Totale Kriegsdienstverweigerung - Stand und Entwicklungen

von Detlev Beutner
Hintergrund
Hintergrund

Während die angeblich ins Unermessliche steigenden Zahlen der Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4 Abs. 3 GG, also derjenigen, die ihre Wehrpflicht durch den Zivildienst erfüllen (_ 3 Wehrpflichtgesetz), für eine Scheindebatte sorgen, ziehen die Aktionen der Totalen Kriegs­dienstverweigerer zumindest das zunehmende Interesse von Bundes­wehr und weiteren staatlichen Stellen auf sich. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die jüngsten Tendenzen auf diesem Gebiet gege­ben werden.

Ob die Anzahl der Totalen Kriegs­dienstverweigerer in der BRD in den letzten Jahren gestiegen ist, ist schwie­rig festzustellen. Die Statistiken der Bundesregierung geben hierüber regel­mäßig keinen Aufschluss, da sie zum einen in sich widersprüchlich sind, zum anderen bei der Aufzählung beispiels­weise der Strafverfahren nach _ 16 Wehrstrafgesetz ("Fahnenflucht") auch diejenigen mitzählen, die sich keines­wegs bewusst gegen den Zwang zur Mi­litarisierung wenden, sondern die häufig Probleme im persönlichen Bereich ha­ben, ohne die sie durchaus zur Ablei­stung eines Kriegsdienstes bereit wären. Anhand der dokumentierten Fälle und erfahrungsbedingten Schätzungen von Dunkelziffern (Totalverweigerer, die ih­ren Widerstand ohne Kontakte nach au­ßen leben) kann allerdings von einer Größenordnung von 150 - 200 "Fällen" pro Jahr ausgegangen werden, die - mit oder ohne Antrag auf Anerkennung als legale "Kriegsdienstverweigerer" - sich "politisch bewusst" weigern, Wehr- oder Ersatzdienst zu leisten.

Die Aufmerksamkeit der staatlichen Stellen, insbesondere der Bundeswehr, ist in den letzten anderthalb Jahren al­lerdings gestiegen. Dies dürfte sowohl daran liegen, daß in Zeiten einer sich zuspitzenden Militarisierung der Außen- und Innenpolitik die radikale Ablehnung alles Militärischen schwerer ins Ge­wicht fällt als zuvor, als auch daran, daß mit zunehmend professioneller Öffent­lichkeitsarbeit verschiedener Initiativen Justiz und Militär in vielen Einzelfällen verstärkt unter Druck geraten. Die Mo­tivation, sich der Wehrpflicht umfassend zu verweigern, wurde in den letzten Jah­ren ebenfalls breitbandiger; so stellt die Ablehnung eines antisozialen Zwangs­dienstes inzwischen einen durchaus ei­genständigen Grund zur totalen Verwei­gerung gegenüber dem staatlichen Dienstanspruch dar und wird zumindest nicht mehr nur als 'Nebenaspekt' ange­führt.

Durch diese Verbreiterung der Grund­lage, auf der verweigert wird, und ihrer zunehmenden medialen Wahrnehmung hat sich die gesamte Thematik in den letzten zwei Jahren auch aus ihrer Ta­buisierung lösen können; "Totalver­weigerung" ist inzwischen ein so bekanntes Schlagwort, daß zuneh­mend Wehrpflichtige, die überhaupt keine politischen Bezüge haben, dies als eine von drei Alternativen ansehen, meist allerdings, ohne sich der Konse­quenzen voll bewusst zu sein. Medien greifen den Begriff auf, ohne ihn noch erklären zu müssen, andere politisch progressive Gruppen sehen das eigene Verhalten zur Wehrpflicht auch als Standortfrage von grundsätzlicher Be­deutung. Diese Entwicklungen sind al­lerdings noch um ein vielfaches ausbau­bar und stellen quantitativ höchstens den Beginn einer Situation dar, in der Totale Kriegsdienstverweigerung zur bewussten und diskutierten Frage in allen sozialen Gruppierungen wird.

