Russland setzt seine Teilnahme an New START aus

Steht das Ende bilateraler atomarer Rüstungskontrolle bevor?

von Xanthe Hall
Hintergrund
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Der russische Präsident Putin hat in seiner Rede an die Nation am 21. Februar 2023 angekündigt, dass Russland seine Teilnahme an dem Abkommen „New START“ suspendiert. Russland zieht sich zwar nicht vollständig aus dem Vertrag zurück, aber die Aussetzung könnte bedeuten, dass eine Kündigung bevorsteht. Der Vertrag sieht ein Kündigungsrecht mit dreimonatiger Frist vor, aber keine Option, den Vertrag „auszusetzen“.

„Sie wollen uns eine 'strategische Niederlage' zufügen und gleichzeitig versuchen, an unsere Atomwaffenanlagen heranzukommen“, sagte Putin in seiner fast 100-minütigen Rede. „In diesem Zusammenhang muss ich heute erklären, dass Russland seine Teilnahme am Vertrag über strategische Offensivwaffen aussetzen wird.“ Putin erläuterte seine Bedingungen für eine Rückkehr zu dem Abkommen, wenn die Nuklearstreitkräfte der NATO-Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, Vereinigtes Königreich und Frankreich, die derzeit nicht an dem Abkommen beteiligt sind.

Gegenseitige Inspektionen fanden schon seit März 2020 wegen der Corona-Pandemie nicht mehr statt. Russland kündigte im August 2022 an, dass es US-Inspektoren von der Wiederaufnahme von Besuchen in seinen Einrichtungen abhalten würde, da westliche Sanktionen die russischen Inspekteure daran hinderten, Gegenbesuche in den Vereinigten Staaten durchzuführen. Russland blockierte auch eine Sitzung der „Bilateral Consultative Commission“ (BCC) im November 2022. Die Frage, ob nun auch der Datenaustausch gestoppt wird, ist noch offen.

Außerdem weist Präsident Putin das Verteidigungsministerium und Rosatom an, die Infrastruktur für Atomtests bereitzuhalten – er habe Informationen, dass in den USA neue Atomtests in Diskussion seien. „Russland wird nicht als erstes testen, aber es sollte bereit sein, wenn die USA es tun."

Expert*innen befürchten, dass das Ende jeglicher bilateraler Rüstungskontrolle im Atomwaffenbereich zwischen den USA und Russland unmittelbar bevorstehe. Der New-START-Vertrag ist wegen der darin vorgesehenen Verifikations- und Inspektionsmöglichkeiten sehr wichtig. Die Aussetzung von New START bedeutet nicht nur, dass es keine Inspektionen und Sitzungen des BCC geben wird, sondern auch, dass der Informationsaustausch und die Notifizierungen eingestellt werden könnten. Die unmittelbarste Auswirkung von Putins Ankündigung dürfte sein, dass Russland seinen Teil des Abkommens nicht mehr einhalten wird. Bisher informierte Moskau Washington jedes Mal, wenn nuklearfähige Raketen verlegt, gewartet, außer Dienst gestellt oder eingelagert wurden. Dieser Informationsaustausch war eine wichtige Transparenzmaßnahme, die es beiden Seiten ermöglichte, den Status der Nuklearstreitkräfte der jeweils anderen Seite im Auge zu behalten, auch wenn sie nicht in der Lage waren, persönliche Überprüfungen vorzunehmen. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens im Jahr 2011 haben beide Seiten laut dem US-Außenministerium mehr als 25.000 Meldungen ausgetauscht. Ohne diese Informationen können die USA die Vorbereitung auf einen potentiellen russischen Einsatz mit Atomwaffen nur mit Hilfe von Geheimdienstinformation bzw. Satellitenbildern erkennen.

Da die USA ihre Teilnahme nicht ausgesetzt haben, können sie trotzdem ihre Informationen und Notifikationen weiterhin an Russland übermitteln. Als Moskau 2007 die KSE-Teilnahme aussetzte, schickten die USA bis 2011 weiterhin Informationen. Der UNIDIR-Forscher Andrej Baklitsky bezweifelt jedoch, dass dies der Fall sein wird. Er geht zwar davon aus, dass es keine russische Aufrüstung oberhalb der Vertragsgrenzen von 1.550 strategischen Atomsprengköpfen geben wird. „Aber es wird viel weniger Möglichkeiten geben, dies zu überprüfen (nur geheimdienstliche Mittel), so dass die Einhaltung umstritten sein wird.“

Der Friedensnobelpreisträger ICAN kommentiert: „Die Aussetzung der Umsetzung von New START ist eine gefährliche und rücksichtslose Entscheidung von Präsident Putin - Russland muss unverzüglich zur vollständigen Einhaltung des Abkommens zurückkehren und sich weiterhin an die Sprengkopfgrenzen halten.“

„Eine Aussetzung ist besser als ein Rückzug", sagte Pavel Podvig, ein leitender Forscher am Institut der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung. „Es hätte schlimmer kommen können.“

Die erste Reaktion von US-Außenminister Anthony Blinken kam postwendend: Die russische Entscheidung sei „zutiefst unglücklich und unverantwortlich“, sagte er. Die USA blieben jedoch bereit, „jederzeit mit Russland über strategische Rüstungsbeschränkungen zu sprechen, unabhängig von allem anderen, was in der Welt oder in unseren Beziehungen vor sich geht“.

Als Reaktion auf Putins Ankündigung sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg: „Mit der heutigen Entscheidung über New START ist die gesamte Rüstungskontrollarchitektur demontiert worden.“

Der 2011 in Kraft getretene Vertrag begrenzt die Anzahl der Interkontinentalraketen und Atomsprengköpfe, die jedes Land besitzen darf, und wurde 2021 um weitere fünf Jahre verlängert. Da der Vertrag 2026 ausläuft, wird die Ankündigung des russischen Staatschefs die diplomatischen Bemühungen um eine Verlängerung oder die Aushandlung eines neuen Vertrags zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, die zusammen etwa 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen besitzen, weiter erschweren.

Kurz nach Putins Rede erklärte das russische Außenministerium, es werde sich weiterhin an die im Vertrag festgelegte Obergrenze für die Zahl der Atomsprengköpfe halten, um ein erneutes Wettrüsten vorerst zu verhindern. 

Quellen:
US Dept of State: Secretary Antony J. Blinken Remarks to the Press, 21.02.2023: 

ICAN, Twitter, 21.02.2023

Andrey Baklitskiy, Twitter-Thread, 21.02.2023

McKinnon A: Putin’s New START announcement and the future of arms control, Foreign Policy, 21.02.2023

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