Sozialpartnerschaft in neoliberalen Zeiten?

von Otto Meyer

Die westdeutschen Gewerkschaften hatten im Nachkriegsdeutschland eine beachtliche Erfolgsbilanz vorzuweisen. Ihre Politik der Sozialpartnerschaft, d. h. weitgehend im Konsens mit den Arbeitgeberverbänden und durch Lobbyarbeit bei den Regierungen zu agieren, hat sich für ihre Mitglieder - letztendlich für den Großteil aller abhängig Beschäftigten - zumindest in den ersten vier Jahrzehnten mit allgemeinem Wirtschaftswachstum und steigenden Löhnen ausgezahlt. Nicht nur die Nettoentgelte, auch die sozialen Absicherungen für fast jedermann und jedefrau haben zwar nie skandinavische Verhältnisse aufweisen können, doch im Vergleich zur Zwischenkriegszeit schien eine materielle Versorgung sowohl der Arbeiterschaft wie auch der auf Sozialtransfers Angewiesenen erreichbar, die auch weite Teile der Unter- und unteren Mittelschicht in das System der Marktwirtschaft und damit in den Kapitalismus des Westens integrierte.

Als jedoch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Konjunkturen aus dem Nachkriegsneuaufbau ihr Potential ausgeschöpft hatten und auch keynesianische Staatsinterventionen die Verwertungsprobleme aus der weiter wachsenden Kapitalakkumulation nicht mehr zu lösen vermochten, geriet die Politik der Sozialpartnerschaft in Konflikt mit den Mehrwert- und Profiterwartungen der großen Kapitalbesitzer. Die Volkswirtschaften wurden und werden seither vielfachen neoliberalen Programmen zur Systemänderung unterworfen, Ziel ist die Durchsetzung von Wettbewerbs- und Marktgesetzen auffallen Ebenen: Deregulierung bestehender Schutzrechte sowohl im Arbeitsbereich wie für Umweltbelange; Privatisierung bisheriger öffentlicher Güter; Rücknahme und Umbau sozialer Absicherungen, um den „aktivierenden Sozialstaat" zu etablieren; Aufhebung bestehender Regeln und staatlicher Begrenzungen für Kapital- und Warenverkehr, Instrumentalisierung der nationalen Volkswirtschaft für den Standortwettbewerb; Umrüstung der Bundeswehr zur weltweiten Interventionsarmee für die Absicherung neo liberaler Globalisierungsstrategien, etc. Vorrangiges Ziel ist, die Profitabilität der Geldvermögen sicherzustellen, weshalb die „Unkosten" wie Löhne. Sozialabgaben, Steuern weiter zu minimieren sind. Dahin dümpelnde Binnenkonjunktur, Massenarbeitslosigkeit Verschuldung und Verarmung werden nicht nur billigend in Kauf genommen, es sind nützliche Instrumente, um Lohn- und Sozialdumping entsprechend den Marktgesetzen weitervoranzutreiben.
Die deutschen Gewerkschaften haben lange gebraucht, um die Aufkündigung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite auch nur in Ansätzen zu realisieren - viele, wahrscheinlich der Großteil der lang gedienten Funktionäre, ja ganze Einzelgewerkschaften wie die IG Bergbau, Chemie, Energie wollen die völlig veränderte Situation bis heute nicht wahrhaben. Die neoliberale Konter-Reform ist ja auch in der BRD solange nur in sehr moderater Ausprägung angewandt worden, wie eine sog. sozialistische Alternative in Gestalt der DDR zu bestehen schien. Und auch nach deren Auf-geben und Aufgehen ins große Deutschland folgte zunächst für ein, zwei Jahre der über Staatsschulden finanzierte Vereinigungsboom. Ab Mitte der neunziger Jahre allerdings ist das „Reform"-Tempo rasant beschleunigt worden. Die Arbeitslosenzahlen stiegen wieder sprunghaft an, die Staatsverschuldung ebenfalls, und viele neue Einschnitte ins „soziale Netz" wurden vorbereitet. Die Gewerkschaften aber blieben fast bis heute bei ihrer Politik der Sozialpartnerschaft, allerdings wurden sie darin zu einer völlig veränderten Strategie gezwungen( ... ) - geordneter Rückzug statt Angriff. Moderate Lohnabschlüsse .und Senkung der Lohnnebenkosten sollten angeblich die deutsche Wirtschaft wieder flott machen. Die Gewerkschaften haben große Erwartungen in die 1998 gewählte Regierung aus SPD und Grünen gesetzt-allerdings die Unternehmerverbände und Kapitalkräfte auch. Und Letztere saßen am längeren Hebel. Hilmar Kopper, seinerzeit Chef der Aufsichtsräte von Daimler-Crysler und Deutsche Bank, war sich 1999 in Bezug auf SPD und Grüne sicher, dass die „Veränderungen des Sozialstaates" erst unter Rot-Grün gelingen würden: „Wahrscheinlich müssen die heiligen Kühe von denen geschlachtet werden; die an ihrer Aufzucht am eifrigsten beteiligt waren." (Hamburger Abendblatt, 4:11. 99). Er sollte Recht behalten. Wohl nur ein Vorstandsmitglied der großen lG Metall wie Walter Riester im Ministeramt konnte die paritätische Finanzierung bei der Altersversorgung zu ungunsten der Arbeitnehmer und den Einstieg in die Privatrente mit gravierenden Absenkungen der gesetzlichen Rente durchsetzen. Seinerzeit gab es Protestkundgebungen und spontane Arbeitsniederlegungen bei VW und bei Mercedes - die Gewerkschaft sorgte für baldige Beruhigung. ( ... )
Schröders Agenda-Gesetze sind sämtlich von den Arbeitgeberverbänden oder privaten Beraterfirmen vorformuliert worden, die schlimmen Hartz-Gesetze vom VW-Arbeitsdirektor. Der Ausgang ist bekannt: über fünf Millionen Arbeitslose in der offiziellen Statistik, noch ein mal 3-4 Millionen nichtamtlich Erfasste ohne Arbeit. Viele Millionen in Mini- bzw. Midi-Jobs oder in einem wachsenden Niedriglohnsektor=working poor in Germany. Marginale Wachstumsraten, weiterer Abbau der versicherungspflichtigen Vollarbeitsplätze, seit Jahren erreichen die Nettolohnzuwächse nicht einmal mehr die Preissteigerungsraten. Aber die Gewinne der großen Konzerne erreichen von Jahr zu Jahr höhere Zuwächse, bei Bekanntgabe der exzellenten Ergebnisse erfolgt zur weiteren Einschüchterung aller noch Beschäftigten jeweils öffentlichkeitswirksam die Ankündigung, noch mehr Stellen müssten wegfallen. Die Brutto-Lohnquote am Volkseinkommen ist seit 1991 von 71 auf 67 Prozent gesenkt worden, zugunsten der Gewinneinkommen. Allein die Geldvermögen in der BRD haben sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Aber die enormen Zugewinne werden nicht hier im Land reinvestiert und schon gar nicht in neue Arbeitsplätze. Sie dienen zu Firmeneinkäufen in aller Welt oder fließen in lukrativere Staatsanleihen der USA, womit die westliche Führungsmacht ihre „Kriege gegen den Terror" finanziert.
Die deutschen Gewerkschaften sind fast völlig in die Defensive geraten. ( ... ) Die neoliberalen Deregulierungen des Arbeitsmarktes mit durchlöcherten Kündigungs- und Anstellungsgesetzen lassen in vielen Unternehmen eine Mentalität des Heuerns und Feuernsaufkommen. Die Analysten an den Börsen jubeln: Es herrscht Klassenkampf in Deutschland, Kapital gegen Arbeit. Allerorten versuchen die Wirtschaftslenker, das Machtgefüge zu Lasten der Gewerkschaften zu verschieben. (Die Welt, 14. 7. 04)

Der Klassenkompromiss aus den Zeiten des Rheinischen Kapitalismus ist von Unternehmerseite schon länger aufgekündigt, das Konzept der Sozialpartnerschaft ist von der neoliberalen Konterreformbewegung längst ad absurdum geführt worden. Spätestens mit dem fast vollständigen Einkauf der SPD und der Grünen Partei durch die Kapitalseite müssten die Arbeitnehmervertretungen aus ihren Sozial-Partnerschaftsträumen aufgewacht sein. Sie haben nur die Wahl, den Kampf aufzunehmen, ihre Mitglieder aufzuklären und zu Streiks und Protestaktionen aller Art zu mobilisieren, oder sie werden zu harmlosen Versicherungskonzernen degenerieren wie ein Teil der traditionellen US-Gewerkschaften.
Doch wenn die Arbeiterschaft das Kämpfen gegen die asozialen, Leben zerstörenden Kapitalkräfte auch hierzulande wieder lernte, könnten und müssten die Gewerkschaften Verbündete aus anderen sozialen, umwelt- und friedenspolitischen Bewegungen gewinnen. Alle abhängig Beschäftigten und alle auf Sozialtransfers Angewiesenen haben ein Interesse an einem auskömmlichen Leben in sozialem Frieden, an einer lebenswerten, intakten Umwelt, streben auch in den internationalen Beziehungen nach Frieden und Solidarität mit allen Menschen.
Bedeutende Teile der deutschen Gewerkschaftsführungen scheinen die Zeichen derzeit verstanden zu haben. So lädt die IG-Metall inzwischen Referenten aus sozialen Einrichtungen, Dritte-Welt-Gruppen, attac, den Friedens- und Umweltbewegungen zu Vorträgen und Seminaren in ihre Bildungseinrichtungen ein. Der 2. April 2004 als Protesttag gegen die unsoziale Agenda-Politik mit über 300 000 Teilnehmern aus Gewerkschaften und den unterschiedlichsten Gruppen war solch ein Ereignis. Es bedürfte der regelmäßigen Wiederholungen, Streiks und massenhafte Proteste wie in Frankreich oder Italien auch bei uns könnten den weiteren neoliberalen Durchmarsch - jetzt der „vielen, kleinen Schritte" der Merkel-Müntefering- Regierung - mit Koordinierung durch die EU-Bürokratie endlich zum Stopp, vielleicht zur Umkehr bewegen.

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Otto Meyer ist Pfarrer i.R. und arbeitet zu theologischen und sozial politischen ThemenEr publiziert vorwiegend in der Zeitschrift „Ossietzky''.