Strategische Ziele und Arbeitsweisen der Informationspolitik der NATO

von Ulrich Albrecht
Über die Binnenstrukturen, mit denen das Bündnis Informationspolitik betreibt, ist auch friedenspolitisch Engagierten zumeist wenig bekannt. Ein gleiches gilt für den Brüsseler Wasserkopf insgesamt mit seinen knapp 40 Gremien, in denen NATO-Politik gemacht wird.

Wer "macht" in der NATO Informationspolitik?
Grob lässt sich der Informationsbereich der NATO dreiteilen:
 

 
    1. In den aus zivilen Bediensteten bestehenden Mitarbeitern der Brüsseler Bürokratie, die im Alltag für Informationsarbeit zuständig sind,
 
 
    2. in die von Soldaten repräsentierten Militärstrukturen in den Hauptquartieren mit Pressebüros und Pressesprechern (die sich zur Kriegsberichterstattung besonders berufen wähnen), sowie schließlich
 
 
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    . die politische Spitze, das Generalsekretariat, mit seinem im Vergleich kleinen Pressestab. Diese drei Bereiche wirken in einer gewissen Arbeitsteilung, welche freilich zu Kriegszeiten aus den Fugen gerät.
 
 
    An der Spitze der Informationspyramide innerhalb der Westallianz steht das "NATO Office of Information and Press", die Spitze der Informationsbürokratie. Ihm nachgeordnet sind regionale "NATO Information Offices", die erkennbar PR-Funktionen ausüben und nicht eigentlich Nachrichtenpolitik betreiben. (...)

Daneben treten für Informationspolitik wichtige Gremien, in denen alle NATO-Mitgliedsstaaten vertreten sind, wie das "Committee on Information and Cultural Relations" (NATO-Kürzel CICR), mit eigenem Sekretariat und eigenem "Office of Information and Press". (...)

Als Nachrichtengeber bedeutsamer als die zivilen "Information Offices" dürften allerdings die "Military Public Information Offices" sein, welche in den militärischen Hauptquartieren außerhalb Brüssels die politisch-militärische Doppelstruktur des Bündnisses getreulich widerspiegeln. Hier stehen gleichrangig SHAPE mit seinem PIO, das europäische Befehlszentrum im belgischen Mons neben dem US-Hauptquartier SACLANT, gewiss auch mit eigenem Informationsservice. (...)

Im Kosovo-Krieg trat aber unversehens der Apparat des Generalsekretärs selber in den Vordergrund. In bemerkenswerter Weise agierte vor den Kameras während der täglichen Pressekonferenzen nicht der eigentlich Verantwortliche, der "Director of Information and Press" (daneben gibt es noch den Direktor des Büros des Generalsekretärs), sondern Javier Solanas persönlicher Pressesprecher, Dr. Jamie Shea. Das lässt sich nur verstehen als die höchst eigene Entscheidung des Generalsekretärs, im Krisenfall die zentrale Medienarbeit Personen seines persönlichen Vertrauens, seinem Pressesprecher und dessen Stellvertretern, zu übertragen, und nicht den routinemäßig vorgehaltenen Bürokratien in der NATO-Verwaltung und beider militärischen Kommandospitze.

Sucht man "den" verantwortlichen NATO-Akteur für "die" Informationspolitik, muss mithin differenziert werden zwischen Routineaufgaben, die von den schwerfälligen Apparaten erledigt werden, und dem Krisenmanagement auf medialer Ebene, die der Generalsekretär sich selber und seiner unmittelbaren Umgebung vorbehält.

Informationspolitik im Alltag
Die Informationspolitik der NATO (wie jeder anderen Großorganisation) hat drei Adressatenkreise, von denen gemeinhin nur einer, die allgemeine Öffentlichkeit, wahrgenommen wird. Darunter sind schlicht die Massenmedien zu verstehen. Zur "politischen Öffentlichkeit", den Eliten, wie etwa Parlamentsabgeordneten, unterhält die NATO eigene Verbindungslinien, wie zum Beispiel über die Parlamentarische Versammlung des Westbündnisses und verschiedene "Senior Committees", die man am einfachsten als old-boys-networks bezeichnen kann. (Frauen kommen da nicht vor.) Die Informationspolitik gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit wird im nächsten Abschnitt am Beispiel des Kosovo-Krieges näher behandelt.

Daneben tritt die Informationspolitik gegenüber den eigenen Mitgliedern, den NATO-Staaten mit ihren Apparaten, sowie die Information der eigenen mehr als 10.000 Mitarbeiter in den diversen NATO-Bürokratien. Es lässt sich nicht einfach sagen, welcher Adressatenkreis in der Informationspolitik den bedeutendsten Rang einnimmt. Da man alle drei Adressatenkreise mit kohärenten Informationen bedienen muss, ergibt sich ein Drei-Ebenen-Spiel, welches den Informierenden mehr Schweiß abverlangen dürfte als die redaktionelle Optimierung von medialen Äußerungen selbst.

Dass die NATO ihren Mitgliedern gegenüber Informationspolitik betreibt, mag verwundern. Der Theorie nach haben die Mitglieder, d.h. im Alltag die Regierungen, vollen Zugang zu allen Vorgängen im Bündnis. Faktisch ist dem aber nicht so. Herausragendes Mittel bei diesem Bestreben ist die Informationspolitik gegenüber den Mitgliedern, die entsprechend andere Inhalte als die PR-Bestrebungen gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit hat. Die Mitgliedsregierungen interessiert vor allem, was andere Mitglieder hinsichtlich des gemeinsamen Gutes "Sicherheit" treiben, wie viel sie dafür aufwenden, und welche eigenen Politkonzepte andere Mitglieder intern umzusetzen suchen. Neben dem eigenen militärdiplomatischen Apparat sowie der Konsultation anderer Mitglieder setzen die NATO-Regierungen auf die Informationen, die ihnen die "Zentrale" gibt. Das Verfahren sei am Beispiel der Militärhaushalte erläutert, in NATO-Sicht der Kollekte der Mitglieder zum Bündnisziel.

Politik betreibt hier die NATO, indem sie "Beiträge" ihrer Mitglieder zum Allianzziel anerkennt oder eben nicht anerkennt, und darüber informiert. Das gilt für das Verhältnis aller internationalen Organisationen zu ihren Mitgliedern, wie auch bei der UNO. Im Falle der NATO gilt der bedeutendste Streit der Anerkennung deklarierter nationaler Militärausgaben zum gemeinsamen Gut, Verteidigung. Es geht um Milliardenbeträge. Die deutschen Bundesregierungen der Vergangenheit waren in der Lage, in Brüssel z.B. die Subventionen zum Haushalt von West-Berlin als "Verteidigungsausgaben" durchzudrücken, während etwa der türkischen Regierung stets bestritten wurde, dass Ausgaben für den Straßenbau in Grenzgebieten Verteidigungsausgaben seien. Solche Anerkennungsstreitigkeiten werden mit Verve auch für die Vergangenheit ausgetragen. Wer die Zahlenausgaben im "Livre bleu" (in Deutschland eher bekannt als "NATO-Handbuch") für verschiedene Jahrgangsausgaben vergleicht. wird mit Verblüffung feststellen, dass etwa die Angaben über den Anteil der nationalen Militärausgaben am jeweiligen Sozialprodukt irregulär streuen, in einem Maße, welches statistische Bereinigungen bei weitem übersteigt. Angesichts des fortwährenden US-Drucks, zum "burden sharing" mehr beizutragen, rechnen die europäischen Regierungen eigene Beiträge fortwährend schön, und suchen über ihre NATO-Repräsentanten die Angaben Dritter niederzumachen. In ihrer Informationspolitik versucht die sogenannte Statistische Abteilung der NATO, durch Allianzbildung Prioritäten zu schaffen und umzusetzen.

Neben der Anerkennung von Finanzbeiträgen geht es in der Gestaltung des Informationsbildes gegenüber den eigenen Mitgliedern um hochpolitische Vorgänge. Dienen türkische Militäreinsätze gegen Kurden in Ostanatolien den hehren Zielen der Allianz, wie türkische Generäle in Brüssel mitgeteilt wissen wollen, oder sind auch Aktionen der Regierung Ihrer Majestät gegen die IRA als NATO-dienlich zu werten?

Der dritte Adressatenkreis sind die Hintersassen im eigenen Verantwortungsbereich. Hier vollzieht die Informationspolitik der NATO eine Aufgabe, die sich am deutschen Beispiel gut an den amtlichen Verteidigungsweißbüchern aufzeigen lässt. Deren Hauptfunktion ist es nicht, auch wenn das so aufgemacht wird, einer allgemeinen Öffentlichkeit zu verklären, wie es mit dem Militär in der Gesellschaft weitergehen soll. Im Vordergrund steht auch nicht die Aufgabe, die aufgrund der Geschichte aufmerksamen deutschen Nachbarn über die Harmlosigkeit eigener militärischer Vorbereitungen aufzuklären. Die größte Bedeutung haben die Weißbücher mit ihrer Funktion, den mehreren Hunderttausend Angehörigen der Streitkräfte von der Spitze her eine gezielte Vorgabe zu machen, wo es lang gehen soll. (...)