Die bereits erwähnte entsprechend hö­here Aufmerksamkeit der staatlichen Stellen drückt sich beim Militär unter anderem in längeren Arrestierungen aus. Lag die Grenze für (nicht von einem Strafprozess unterbrochenen) Diszi­plinararrest gegen Totalverweigerer, die keinen Antrag auf Anerkennung als "KDVer" gestellt haben, bis 1993 bei maximal 63 Tagen, so wurden allein 1994 viermal längere Arreste (zwischen 70 und 84 Tage) verhängt, jeweils mit der Zustimmung verschiedener Kam­mern des Truppendienstgerichts Nord. Alle Fälle zogen gleichzeitig entspre­chend erhöhtes Interesse der Medien nach sich. In zumindest einem Fall hat ein einzelner Kommandeur am 28. Mai 1996 seine Lehren hieraus gezogen und sich geweigert, einen Totalverweigerer, der sich an diesem Tag in der Kaserne gestellt hat, überhaupt zu arrestieren. Der Verweigerer konnte wieder nach Hause gehen und erwartet nun "lediglich" den Strafprozeß wegen "Fahnenflucht".

Daneben wurde Ende 1995 eine Son­dervorschrift der Abteilung "G1 - Innere Führung" des IV. Korps (Potsdam) mit dem Titel "Verhalten von Vorgesetzten gegenüber Totalverweigerern" bekannt. Hierin wurde beispielsweise die wö­chentliche Besuchszeit für Totalverwei­gerer auf zehn Minuten herabgesetzt, obwohl sich aus gesetzlichen Regelun­gen eine Mindestbesuchszeit von einer Stunde ergibt. Später wurde dieser Punkt auch vom Bundeskriegsministe­rium für ungültig erklärt, es habe inso­weit auch keine Absprache mit den Rechtsberatern des Ministeriums gege­ben. Beschwerden allerdings, die sich gegen die Anwendung dieser Vorschrift richteten, wurden sämtlichst abschlägig beschieden.

Eine neue Entwicklung scheint sich auch dahingehend abzuzeichnen, daß nach dem Vollzug von Disziplinararrest, also dann, wenn das Truppendienstge­richt keinem weiteren Arrest mehr zu­stimmt, mehrmals kein Dienstverbot verhängt wurde, wie dies bisher der Fall war. Dies hat zum einen die Folge, daß der 'Soldat' ggf. unerlaubt abwesend ist und daher keine Bezüge erhält - inso­weit gleicht sich die Situation hierdurch der unerlaubten Abwesenheit im Zivil­dienst an. Andererseits kann nun aber das Militär - und von dieser Möglichkeit macht es auch Gebrauch - den Abwe­senden 'ärgern', indem wiederholt Feld­jäger den Totalverweigerer einfangen, der dann, mangels disziplinarer Mög­lichkeiten, wieder aus der Kaserne nach Hause geht.

Aber auch die Strafjustiz reagiert auf die veränderte Lage. Vermutlich sowohl durch die Militarisierung der Politik als auch aufgrund der Bekanntheit der To­talverweigerung und nicht zuletzt auf­grund der zunehmenden Diskussion um die Wehrpflicht haben sich viele Men­schen, und damit natürlich auch und ge­rade RichterInnen, eine Meinung gebil­det und einen Standpunkt eingenom­men. So ist derzeit eine zunehmende Polarisierung der strafrechtlichen Er­gebnisse in Verfahren gegen Totalver­weigerer zu verzeichnen: Wurden zwi­schen 1990 und 1994 - nach Ende des Kalten Krieges und einer Abkehr von häufigen Knaststrafen ohne Bewährung - primär Bewährungsstrafen zwischen drei und sechs Monaten verhängt, so tendieren die Gerichte seitdem sowohl zu höheren als auch zu niedrigeren Stra­fen. Während es also vermehrt zu Ver­warnungen, Einstellungen und anderen 'symbolischen' Ergebnissen kommt, häufen sich gleichzeitig die Knaststrafen ohne Bewährung. Werden diese extre­men Urteile zwar noch selten rechts­kräftig, so war doch spätestens im Sommer 1995 abzusehen, daß es nur noch eine Frage der (kürzeren) Zeit sein konnte, bis eine solche Haftstrafe ohne Bewährung Bestand haben würde. Im Herbst war es dann soweit, das Kam­mergericht in Berlin bestätigte in der Revisionsinstanz 6 Monate ohne Be­währung gegen einen - damit sogar doppelbestraften - Zivildienstverweige­rer, der zuvor bereits zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden war: die erste bekannte rechtskräftige Knast­strafe ohne Bewährung nach etwa 3,5 Jahren.

