6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Tagungsbericht: Internationale Konferenz zur Sozialen Verteidigung
Soziale Verteidigung auf dem Prüfstand
vonAm 6. und 7. September 2024 fand die Online - Konferenz „Civilian-based Defence put to the Test - Current Issues and practical Challenges” (Soziale Verteidigung auf dem Prüfstand – aktuelle Themen und praktische Herausforderungen) statt.
Was braucht eine auf die Bedürfnisse unserer Zeit zugeschnittene Soziale Verteidigung? Dieser Frage widmeten sich Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus allen Teilen der Welt in einer zweitägigen Online-Konferenz Anfang September.
Wir leben in einer Zeit vieler Herausforderungen. Das mag vielleicht für alle Zeiten auf ihre Art gelten – aber gerade angesichts allseits aufflammender gewaltsamer, militärischer Konflikte und sozialer Spannungen ist es wichtig, sich als Zivilgesellschaft in die verteidigungspolitische Debatte einzumischen und diese um gewaltfreie Möglichkeiten zu ergänzen.
Aktueller Forschungsstand und neue Forschungsrichtungen
Seit ihrer Entwicklung in Kreisen der Friedens- und Konfliktforschung vor dem Hintergrund einer drohenden atomaren Eskalation im Kalten Krieg ist die Vielzahl der praktischen Dimensionen Sozialer Verteidigung deutlich geworden. Spezifische Fragen, die sich seither ergeben haben - etwa zur Organisierbarkeit Sozialer Verteidigung, zu den Herausforderungen neuer Technologien und Techniken der Überwachung und Repression, aber auch zur Wirksamkeit von Gewaltfreiheit – sind bislang kaum aufgegriffen worden.
Gleichzeitig sind neue Forschungszweige entstanden, z.B. zum zivilen Widerstand (Resistance Studies, neuere Protestforschung), zu gerechten und resilienten Gesellschaften (z.B. Postcolonial Studies, Transformation Studies, Sustainability Studies) oder zur Organisation von Revolutionen und Kampagnen, deren Ergebnisse noch nicht systematisch in den Rahmen der Sozialen Verteidigung als praktische Handlungsmethode übertragen wurden.
Daher haben das Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK), der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und die Kampagne Wehrhaft ohne Waffen (WoW) diese Online-Konferenz organisiert. Auf einen breit angelegten Konferenzausruf („Call for papers“) hatten sich Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus allen Erdteilen gemeldet, die ein breites Themenspektrum abdecken konnten.
Erfahrungen aus der Praxis - gelungen kombiniert mit theoretischen Erkenntnissen
Nach einem einführenden Blick auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand in der Sozialen Verteidigung wurde es zunächst praktisch. Berichte von Methoden angewandter Sozialer Verteidigung bzw. kollektiven Schutz- und Verteidigungskonzepten aus so unterschiedlichen Ländern wie der Ukraine, dem Sudan und Kolumbien zeigten die Bandbreite an zivilen Möglichkeiten und Herausforderungen auf. Felipe Daza stellte die Ergebnisse seiner Studie zu zivilem Widerstand in der Ukraine seit März 2022 vor (1). María Cárdenas Alfonso erläuterte anschaulich die autonomen Schutzsysteme der Guardías in Kolumbien. Durch die Bildung unabhängiger, integraler Sicherheitssysteme praktizieren indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden kollektiven Selbstschutz, um das Leben und Überleben ihrer Gemeinden und Weltauffassung zu sichern.
Am Beispiel Sudans wiederum konnte beleuchtet werden, wie im Rahmen der Dezember – Revolution 2019 durch Nachbarschaftsausschüsse und andere Organisationen gegenseitige Hilfe und andere Formen der organisierten kollektiven Fürsorge aufgebaut wurden – und angesichts der erneuten Eskalation seit Dezember 2023 einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Bürger*innen leisten. Spannend ist an dieser Stelle, die Impulse aufzugreifen und für unsere hiesigen Verhältnisse zu übersetzen. Den Blick für nicht-eurozentrische Perspektiven und Erfahrungen zu öffnen, kann für die Aktualisierung der SV nur stärkend wirken.
Durch die Bandbreite an Beiträgen kamen darüber hinaus sowohl diejenigen Teilnehmer*innen, die eher an einer philosophischen Betrachtung des Themas interessiert waren, wie beispielsweise den persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für gelingende Gewaltfreiheit, als auch diejenigen Zuhörer*innen, die vor allem am aktuellen wissenschaftlichen Stand interessiert waren, auf ihre Kosten. So beleuchtete Julia Nennstiel die aktuelle empirische Datenlage zu gewaltfreiem Widerstand und die Erkenntnisse, die daraus für den Aufbau und die Organisation zivilen Widerstands gezogen werden können.
Besonders intensiver Diskussionsbeiträge erfreuten sich die praxisbezogenen Foren: So diskutierten Jochen Neumann, Geschäftsführer der KURVE Wustrow und Kurt Jäger, Informatiker und Mitglied bei FifF – Forum Informatiker*innen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, die aktuellen technischen Möglichkeiten der Datenermittlung und die damit einhergehenden Überwachungsmöglichkeiten und deren Auswirkungen auf die Organisation zivilen Widerstands von unten. Wichtige Erkenntnisse waren an dieser Stelle, dass die Möglichkeiten technischer Überwachung weit fortgeschrittener sind, als das, was rechtlich erlaubt ist. So können z.B. relativ leicht Bewegungs- und Beziehungsprofile erstellt werden. Gleichzeitig wurde auch hier sichtbar, dass gerade die Beziehungsebene, die persönlichen Kontakte zwischen Menschen, klar die Basis für zivilen Widerstand darstellt und somit sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche ausmacht.
Soziale Verteidigung ist mehr als Widerstand: Fokus auf soziale Beziehungen als Grundlage für eine moderne Interpretation
Diese Erkenntnis tauchte immer wieder in verschiedenen Beiträgen auf, und daher war es nur angemessen, dass Molly Wallace in diesem Sinne ihren Keynote-Talk dem Beziehungsaufbau als Widerstandsakt an sich gewidmet und damit einen stimmigen Hintergrund für die weiteren Beiträge dieser Konferenz schuf.
Gerade die Bedeutung der Pflege der sozialen Beziehungen und inklusiven Netzwerke als Basis für eine resiliente Zivilgesellschaft wurde für viele Teilnehmende als wichtiger neuer Aspekt benannt, ebenso wie die Ausweitung des Konzepts auf Aspekte transformativer Gerechtigkeit. Normativ gerahmt bedeutet dies eine Befruchtung der Debatte darüber, wie Soziale Verteidigung im 21. Jahrhundert so ergänzt und erweitert werden kann, dass sie den neuen Herausforderungen gewachsen ist und zeitangemessene, dynamische Antworten bereithält, ohne in ihrem Kern verwässert zu werden. (2)
Anmerkungen
1 https://wfga.de/2022/11/24/ukrainischer-widerstand-im-angesicht-des-krie...
2 Die Tagungsbeiträge werden schriftlich dokumentiert und von Irene Publishing (Schweden) in Kooperation mit den Veranstaltern (*innen?) herausgegeben werden.
Nele Anslinger ist Koordinatorin der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ und hat die Konferenz mit organisiert. Weitere Inforationen unter www.wehrhaft-ohne-waffen.de