Soziale Verteidigung: Wie relevant ist sie heute?

von Brian Martin

Truppen versammeln sich an der Grenze.
Sie planen eine Invasion und Übernahme des Landes.
Wir sind vorbereitet. Unsere Gesellschaft hat keine Armee mehr.
Wir sind auf Widerstand vorbereitet – gewaltfreien Widerstand.

Wir werden alles so weiterführen, wie wir es wollen. Falls die Truppen versuchen, eine Fabrik zu übernehmen, werden sich die ArbeiterInnen weigern. Falls notwendig, wissen sie, wie man die Produktion mit Hilfe von Computer-Notfallcodes lahmlegt.

Wir werden uns weigern, zu tun, was die Invasoren wollen. Stattdessen werden wir Proteste organisieren, von Mahnwachen bis zu amüsierenden Aktionen, um die Soldaten zum Lachen zu bringen.

Wir sind darauf vorbereitet, mit den Soldaten zu reden. Viele von uns haben ihre Sprache gelernt und sich über ihre Kultur und die Art und Weise, wie sie denken, informiert. Wir werden sie persönlich kennenlernen und versuchen zu überzeugen, dass sie ihre Einstellung ändern. Wir werden ihnen Jobs und andere attraktive Alternativen anbieten. Wir haben die Psychologie positiver Anreize und Verfahren effektiver Kommunikation studiert.

Wir werden ein umfassendes Informations- und Kommunikationssystem aufbauen. Wir sind in der Lage, alles zu dokumentieren, was die Soldaten tun, besonders jegliche Übergriffe. Wir werden die Information an unsere UnterstützerInnen bei uns und in aller Welt verteilen. Wir haben sichere Verfahren, miteinander zu kommunizieren.

Wir haben dies viele Jahre lang geplant. In der Tat werden wir den Angriff nutzen, um in benachbarten Ländern einen Regimewechsel helfen durchzusetzen, indem wir unsere Entschlossenheit zeigen und demonstrieren, dass Verteidigung ohne Gewalt ein besserer Weg ist.

Das Konzept der Sozialen Verteidigung
Dies ist ein Szenario, wie eine Gesellschaft ohne Militär verteidigt werden kann. Diese Art System trägt verschiedene  Namen, darunter Soziale Verteidigung, gewaltfreie Verteidigung, zivile Verteidigung (englisch: civilian-based defence) und Verteidigung durch zivilen Widerstand. Es bedeutet in seinem Kern, dass Menschen sich so organisieren, dass sie mit Methoden der gewaltfreien Aktion einen Angriff abwehren und abhalten können.

Einige frühe VertreterInnen der Gewaltfreiheit dachten über die Möglichkeit Sozialer Verteidigung nach. In den 1950er und 60er Jahren entwickelten Pioniere aus verschiedenen Ländern – in Deutschland Theodor Ebert – die Idee einer Sozialen Verteidigung mehr im Detail, einschließlich psychologischer, sozialer und praktischer Elemente. In den 80er Jahren war Soziale Verteidigung dann von AktivistInnen verschiedener Länder, vor allem in Westeuropa, aufgegriffen worden.

Viele Friedensbewegungs-Kampagnen haben spezifische Ziele, z. B. einem bestimmten Krieg wie dem im Irak zu widerstehen oder gegen eine bestimmte Waffenart wie Atomwaffen zu protestieren. Diese Kampagnen zielen nicht darauf, dass Militär insgesamt loszuwerden.

Vor den 80er Jahren waren es vor allem PazifistInnen – jene, die jede Gewalt ablehnten – gewesen, die das Ende jeglichen Krieges suchten. Doch PazifistInnen ersehnten eine Welt ohne Konflikt. VertreterInnen Sozialer Verteidigung wollen eine Welt ohne Militär, in dem es immer noch reichlich Konflikte gibt – alle gewaltlos ausgetragen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges brach die Friedensbewegung zusammen und mit ihr viel von dem Interesse an Sozialer Verteidigung. Was ist ihre Relevanz heute? Es gibt drei Möglichkeiten: Als ein Ziel, als ein Leitfaden und als eine Methode.

Soziale Verteidigung als ein Ziel
Soziale Verteidigung als ein Ziel bedeutet, sie mit den üblichen Techniken zu realisieren suchen: Gruppen organisieren, Pläne entwickeln, Informationen weitergeben, Menschen überzeugen und versuchen, Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen – ja sogar Regierungen zu gewinnen. Dies ist der Ansatz, der von AktivistInnen bis heute betrieben wurde – aber mit wenig Erfolg.

Die meisten Mitglieder von Friedensgruppen haben kein großes Interesse an langfristigen Alternativen und wollen lieber eine Kampagne zu etwas betreiben, was praktischer erscheint.

Für die breitere Öffentlichkeit klingt das Konzept der Sozialen Verteidigung unrealistisch. Wenn Menschen “Verteidigung” hören, denken sie an militärische Verteidigung. Denn schließlich sagt ja jede Regierung, dass ihre eigenen Truppen für die Verteidigung da sind. Die Medien und Hollywood-Filme nehmen an, dass die einzige effektive Art und Weise, auf Aggression zu reagieren, die mit Gewalt sei. Für viele Menschen ist die Idee der Sozialen Verteidigung so fremd, dass sie lächerlich scheint. Ohne Unterstützung durch die Öffentlichkeit ist es schwierig, Druck zu erzeugen, um Soziale Verteidigung voranzubringen, denn Regierungen und das Militär bilden ein machtvolles Bollwerk militärischer Verteidigung.