Die Kriminalisierung radikaler Wehr­pflichtgegner setzt sich daneben auch auf anderen Ebenen mit neuen Maßstä­ben fort - die Arbeit verschiedener In­itiativen erscheint den staatlichen Be­hörden inzwischen eigenständig be­kämpfenswert. So erhielt die Berliner "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär" im Frühjahr 1996 Besuch durch die Polizei, die die Räume aufgrund eines Ermittlungsver­fahrens wegen "Beleidigung" durch­suchte - offizielles Ziel waren die Ver­antwortlichen für ein Plakat, welches die Bundeswehr-Werbung "Ja, Die­nen..." durch "Ja, Morden" logisch fort­setzte - die Namen waren allerdings schon vorher bekannt, aber auch sonst dürften Hausdurchsuchungen wegen ei­nes Beleidigungsverfahrens eher selten sein.

Wenige Wochen später wurde die Woh­nungen von zwei Mitarbeitern der To­talverweigerer-Initiative Braunschweig durchsucht - aufgrund des Verdachts ei­nes Verstoßes gegen das (1935 zur Eli­minierung der Juden aus der Rechtsbe­ratung eingeführten) Rechtsberatungs­gesetz. Die beiden Braunschweiger hat­ten in zwei Fällen andere Totalverwei­gerer vor Gericht - mit der jeweiligen Zulassung durch die betroffenen Ge­richte - verteidigt, nun wirft ihnen die Staatsanwaltschaft Braunschweig "unerlaubte geschäftsmäßige Rechtsbe­ratung" vor, eine Ordnungswidrigkeit, die mit bis zu 10.000,- DM Geldbuße bedroht ist. Auch dem Amtsgericht Braunschweig waren die Fälle bereits bekannt, die Durchsuchung brachte keine neuen Verstöße ans Licht, trotz­dem bestätigte Ermittlungsrichter Nitschke die Beschlagnahmung der vollständigen Verteidigerakten.

Daß die Unterstützungsarbeit für Total­verweigerer eigenständige Aufmerk­samkeit erzeugt, läßt sich auch jüngst dem Verfassungsschutzbericht für 1995 entnehmen. Dort heißt es auf Seite 69, daß die "Rote Hilfe e.V.", die bei der Unterstützung von Totalverweigerern tatsächlich nur eine marginale Rolle spielt, als "Rechts- und Hafthilfeorgani­sation von Linksextremisten" folgende Personenkreise intensiv betreute: "Inhaftierte aus der 'Roten Armee Frak­tion' (RAF), Autonome, militante Kern­kraftgegner, Totalverweigerer und An­hänger der verbotenen 'Arbeiterpartei Kurdistans' (PKK)."

 

Wer sich weiter und intensiver über Hintergründe und Folgen der TKDV in­formieren möchte, sei hierzu auf die aktuelle und inzwischen 4. Auflage des "Wehrpflicht? Ohne uns!"-Readers der TKDV-Initiative Braunschweig hinge­wiesen, die für 3,- DM plus 1,50 DM Versandkosten bestellt werden kann: TKDV-Ini Braunschweig, Friedr.-Wilh.-Str. 46, 38 100 Braunschweig, Tel./Fax 0531 / 4 45 78. Außerdem sei auch auf das diesjährige Bundestreffen der Total­verweigerer hingewiesen, welches vom 19.-21. Juli 1996 in Frankfurt/Main stattfindet, Kontakt ist hier die DFG-VK FfM, Vogelsbergstraße 17, 60 316 Frankfurt, Tel. 069 / 4 98 03 94, Fax 069 / 4 99 00 07.

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