Jede Gesellschaft hat „Ihre" Verbrechen

Technik und Funktion rechter Kampagnen in Sachen "innere Sicherheit"

von Jürgen Seifert

Jede Gesellschaft hat „Ihre" Verbrechen
Vor 30 Jahren sagte mir ein angesehener Arzt, Professor an der Universität in Würzburg, am Ende des Jahrhunderts werden wir die Krankheiten "im Griff haben"; er nannte Beispiele (Tuberkulose, Malaria, Grippe und anderes) und meinte, Wissenschaft sei in der Lage, die Ausrottung von Krankheiten fortzusetzen. Ich wagte nicht zu widersprechen; dennoch: es gehörte damals schon zu meiner Philosophie, daß jeder seinen eigenen Tod an der ihm eigenen Krankheit stirbt.

An dieses Gespräch muß ich denken, wenn ich Polizeibeamte (und Politiker) davon reden höre, es käme darauf an, Kriminalität zu verhüten und vorbeugend zu "bekämpfen". Auch ich will, daß Straftaten verfolgt werden (allerdings nicht mit jedem Mitteln); dennoch habe ich gelernt: Man kann Kriminalität ebenso wenig ausrotten wie Krankheit oder Tod. Wie jeder Mensch "seine" Krankheit hat, so hat auch jede Gesellschaft ihre Verbrechen. So wie der Mensch sein Leben ändern muß, um mit "seinen" Krankheiten fertig zu werden, muß sich eine Gesellschaft ändern, um den zu dieser Gesellschaftsstruktur gehörenden Verbrechen den Boden zu entziehen. Der Begriff "Verbrechensbekämpfung" setzt bei den Symptomen an und suggeriert, durch Eingriffe und Repression sei für den Menschen "Innere Sicherheit" zu realisieren. Doch Repression in der Form absoluter Sicherheit würde absolute Unfreiheit, also Polizeistaat bedeuten. Demokratische Polizei kann nur dazu beitragen, Kriminalität zurückzudrängen, zu kanalisieren. Sie kann nicht einmal "öffentliche Sicherheit" garantieren. Polizei kann allerdings - zusammen mit anderen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen - dazu beitragen, mehr Frieden in der Gesellschaft zu verwirklichen.

In dem Maße, in dem in Gesellschaft und Politik Perspektiven fehlen (oder nicht entwickelt werden), anstehende Probleme zu bewältigen, setzen die Menschen auf Repression. Das heißt, viele Menschen glauben daran, daß eine Politiik des "law and order" (oder der "Inneren Sicherheit") ihre Sicherheit verbessern könne. Ein solches Verhalten ist eine Antwort für das Versagen gesellschaftsverändernder Politik. Die Hypostasierung polizeilicher Sicherheitspolitik ist stets ein Surrogat für mißlungene oder fehlende Gesellschaftspolitik. Der Vorrang der "Rechten" in Sachen "Innere Sicherheit" markiert deshalb die Schwäche Liberaler und Linker. Die "Linke" kann im Rahmen des Umfragethemas "Innere Sicherheit" nicht vor der Union liegen (ohne sich selbst aufzugeben), - so wie die Union auf dem Felde der "sozialen Sicherheit" die Sozialdemokratie nicht ausstechen kann.

Von einem gesellschaftlichen Problem zum Feindbild

In einer auf dem Prinzip der Gewinnmaximierung beruhenden Gesellschaft gibt es unvermeidlich neue Formen von Kriminalität und Schwerstkriminalität. Das wird durch Weltmarkt, internationale Verflechtungen und das spezifische Verhältnis zwischen "reichen" Staaten mit entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften und unterentwickelten Ländern der "Dritten Welt" noch verstärkt. Niemand bestreitet diese neue Schwerstkriminalität und die neuen Formen einer auf Arbeitsteilung und Organisation beruhenden Kriminalität. Zeitgemäße Strafverfolgung muß sich auf die neuen Formen von Kriminalität einstellen, muß neue Methoden entwickeln und - wenn dies nachgewiesen wird - auch mit neuen Befugnissen ausgestattet werden.

Doch weil die Ursachen einer solchen Schwerstkriminalität vielfach nicht wahrhaben und gesellschaftliche Möglichkeiten einer Veränderung oder Eindämmung nicht realisieren will, setzen die neuen Konservativen auf Repression. Repression heißt in diesem Zusammenhang zunächst: Glaube an Kontrolle und Gesetze sowie an damit verknüpfte neue Eingriffsbefugnisse der Exekutive.

