei der Verteidigung von ökologischen Bedrohungen oder zur "Bewahrung sozialer Errungenschaften". Bei der Frage nach der aktuellen Anwendbarkeit wurde abschließend angeregt, die aktuellen Bedrohungssituationen zu analysieren, Fallstudien durchzuführen, einen zweiten Studientag folgen zu lassen und eine neue Broschüre mit aktuellen Auffassungen von SV zu erstellen. Mit Blick auf das heutige Deutschland wurde gefragt, welches Interesse die Mehrheit der Bevölkerung veranlassen könnte, das bestehende Sicherheitskonzept, das auf Militär beruht, abzulehnen und sich auf den zivilen Widerstand vorzubereiten.

Ob es sich lohnt, an dem Konzept der SV weiterzuarbeiten, werden eine Auswertung und die Dokumentation des informativen Studientages zeigen. Sicherlich ist das Potenzial gewaltloser kollektiver Konfliktaustragung noch längst nicht ausgelotet und "möglicherweise kann es noch viel erfolgreicher sein!" (Müller).

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund