Buchbesprechung: Ein Leben für die gewaltfreie Aktion

Technik und Prinzip gewaltfreien Handelns: Gene Sharp

von Martin Arnold
Hintergrund
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Der Politikwissenschaftler Gene Sharp (1928–2018) gilt, nach Gandhi, als der weltweit einflussreichste Autor über aktive Gewaltfreiheit. Ein 2024 erschienener Sammelband würdigt sein Lebenswerk und beleuchtet es auch kritisch.

Der Band richtet sich an Menschen in sozialen Bewegungen sowie an Forschende und setzt kaum Vorkenntnisse voraus. Leser*innen, die bereits mit Sharps Werk vertraut sind, werden durch viele kaum bekannte Details bereichert.

Das Buch enthält sowohl wissenschaftliche Beiträge, nach Sharps Arbeits- und Wirkungsgeschichte geordnet, als auch ein Interview mit Jørgen Johansen und Stellan Vinthagen sowie zentrale Texte von Sharp selbst.

Sharp sah zunächst Gandhis Erfolge in „moral power“, der Kraft moralisch guten Handelns, begründet. Er entdeckte dann, dass die Massen, die Gandhi folgten, nicht immer den ethischen Standards entsprachen, die dieser forderte. Daraufhin definierte Sharp „gewaltfreie Aktion“ als eine moralisch neutrale „Technik“.

Er beschrieb198 Methoden von Protest über Nichtzusammenarbeit (Boykott usw.) bis hin zu Interventionen (z.B. Parallelregierungen), die es Volksmassen ermöglichen, beliebige politische Ziele ohne direkte Gewalt durchzusetzen. Sein Buch „From Dictatorship to Democracy“ (1993) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und hat in vielen Ländern gewaltfreie Revolutionen beeinflusst.

Sharp unterschied zwischen Gandhis ethischer oder prinzipieller Gewaltfreiheit und pragmatischer oder strategischer Gewaltfreiheit. Diese Unterscheidung hat die internationale Diskussion über gewaltfreie Aktionen geprägt.

„Prinzipielle und pragmatische Gewaltfreiheit verschmelzen“
Brian Martin resümiert in seinem Beitrag, dass Sharp dazu beigetragen hat, gewaltfreie Methoden als Werkzeuge zu sehen, die wirksamer sind als Gewalt. „[… Wir sollten] seine Studien und Ideen als Werkzeuge nutzen und anwenden, überarbeiten, verfeinern und darauf aufbauen.“ (S.82f, Übersetzungen M.A.)
Der Band enthält wichtige Bausteine der Weiterentwicklung:

„Prinzipielle und pragmatische Gewaltfreiheit sind nicht nur vereinbar, sondern sie verschmelzen sogar“, stellt Craig S. Brown fest (S. 158). Brown kritisiert den „extrem pragmatisch-strategischen und zwar quantitativen Forschungsansatz“ und fordert, mit Vorrang Wege über diesen Ansatz hinaus zu finden. (Der Rezensent hat einen neuen Forschungsansatz realisiert: https://martin-arnold.eu.)

Michael Randle, ein früher Weggefährte von Sharp, hebt hervor, dass für diesen „positive action“ wichtig war: Menschen müssen sehen, dass Worte in Taten umgesetzt werden können.

Andrew Rigby zeichnet Sharps Weg als Redakteur der „Peace News“ seit 1955 nach. Sharp plädierte für gemeinschaftliches Handeln über persönliche Kriegsdienstverweigerung hinaus, um Krieg zu verhindern.

Sharps Untersuchung des Widerstands von Lehrern im Zweiten Weltkrieg in Norwegen ist im Buch abgedruckt.

Christine Schweitzer behandelt die Konzeptentwicklung der Sozialen Verteidigung (SV) sowie Erfolgsfaktoren zivilen Widerstands und SV in der Ukraine. Sie fragt nach den Lehren aus diesen Erfahrungen und betont die Notwendigkeit des Dialogs mit Gegnern – ein Aspekt, der in Sharps Schriften kaum eine Rolle spiele, und dass SV in ein umfassendes Friedenskonzept eingebettet sein müsse.

Brian Martin beschreibt die „wechselnde Rolle der Gewaltfreien Aktion und Theorie“ und stellt Sharps Hauptwerk „The Politics of Nonviolent Action“ ausführlich vor. Während Gandhis Ansatz auf einem moralischen Prinzip basiere – Ablehnung von Gewalt gegen Gegner –, argumentiert Sharp, Gewaltfreiheit sollte angewendet werden, „weil sie effektiver ist als Gewalt.“ Brian Martin kritisiert, dass der US-Amerikaner keine Strategie zur Umgestaltung des Militärisch-Industriellen Komplexes entwickelte (S.77).

Craig S. Brown bietet eine fundierte, vor allem durch Kontextbetrachtungen überzeugende Widerlegung der Vorwürfe gegen Sharp, er sei ein Verteidigungsintellektueller des Kalten Krieges oder habe neoliberale Politik unterstützt, ein wichtiger Beitrag in der Diskussion um Sharps Erbe.

Insgesamt leistet das Buch einen wertvollen Beitrag zur Würdigung von Sharps Lebenswerk sowie zum Verständnis und zur Weiterentwicklung der Gewaltfreien Aktion in Theorie und Praxis. Es ist besonders empfehlenswert für alle Interessierten an Sharps Ideen oder den Grundlagen gewaltfreien Handelns.

Craig S. Brown (Hg.) (2024): Gene Sharp - A Life Devoted to Exploring Nonviolent Actions. Irene Publishing, 256 Seiten, ISBN 978-91-88061-70-6, 26 €.

 

 

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