Eine postkoloniale Perspektive

Spenden im Kontext von Abhängigkeit und Interdependenz

von Shashi Rao
Schwerpunkt
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In den meisten Artikeln und internationalen Studien der 1980er-Jahre zum Thema Entwicklung bezog sich das Wort „Norden“ auf Länder, die mit Begriffen wie „entwickelt“, „Erste Welt“, „reich“ und „fortschrittlich“ in Verbindung gebracht wurden. Das Wort „Süden“ dagegen bezog sich auf die Länder, die als „unterentwickelt“, „Dritte Welt“, „arm“ und „rückständig“ bezeichnet wurden. Die Länder des Nordens erhielten durchweg positive Zuschreibungen und standen an der Spitze der Hierarchie während die Länder des Südens in der Entwicklungsforschungsliteratur vielfach die unteren Positionen einnahmen.

Der vorliegende Artikel legt dieses eurozentrische Vorurteil einer solchen Klassifizierung beiseite und verwendet stattdessen natürliche geographische Positionen, um diese Länder zu beschreiben. Norden bezieht sich daher vor allem auf Europa (speziell auf Deutschland) und Süden vor allem auf Indien und einige Teile Lateinamerikas und Afrikas.

Dieser Artikel greift meine Doktorarbeit mit dem Titel „Der lange Schatten des Neokolonialismus: Erfahrungen asiatischer Studierender auf dem amerikanischen Campus“ auf und zieht Parallelen zum Thema internationale Freiwillige aus dem Norden, die mit dem Ziel einer kulturellen Bereicherung einen Freiwilligendienst im Süden leisten.

Während sich meine Doktorarbeit mit der langen Geschichte der Transnationalisierung von StudentInnen aus dem asiatischen Subkontinent beschäftigt, die sich auf der Suche nach Wissen in die USA begeben, setzt sich der vorliegende Artikel mit der Bewegung von Freiwilligen aus dem Norden in den Süden auseinander, mit ihren entsprechenden Einsatzprojekten im Süden sowie mit der Suche beider Seiten nach kulturübergreifender Bereicherung. Während sich meine Dissertation also mit Fragen der akademischen Verwirklichung beschäftigt, befasst sich dieser Artikel mit der kulturellen Bereicherung.

Das hervorstechendste Merkmal der beschriebenen Studierendenabwanderung in den 1980er-Jahren war die eindeutige Bewegung vom Süden in den Norden. Von dieser Migration der Studierenden wurde erwartet, hinsichtlich der globalen Nachfrage und des globalen Angebots an Arbeitskraft ein Gleichgewicht herzustellen. Es bestand die Hoffnung, dass sich dieser Migrationsstrom auf globaler Ebene so lange fortsetzen würde, bis die Einkommensunterschiede ebenfalls annähernd ein Gleichgewicht erreichen würden.

Mit der zunehmend populären Form der Freiwilligenarbeit, besonders bei Studierenden aus dem Norden, die eine Auszeit einlegen, haben wir es heute jedoch mit einer Bewegung junger Menschen in lokale Gemeinschaften der „sich entwickelnden Welt“, also dem Süden zu tun, mit dem Ziel, sich in Projekten zu betätigen. Die Aktivitäten umfassen dabei unter anderem das Unterrichten von Englisch, die Vermittlung von Computerkenntnissen oder eine Arbeit in Waisenhäusern. In aller Regel handelt es sich um Arbeit mit Menschen aus benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen. Internationale Freiwilligenarbeit soll den TeilnehmerInnen wertvolle Fähigkeiten und Wissen vermitteln und dabei eine Erfahrung fürs Leben sein. Die Projekte, die Freiwillige für kurze Zeit bei sich aufnehmen, können dadurch ebenfalls neue Fähigkeiten erlangen und erhalten, wenn nötig, zusätzliche Hilfe. Solche Interaktionen ermöglichen eine Veränderung von Sichtweisen innerhalb dieser Organisationen sowie auch innerhalb der sie umgebenden Gemeinden. Darüber hinaus ermöglichen sie den Aufbau von globalen Netzwerken, welche die Projekte auch längerfristig unterstützen können. Freiwilligenarbeit gilt folglich als ein Mittel zur Verringerung von kultureller Distanz.

Es gab eine Reihe von Argumenten, die den oben beschriebenen Studierendenstrom vom Süden in den Norden während der 1980er-Jahre unterstützten: In erster Linie lieferte diese der sog. Interdependenz-Ansatz. Jener rechtfertigte diese Transnationalisierung als eine positive Entwicklung im Zusammenhang einer wachsenden ökonomischen Verflechtung der Nationen, die zu wirtschaftlichem Wachstum auf globaler Ebene führe. Auf ganz ähnliche Weise wird heute Freiwilligenarbeit im Ausland als ein positiver Schritt in Richtung einer stärkeren kulturellen Verflechtung der Nationen und der Schaffung eines Bewusstseins für andere Kulturen begriffen. Damit der Einsatz von Freiwilligen aus dem Norden in Projekten im Süden tatsächlich den Geist der Wechselseitigkeit stärkt, muss der Austausch zwischen den Freiwilligen und ihren Projekten einen Charakter haben, der zur Schaffung einer Balance der Machtstrukturen zwischen Norden und Süden beiträgt. Tatsache ist, dass die meisten Einsatzprojekte die Dienste von internationalen Freiwilligen benötigen, um ihre Leistungen für die Menschen, mit denen sie arbeiten, verbessern zu können. Ihr Bedarf an Freiwilligen ist als genauso wichtig zu bewerten wie der Bedarf der Freiwilligen, durch ihren Einsatz Lebenserfahrung zu sammeln. Solche Programme sollten ein für beide Seiten vorteilhafter Austausch sein, der eine gesunde Wechselbeziehung zwischen zwei Kulturen fördert.

Zentrum und Peripherie
Eines der wichtigsten Gegenargumente zur oben beschriebenen Transnationalisierung der Studierenden in den 1980er-Jahren lieferte die Dependenztheorie. Laut jener ist die Welt in zwei Teile geteilt: In Zentrum und Peripherie. Das Zentrum der globalen Wirtschaft besteht aus den politischen Mächten des Nordens, die Peripherie dagegen ist der Süden, welcher die meisten Teile Afrikas, Lateinamerikas und Asiens umfasst. Die Theorie entstand in den 1970er-Jahren und argumentiert insbesondere, dass die Entwicklung des Zentrums notwendigerweise eine Unterentwicklung der Peripherie zur Folge hat. Im hier behandelten Kontext, in dem Freiwillige aus dem Norden an Projekte im Süden spenden, ist dies ein Ausdruck wirtschaftlicher Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum. Wenn Freiwillige in die Rolle von Spendenden schlüpfen und ihren Projekten monetäre Hilfe zukommen lassen, werden die Annahmen der Dependenztheorie bestätigt; es wird dafür gesorgt, dass die Peripherie „unterentwickelt“ bleibt.

Wenn Freiwillige z.B. Sachspenden anbieten, sei es in Form von Spielzeug, Kleidung, Schreibwaren oder Nahrungsmitteln, hat dies Auswirkungen auf die Produktionsstrukturen vor Ort und führt zu deren „Unterentwicklung“. Auf keinen Fall wird so die lokale Wirtschaft darin gestärkt, auf eigenen Beinen zu stehen. Auch auf kultureller Ebene sind derartige Spenden manchmal unangebracht und hinderlich. Was als gegenseitige kulturelle Teilhabe und als nützlicher gegenseitiger Austausch zwischen Norden und Süden beginnt, stellt sich oftmals unbeabsichtigt als Bestätigung der Dependenztheorie heraus.

Um solche kontraproduktiven Entwicklungen der Freiwilligenarbeit zu minimieren, ist es wichtig, dass Freiwillige sich die Zeit nehmen, intensiv über ihre Motivation nachzudenken, aufgrund derer sie einen Freiwilligendienst leisten wollen. Was möchten sie damit erreichen? – Arbeitserfahrung sammeln, eine neue Kultur kennen lernen oder durch ihren Dienst etwas für die Gemeinschaft tun? Wenn sie sich über ihre eigenen Ziele und Erwartungen im Klaren sind, wird es einfacher für sie sein, ein Projekt zu finden, das ihre Erwartungen auch erfüllt. Sie müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass sie als Freiwillige im Ausland nur für eine kurze Zeit Gäste und Lernende jener Menschen sind, mit denen sie dort leben und arbeiten. In den meisten Fällen bleiben die unmittelbaren Auswirkungen ihrer Bemühungen für sie unsichtbar. Möglicherweise führen sie ein neues System ein, wie im Projekt etwas gemacht werden soll und müssen dann feststellen, dass dieses von den Menschen vor Ort nicht angenommen und fortgeführt wird. Nach reiflicher Überlegung erkennen sie möglicherweise, dass die Bemühungen effektiver und nachhaltiger gewesen wären, wenn sie von der lokalen Bevölkerung initiiert und in Eigenregie durchgeführt worden wären. Hauptzweck des Freiwilligendienstes ist es, eine Bereicherung für die Projekte darzustellen bzw. diese zu unterstützen und nicht, die bestehenden Missverhältnisse zwischen Norden und Süden zu verstärken. Daher muss jede Aktion seitens des Einsatzprojektes oder der Freiwilligen, welche Gefahr läuft, Abhängigkeiten zu schaffen oder bestehende Machtverhältnisse zu stören, gründlich von allen Beteiligten geprüft werden, bevor sie durchgeführt wird.

Auch aus der Perspektive des Einsatzprojekts bestätigt ein Erbitten bzw. die Erwartung einer Geldspende von internationalen Freiwilligen die Argumente der Dependenztheorie. Warum erwarten Einsatzprojekte von jungen Freiwilligen, dass sie ihnen finanzielle Hilfen zukommen lassen, um den Betrieb ihrer Einrichtungen aufrecht zu erhalten? Deshalb, weil sie glauben, dass diese Freiwilligen aus dem „reichen“ Norden kommen und daher leichten Zugang zu Geld hätten? Oder deshalb, weil sie keinen ausreichenden Zugang zu lokalen finanziellen Ressourcen haben? Oder fühlen sie sich schlicht nicht kompetent oder imstande, eigenständig Mittel einzuwerben?

Der Artikel erschien erstmals in der Publikation „Spende gut, alles gut? Kritische Perspektiven auf Spenden von internationalen Freiwilligen aus dem Globalen Norden im Nord-Süd-Kontext“ von ICJA-Internationaler Freiwilligenaustausch weltweit. https://www.icja.de/fileadmin/Daten/ICJA/Downloads/spendegut_DE_2016.pdf

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Dr. Shashi Rao ist Gründerin und geschäftsführende Leiterin der Stiftung Ananya Trust, welche eine Schule für Kinder aus den Slums von Bangalore, Indien betreibt. Sie ist promovierte Pädagogin und hat im Erziehungsbereich sowie in der LehrerInnen-Ausbildung gearbeitet. Zu ihren Interessen gehört die Stärkung („Empowerment“) von Frauen.