Politisch sind solche zusätzlichen Befugnisse nur durchzusetzen durch das Schüren von Angst. Um Angst zu erzeugen, braucht man Feindbilder. Feindbild heißt: Ein politisch-gesellschaftliches Problem wird nicht im Sinne einer rationalen Bewältigung analysiert, sondern irrational und projektiv. Der eigene Anteil wird ausgestoßen und einem Sündenbock aufgeladen. Das Feindbild verdrängt, daß im "Feind". das eigene Problem Gestalt geworden ist. Menschen brauchen Feindbilder, um nicht zu erkennen, daß sie im Feind einen Teil ihrer selbst (den eigenen Bruder) bekämpfen. Nur mit Hilfe von Feindbildern werden Menschen dazu gebracht, andere Menschen zu töten oder "auszumerzen" (wie es das Wörterbuch des Unmenschen erlaubt).

Feindbilder gegen Halt, weil Feinde einen. Insbesondere Staatsmacht beruht auf Abgrenzung. Deshalb braucht Staatsmacht, die nicht das „gute Leben" von Bürgerinnen und Bürgern zu realisieren vermag, Feindbilder. Lange Zeit waren das "äußere Feinde". So brauchte man in Deutschland die Franzosen als Erbfeinde und später Kommunismus als Bedrohung und als das schlechthin "Böse". Seitdem diese Feindbilder nicht mehr tragen, sucht man den Feind "im Inneren“. In diesem Sinn sind Mafia und "organisierte Kriminalität" Feindbilder. Nur wer in der Lage ist, den Unterschied herauszuarbeiten zwischen einem politisch-gesellschaftlichen Problem und einem Feindbild, dem gelingt es auch, politischen Kampagnen entgegenzutreten, die auf Feindbildern beruhen, und deren Voraussetzungen im Rahmen wissenschaftlich-psychologischer Kriegsführung entwickelt worden sind.

Es gibt unzweifelbar auch in der Bundesrepublik bei Verbrechen mafiaähnliche Strukturen und Verbrechen auf (der Grundlage von Arbeitsteilung und Organisation. Doch durch den juristisch letztlich nicht faßbaren Begriff "organisierte Kriminalität" wird "OK" zum Feindbild. Dieser Feind ist unheimlich und nicht greifbar. Es entsteht ein Bedrohungsszenarium. Jeder muß befürchten, betroffen zu sein. Zugleich entlastet dieses Feindbild: Wir selbst (oder die gegenwärtigen Strukturen von Gesellschaft und Staat)haben damit nichts zu tun!

Deshalb sind Feindbilder so wirksam. Deshalb lassen sich mit ihrer Hilfe Ängste schüren. Deshalb gibt es eine gleichsam psychologisch-industrielle Feindbildproduktion (an der gut verdient werden kann). Deshalb kann man die Publikationen über Mafia und, "organisierte Kriminalität" heute nicht mehr überschauen.

Wenn es einen Feind gibt, muß man sich verteidigen. Jeder wird vor die Frage gestellt, für wen bist Du: Für den Feind oder für unsere Ordnung. Feindbilder suggerieren eine Festungsmentalität, ein unabdingbares Entweder-Oder: Wer nicht für uns ist, ist für den Feind.

Der Feind muß bekämpft werden. Um einen Feind "auszuschalten", ist jedes Mittel recht. Weil Feindbilder die Menschen in eine Entweder-Oder-Situation des Kampfes bringen, darf es nichts Drittes geben. Feindbilder sind ein Instrument, Menschen auf Krieg einzustellen: Auf einen Anti-Drogen-Krieg (wie in den USA) oder auf "Bekämpfung" der "organisierten Kriminalität" oder "der" Mafia. Auf diese Weise wird eine Konstellation erzeugt, in der es heißt, zur Feindbekämpfung sind "unabweisbar" spezifische Eingriffsbefugnisse erforderlich. Das Bedrohungsszenarium erschlägt die rationale Überprüfung, die sonst übliche Zweck-Mittel-Relation.

Zugleich wird die Beweislast umgekehrt: Nicht mehr derjenige, der eine Veränderung anstrebt, muß nachweisen, daß die angestrebten neuen Eingriffsbefugnisse verfassungsrechtlich zulässig und ein adäquates Mittel sind; stattdessen wird jeder Kritiker, der sich auf Verfassungsgrundsätze oder auf vorstaatliche Menschenrechte beruft, mit der Frage konfrontiert: Wie können wir denn sonst den Gefahren - z. B. des "Drogengeldes" und der Inbesitznahme ganzer Volkswirtschaften und Staatsapparate durch "Drogenorganisationen" - entgegentreten? Wer sich dieser Form der Fragestellung entzieht und sich damit verweigert, ist entweder ein Prinzipienreiter, ein unrealistischer Idealist oder jemand, der ein Problem nicht sehen will und deshalb dem "Feind" das Tor öffnet.

Feindbilder tragen in sich die Kainsmale einer totalitären Gesellschaft.

Politische Kampagnen für "Innere Sicherheit"

Umfrageergebnisse zeigen: Persönliche Sicherheit gehören in den Augen der Bevölkerung zu den drängendsten Problemen. Die meisten Menschen denken dabei an die steigende Zahl von Wohnungs- oder Autoeinbrüchen, an Unsicherheiten auf Bahnhöfen oder abends auf dem Weg nach Hause.·Die Bevölkerung erwartet, dass Politik auf diese Ängste reagiert und Alltagskriminalität zurückdrängt.

Fachleute weisen nach, daß die genannten Delikte vielfach deshalb so zunehmen, weil sich Drogenabhängige Geld beschaffen für neue Drogen. Deshalb fordern sie eine andere Drogenpolitik, die die Probleme der Drogenabhängigen nicht verdrängt, sondern dem Beispiel der Niederlande folgend auf Hilfe setzt. Sozialdemokratisch regierte Länder versuchen diesen Weg (trotz des beschränkten Spielraums angesichts der Bundesgesetzgebung) zu gehen.

Bundesregierung und Union versuchen den Sicherheitserwartungen der Bürgerinnen und Bürger durch Kampagnen für "Innere Sicherheit" zu entsprechen.

Man verspricht "Sicherheit" und suggeriert damit, wenn nur alles getan würde, wäre eine wirksame "Kriminalitätsbekämpfung" möglich. Das Wort Kriminalitätsbekämpfung appelliert an die geheime Sehnsucht vieler Menschen nach Geborgenheit und "heiler Welt" und erweckt - zusammen mit dem Begriff "Innere Sicherheit" - den Eindruck, Schwerstkriminalität sei mit zusätzlichen Eingriffsbefugnissen zu verhindern. Im Nebeneffekt werden zugleich alle diejenigen (seien es Liberale, Sozialdemokraten, Grüne oder Bürgerrechtler) diskreditiert, die sich gegenüber den angestrebten neuen Eingriffsbefugnissen auf Grundrechte oder rechtsstaatliche Verfahren berufen. Solche Positionen hemmen - so heißt es - nicht nur eine erfolgreiche Sicherheitspolitik; sie werden am Ende auch dafür verantwortlich gemacht, daß die versprochene "Sicherheit" nicht realisiert werden kann.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten laufen solche Kampagnen nach immer demselben Schema. Am Anfang steht ein Ereignis, das die Bevölkerung aufwühlt, oder ein Bedrohungszenarium; dann werden neue Eingriffsbefugnisse gefordert; gleichzeitig melden sich unterstellte Polizeibeamte mit der Forderung nach solchen Rechten zu Wort, es gibt auch Medien und Journalisten, die sich engagieren; am Ende steht immer eine neue wichtige Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte. Wer die Gewichtsverschiebungen der vergangen zwei Jahrzehnte zuungunsten des Bürgers im Polizei- und Strafprozeßrecht auflistet, wird nicht zur Kenntnis genommen oder zum Außenseiter gestempelt. Werden Gesetze „geändert“, folgt in aller Regel keine Überprüfung. Dabei zeigt beispielsweise die Kampagne für die Heraufsetzung der Strafdrohung beim Vermummungsverbot (von einer Ordnungswidrigkeit zum Vergehen), die Problematik dieser Gesetzessymbolik. Polizeikräfte in allen Bundesländern verzichten darauf, gegen die Straftat der Vermummung vorzugehen, kommen also dem Legalitätsgebot nicht nach, weil die Strafverfolgung entweder nicht durchgesetzt werden kann oder weil ein Eingreifen der Polizei eskalierend wirkt. Statistiken zeigen: Die Zahl von Demonstrationen mit vermummten Teilnehmern hat trotz der Gesetzesänderung nicht abgenommen.

Gegen Kampagnen in Sachen "Innerer Sicherheit" und gegen dieses Spiel mit den Sicherheitsängsten der Menschen kommt nicht an, wer Zugeständnisse macht, sondern wer das Agitationsmuster entlarvt. Bei der Politik der "Inneren Sicherheit" handelt es sich um Techniken, Wahlen zu gewinnen, nicht um das Lösen gesellschaftlicher Probleme. Zugleich lassen sich mittels solcher Kampagnen die Vorstellung vom "starken Staat" durchsetzen. Jeder, der für Zugeständnisse plädiert, um den Wahlkampf besser bestehen zu können, muß wissen: Es gibt gegenüber solchen Kampagnen keine Sättigungsgrenze. Die Forderung für den Wahlkampf von morgen wird schon vorbereitet. Gestern ging es um "Verdeckte Ermittler" (denen die Verwirklichung von Straftatsbeständen verboten ist) und um „Personalbegleitsender" (zum Schutze solcher Personen); heute geht es darum, daß Verdeckte Ermittler Straftaten begehen dürfen, und um den "großen Lauschangriff“; bringen die Forderungen von morgen die Wiedereinführung der Todesstrafe oder gar mehr?

Wer solchen Kampagnen gegenüber bestehen will, muß die Methoden erkennen und entlarven, muß deutlich machen, wie die Menschen in ihren Sicherheitsängsten manipuliert und für dumm verkauft werden. Zugleich muß er eigene gesellschaftspolitische Konzepte zur Lösung der zugrundliegenden Probleme entwickeln.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt