5000 Polizisten schützen 500 parlamentarische Verfassungsbrecher

Tag X in Bonn

von Martin Singe

Nichts ging mehr am 26.5.93 im Regierungsviertel. Die Einreise ins Parlament auf dem Landwege war nicht mehr möglich. Die Symbolik war bestens gelungen: die Abgeordneten mußten (von Schlepperban­den?) per Hubschrauber und Schiff in ihre Bannmeile einreisen - der Landweg war so verschlossen wie er künftig für alle Menschen, die in der Bundesrepublik Asyl suchen wollen, verschlossen ist.

Trotz ständiger Terminverschiebungen und einer Vorbereitungszeit, bei der der Spannungsbogen zur Aktion schon fast überzogen war, beteiligten sich überra­schend viele Menschen an den verschie­denen Aktionen zum Tag X. Schon früh am Morgen war die B 9, die Bannmei­lengrenze, so voller Demonstranten, daß kein Verkehr mehr fuhr. Ca. 15.000 Menschen beteiligten sich an der Bun­destagsblockade, an der "Aktion ziviler Ungehorsam - Friedliche Belagerung des Bundestages", an dem Gottesdienst der Christen pro Asyl, an den angemel­deten Demonstrationen und Kundge­bungen.

Trotz einiger Probleme und Schwierigkeiten zwischen den verschiedenen Aktionen kann der Verlauf des ge­samten Tages wohl als gelungen angesehen werden. Zu den Problemen gehörten u.a. die Art mancher Blockaden, die so dicht waren, daß z.T. Demonstranten selbst nicht zu ihren Zielen durchgelassen wurden, kleine Verstim­mungen zwischen den Gottesdienstbe­suchern in der Bannmeile und der Ak­tion Ziviler Ungehorsam, da beide Gruppen an derselben Stelle in die Bannmeile wollten, ein Angriff auf die Bannmeile mit Flaschen- und Leuchtmunitionswürfen seitens einer Teilgruppe aus dem autonomen Spektrum gegen deren Gesamtabspra­chen, was dann auch einen unschönen Ausfall einer Sondereinsatztruppe der Polizei zur Folge hatte. Diese ca. halb­stündige Eskalation wurde jedoch dann durch die Hauptkundgebung um 14.00 Uhr aufgefangen, in der die politischen Inhalte der Aktionen von verschiedenen Rednerlnnen noch einmal vorgetragen wurden. Die beeindruckende Rede von Volker Hügel vom Flüchtlingsrat NRW ist in dieser Friedensforum-Ausgabe dokumentiert.

In den Medien ist die Aktion im Grunde gut rübergekommen: das Bild der Abgeordneteneinreise per Flugzeug und Schiff stand im Mittelpunkt der Bericht­erstattung über ein von tausenden De­monstranten belagertes Parlament. Allerdings wurde die mittägliche Eskala­tion leider stark überbewertet, von den politischen Inhalten aus den Kundge­bungsteilen und der mit viel Mühe kunstvoll gestalteten Bühne wurde kaum irgendwo etwas aufgegriffen.

Durch die politischen Auseinanderset­zungen im Vorfeld der Demonstration war es aber doch gelungen, die Medien-­Stille um die Asylrechtsverstümmelung noch zu durchbrechen. War es nach dem Parteienkomprorniß im Dezember still geworden, trat nun noch einmal der Streit offen zu Tage. Durch die ver­schiedensten politischen Stellungnah­men, durch die scharfe Kritik des Ex­pertenhearings und die massiven Ein­würfe seitens des UNHCR-Vertreters Koisser zeigte sich nochmals die Pein­lichkeit dieser Grundrechtsverstümmelung. Kein einziger Expertenvorschlag ist aufgegriffen worden -das individuelle Asylrecht gibt es nicht mehr. Nun hatte auch niemand erwartet, daß durch die angekündigten Aktionen und De­monstrationen das Asylrecht noch zu retten gewesen wäre, aber diese Ent­scheidung den Politikern so schwer wie möglich zu machen und der Öffentlichkeit zu zeigen, daß die Bürgerlnnen Verfassungsfeinden im Parlament nicht einfach das Feld überlassen, dies war nötig und ist an diesem für unsere Re­publik so traurigen Tag dennoch gelun­gen.

Wie hieß es im Aufruf der Aktion ziviler Ungehorsam? "Deshalb werden wir die neue Gesetzeslage nach einer De­montage des Asylrechts durch den Deutschen Bundestag nicht anerkennen. Unsere friedliche Belagerung des Bundestages soll der Beginn eines Dauerprotestes sein. Wir werden auch der künftigen Gesetzespraxis und insbeson­dere der Abschiebung von Flüchtlingen zivilen Widerstand entgegensetzen." -Zur Fortsetzung solidarischer Flüchtlingsarbeit finden sich im Thementeil dieser Friedensforum-Ausgabe vielfäl­tige Anregungen. Machen wir weiter!

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".