Informationspolitik im Krieg
Im Kosovo-Krieg hat nicht nur der Generalsekretär, sondern es haben auch wichtige Mitgliedsregierungen gezielt den politischen Stab zum zentralen Akteur als Medienakteur gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit befördert. (...)

Die Bündnisspitze erkannte voll, dass mit der Kriegsentscheidung die Informationspolitik eine Schlüsselfunktion für einen Erfolg der NATO einnehmen würde. Die Entscheidungen der NATO waren allen drei Adressatenkreisen als Gipfel von Krisenweisheit nahe zubringen. Zugleich mussten die Blößen der Allianz medial verdeckt werden: der Mangel an einem umfassenden Konzept zur Lösung der Kosovo-Krise, die Nichteignung von Luftschlägen zum Schutz von Flüchtenden usw.

Dort, in Generalsekretär Solanas persönlichem Stab, und nicht in den Großbürokratien von ziviler und militärischer Information der NATO, wurde festgelegt, dass eine mediale Inszenierung erforderlich sei, um zögernden Öffentlichkeiten - in allen drei Adressatenkreisen - die "Notwendigkeit" von Militärschlägen nahe zubringen. NATO-Regierungen und ihren Apparaten, die zunächst nicht an ein eigenes Engagement dachten, wie etwa die dänische, wurde vermittelt, dass ein symbolischer Beitrag anstand. So flogen im weiteren Verlauf des Krieges auch sechs dänische F-16 von Italien aus die Angriffe mit - logistisch und von der Effizienz her ein Unding, aber als Zeichen der Geschlossenheit der Allianz für die NATO-Strategen eine wichtige Errungenschaft. Waren zu Beginn der Kampfhandlungen lediglich sieben der NATO-Mitglieder an den Einsätzen beteiligt, waren es am Schluss alle - selbst Island, welches gar kein Militär besitzt - engagierte sich gar mit einem von den US-Amerikanern "geliehenen" AWACS-Aufklärer. Die Rechnung der NATO-Strategen ging auf: die Medien in den Mitgliedsstaaten griffen auf, was "unsere Jungs" im fernen Kosovo trieben. (...)

Medienmanipulationen und Desinformation
Einige Beispiele von aktiver Medienmanipulation sind unversehens bekannt geworden. Da sind die variierenden Laufgeschwindigkeiten eines Videos zu nennen, welches ein angreifender Jagdbomber von einer Brücke aufnahm, über die sich gerade ein Personenzug bewegte. Wenn der Videostreifen in Fernsehsendungen tatsächlich fünfmal schneller abgespult wurde, als dies in Echtzeit der Fall war, dann wurde die Entschuldigung des Piloten bei diesem folgenreichen Angriff glaubhafter, er habe den Zug nicht mehr rechtzeitig genug erkennen können.

Der amerikanische Oberstleutnant a.D. Thimothy L. Thomas hat akribisch nachgewiesen, wie NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark seine Angaben über zerstörtes serbisches Kriegsgerät nach Kriegsende wiederholt nach unten korrigiert hat. Unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen kam Clark auf 110 zerstörte Panzer, 220 Schützenpanzer und 450 Geschütze. "In einem späteren Bericht reduzierte Clark die Trefferbilanz und stellte fest, dass höchstwahrscheinlich nur 93 Panzer und 153 Schützenpanzer zerstört worden seien", berichtet Thomas. Die Militär- und Rüstungszeitschrift Aviation Week and Space Technology zählte Ende Juli 1999 zwar 500 zerstörte Attrappenpanzer, mit Ofenrohren als Quasi-Geschützen verzierte Trecker, aber nur 50 vernichtete echte Panzer. Andere Quellen kommen auf noch geringere Zahlen: im ganzen 13 zerstörte serbische Panzer und weniger als 100 Schützenpanzer. Es ist klar, dass solche blamablen Kriegsbilanzen vom Bündnis nicht rundheraus zugegeben werden konnten.