Soziale Verteidigung als ein Leitfaden
Soziale Verteidigung als ein Leitfaden bedeutet, das Ziel der Sozialen Verteidigung zu benutzen, um politische Zielsetzungen und Kampagnen zu beurteilen. Die grundlegende Herangehensweise ist zu fragen: “Würde das  Menschen helfen, ihre Gemeinschaft gewaltfrei zu verteidigen?”

Zum Beispiel, wenn man an das Design eines Hauses denkt, wird dieses von Architekten und Käufern beeinflusst, welche Kriterien wie Kosten, stabile Struktur, Ästhetik, Energieeffizienz und andere Faktoren berücksichtigen. Man füge Soziale Verteidigung hinzu: Welche Art von Design wäre am besten, um einer Gemeinschaft zu helfen, sich gewaltfrei zu verteidigen? Vermutlich eine, die regelmäßige Interaktion (um Solidarität in der Verteidigung zu fördern), Umfassendheit (weniger Obdachlose, mehr Solidarität) und Selbst-Genügsamkeit (um Überleben einfacher zu machen, sofern die Angreifer den Strom und andere Dienstleistungen unterbrechen) fördert.

Der gleiche Ansatz kann auf Energiesysteme, Transportwesen, Bildung, psychiatrische Gesundheitsdienste, Sport, Sprachkenntnisse und kulturelles Verständnis angewendet werden. Besonders wichtig ist Kommunikation: Technologien der Netzwerk-Kommunikation wie Telefon, Email und SMS eignen sich besonders für das Sich-Organisieren an der Basis, während Massenmedien wie Fernsehen und Radio leichter von repressiven Regierungen kontrolliert werden können – wie  man deutlich in Ländern wie Burma, China und Saudi-Arabien beobachten kann.

Mit Sozialer Verteidigung als Leitfaden können viele kleine Entscheidungen von Individuen und Politikgestaltern die Gesellschaft allmählich in Richtung auf größere Selbstverantwortung in Bezug auf Fähigkeiten, Einstellungen und Technolgien bringen und die Fähigkeit zur Sozialen Verteidigung steigern, sofern die Notwendigkeit für sie entsteht.

Soziale Verteidigung als eine Methode
Soziale Verteidigung als Methode bedeutet, gewaltfreie Aktion als Instrument in Kampagnen und im alltäglichen Leben zu nutzen. Und natürlich passiert dies schon ständig – jedes Mal, wenn Menschen gewaltfreie Aktion einsetzen. Dies schließt Aktionen mit hoher Aufmerksamkeitswirkung ein, die von erfahrenen AktivistInnen organisiert werden, z. B. Massendemonstrationen und Blockaden. Es schließt auch Aktionen ein, die vertraut sind, z. B: Streiks, die von Organisatoren wie TeilnehmerInnen nicht als gewaltfreie Aktion verstanden werden.

Es gibt auch Handlungsfelder, an die man gewöhnlich nicht in Begriffen gewaltfreier Aktion denkt. In einem Geschäft können ArbeiterInnen sich z. B. weigern, mit einem autoritären Chef zusammenzuarbeiten und stattdessen jene unterstützen, die zu seinen Opfern werden. In einer Kirche mögen Frauen sich organisieren, um Gleichbehandlung zu verlangen. Die Techniken, die innerhalb von Organisationen verwendet werden, schließen oftmals Networking- und Kommunikationsfähigkeiten ein, die vielleicht nicht dramatisch sind, aber effektiv sein können – und die Teil von dem sind, was die Veränderung von menschlichen Beziehungen verursacht.

Es gibt einige neue Felder, die durch die Kommunikationstechnologie geschaffen wurden. Cyberaktivismus beeinhaltet Werkzeuge wie Email und SMS, um Aktionen  zu organisieren, z. B. solche, die ohne eine zentrale Organisation auskommen. Cyberaktivismus schließt auch Aktionen ein, die völlig in der virtuellen Sphäre stattfinden, z. B. die Nutzung von Verschlüsselung, um Überwachung zu verhindern oder Wege zu finden, Regierungszensur zu durchbrechen.

Die Verwendung von gewaltfreier Aktion auf herkömmliche und neue Weisen erfordert Menschen, die in Begriffen von Taktik und Strategie denken und ihre Fähigkeiten, Netzwerke und Macht nutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Je mehr Menschen an solchen Anstrengungen beteiligt sind, umsomehr werden sie die Fähigkeiten und das Vertrauen entwickeln, überall dort gegen Unrecht vorzugehen, wo sie es sehen – einschließlich dem eines größeren Angriffs.

Bedrohungen
In einigen wenigen Ländern gibt es das Risiko der Invasion, der klassischen Bedrohung aus  den Schriften über Soziale Verteidigung. Aber die gewöhnlichere Form der Bedrohung entsteht in der eigenen Gesellschaft: ungerechte Regierungspolitik, wachsende Einschränkungen der Bürgerrechte und Machtkonzentration bei Regierungen und Unternehmen und unterdrückerische globale Abmachungen.

Soziale Verteidigung in einem weiten Sinne bedeutet, dass Menschen ohne Gewalt gegen nichtgewollten Wandel in der Gesellschaft vorgehen. Das Militär loszuwerden ist kurzfristig sehr schwierig. Es ist viel vielversprechender, die Handlungs-Fähigkeiten und -Erfahrung in den unterschiedlichsten Gebieten und beim strategischen Denken von Menschen zu fördern. Das wird die Basis für effektiven Widerstand gegen auftauchende Bedrohungen legen.

Übersetzung: Christine Schweitzer

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Brian Martin ist Professor für Sozialwissenschaften an der Universität von Wollongong, Australien, und Autor von Büchern und Artikeln über gewaltfreie Aktion. Er ist aktiv in der Gruppe Schweik Action Wollongong, die gewaltfreiheitsbezogene Forschungsprojekte auf der Ebene der Gemeinschaft durchführt.