Einen makabren Aspekt bildet die NATO-Informationspolitik über die Kriegstoten. Schon im Golfkrieg vor knapp zwölf Jahren verweigerten die US-Behörden alle Zahlenangaben über eigene Verluste sowie die Toten auf Seiten des Irak. So ergab sich eine merkwürdige Interessengemeinschaft mit dem Kriegsgegner Saddam Hussein, dem auch nicht daran gelegen war, dass seine Mitbürger erfuhren, wie viele Tote es im eigenen Lande gegeben hatte. Daten existieren zweifellos, aber sie wurden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschenleben dieser Golfkrieg gekostet hat.

Die gleiche Politik wurde von der NATO im Kosovo-Krieg verfolgt. Selbst die Zahl der Todesopfer vor dem Eingreifen des Bündnisses bleibt unklar. Kamen vor dem 24. März 1999 aufgrund der Verbrechen serbischer Einsatzkräfte in wenigen Wochen 100.000 Menschen ums Leben, oder waren dies "nur" 10.000? Gefunden und als Opfer von Gewalt erkannt wurden bislang rund 2.500 Leichen im von der NATO besetzten Kosovo. Die Zahlen der im Luftkrieg Umgekommenen rückt die NATO gleichfalls nicht heraus. Das Bündnis macht hier entschieden Imagepolitik: man will nicht mit Leichenbergen in Zusammenhang gebracht werden, das Odium der Todesmaschine soll vermieden werden - obgleich eben dies die Sicht der Opfer ist.

Die "Vierte Gewalt", die Medien, vor allem aber die politische Öffentlichkeit der europäischen Parlamente, nehmen einfach hin, dass solche Informationen von der Sonderorganisation NATO vorenthalten werden. "Kein Sinn für Fehler", konstatiert Dirk Baecker trocken. Macht, nämlich Veto-Macht, der Militärallianz wird hier zum Greifen deutlich.

Anti-Nato Informationspolitik von innen her
Als bürokratische Großorganisation muss die NATO neuerdings erleben, dass sich aus den Reihen ihrer Mitarbeiter einige als Whistleblowers aufmachen, um mit ihren Gegeninformationen zu den Bündnisoffiziösen Verlautbarungen Öffentlichkeit zu erreichen. Die Medien, öffentlich-rechtliche wie private, wissen mit solchen Dissidenten bislang erkennbar wenig anzufangen. Die hergebrachten journalistischen Grundsätze vom Gehör für andere Meinungen greifen schlecht. (...)

Nicht alle Dissidenten im NATO-Gefüge haben den Rang von Offizieren, noch deren Möglichkeiten, sich per Buch zu äußern. So ist zu vermuten, dass es in niederen Rängen bei Soldaten, die Nachrichten auszuwerten oder zu übermitteln hatten, weitere Dissidenten gibt, die der Medienpolitik der NATO offen widersprechen würden, wenn ihre abhängige Stellung dies zuließe oder wenn sie Zugang zu den Medien hätten. So bleiben öffentlich wahrnehmbare abweichende Meinungen auf höhergestelltes Personal beschränkt. Am drastischsten äußerte sich der vormalige australische Premierminister Malcolm Frazer. Im australischen Parlament sagte Frazer, die NATO "ist eine Organisation von Lügnern." Der Ex-Premier zog eine Verbindungslinie zwischen dem Kosovo-Krieg und den Kreuzzügen, bei denen im Namen der Christenheit Millionen Menschen umgebracht worden seien. "Je mehr ich NATO-Offiziellen zuhörte", so Frazer weiter, "desto mehr begriff ich, dass die NATO bereit war, über diesen Krieg zu lügen."

Fazit

Haben Lügen in der hohen Politik nicht die sprichwörtlich kurzen Beine? Offenkundig ist ein Teil der Aufgabe der aufwendigen Informationspolitik der NATO, Nebelkerzen zu werfen, zu verhüllen und eben nicht aufzuklären. So steht zu erwarten, dass durch professionelles Informationsmanagement die Allianzführung auch nicht befürchten muss, fürs Lügen je zur Rechenschaft gezogen oder gar bestraft zu werden. Falls die NATO aus dem Krieg gelernt hat, dann vor allem auch, wie in Krisensituationen information warfare, Kriegführung durch die Handhabung von Informationen, optimiert werden kann.

Quelle: antimilitarismusinformation (ami) Heft 8-9/2000

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Ulrich Albrecht ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der FU-Berlin.