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Totale Kriegsdienstverweigerung - Stand und Entwicklungen
vonWährend die angeblich ins Unermessliche steigenden Zahlen der Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4 Abs. 3 GG, also derjenigen, die ihre Wehrpflicht durch den Zivildienst erfüllen (_ 3 Wehrpflichtgesetz), für eine Scheindebatte sorgen, ziehen die Aktionen der Totalen Kriegsdienstverweigerer zumindest das zunehmende Interesse von Bundeswehr und weiteren staatlichen Stellen auf sich. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die jüngsten Tendenzen auf diesem Gebiet gegeben werden.
Ob die Anzahl der Totalen Kriegsdienstverweigerer in der BRD in den letzten Jahren gestiegen ist, ist schwierig festzustellen. Die Statistiken der Bundesregierung geben hierüber regelmäßig keinen Aufschluss, da sie zum einen in sich widersprüchlich sind, zum anderen bei der Aufzählung beispielsweise der Strafverfahren nach _ 16 Wehrstrafgesetz ("Fahnenflucht") auch diejenigen mitzählen, die sich keineswegs bewusst gegen den Zwang zur Militarisierung wenden, sondern die häufig Probleme im persönlichen Bereich haben, ohne die sie durchaus zur Ableistung eines Kriegsdienstes bereit wären. Anhand der dokumentierten Fälle und erfahrungsbedingten Schätzungen von Dunkelziffern (Totalverweigerer, die ihren Widerstand ohne Kontakte nach außen leben) kann allerdings von einer Größenordnung von 150 - 200 "Fällen" pro Jahr ausgegangen werden, die - mit oder ohne Antrag auf Anerkennung als legale "Kriegsdienstverweigerer" - sich "politisch bewusst" weigern, Wehr- oder Ersatzdienst zu leisten.
Die Aufmerksamkeit der staatlichen Stellen, insbesondere der Bundeswehr, ist in den letzten anderthalb Jahren allerdings gestiegen. Dies dürfte sowohl daran liegen, daß in Zeiten einer sich zuspitzenden Militarisierung der Außen- und Innenpolitik die radikale Ablehnung alles Militärischen schwerer ins Gewicht fällt als zuvor, als auch daran, daß mit zunehmend professioneller Öffentlichkeitsarbeit verschiedener Initiativen Justiz und Militär in vielen Einzelfällen verstärkt unter Druck geraten. Die Motivation, sich der Wehrpflicht umfassend zu verweigern, wurde in den letzten Jahren ebenfalls breitbandiger; so stellt die Ablehnung eines antisozialen Zwangsdienstes inzwischen einen durchaus eigenständigen Grund zur totalen Verweigerung gegenüber dem staatlichen Dienstanspruch dar und wird zumindest nicht mehr nur als 'Nebenaspekt' angeführt.
Durch diese Verbreiterung der Grundlage, auf der verweigert wird, und ihrer zunehmenden medialen Wahrnehmung hat sich die gesamte Thematik in den letzten zwei Jahren auch aus ihrer Tabuisierung lösen können; "Totalverweigerung" ist inzwischen ein so bekanntes Schlagwort, daß zunehmend Wehrpflichtige, die überhaupt keine politischen Bezüge haben, dies als eine von drei Alternativen ansehen, meist allerdings, ohne sich der Konsequenzen voll bewusst zu sein. Medien greifen den Begriff auf, ohne ihn noch erklären zu müssen, andere politisch progressive Gruppen sehen das eigene Verhalten zur Wehrpflicht auch als Standortfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Diese Entwicklungen sind allerdings noch um ein vielfaches ausbaubar und stellen quantitativ höchstens den Beginn einer Situation dar, in der Totale Kriegsdienstverweigerung zur bewussten und diskutierten Frage in allen sozialen Gruppierungen wird.
Die bereits erwähnte entsprechend höhere Aufmerksamkeit der staatlichen Stellen drückt sich beim Militär unter anderem in längeren Arrestierungen aus. Lag die Grenze für (nicht von einem Strafprozess unterbrochenen) Disziplinararrest gegen Totalverweigerer, die keinen Antrag auf Anerkennung als "KDVer" gestellt haben, bis 1993 bei maximal 63 Tagen, so wurden allein 1994 viermal längere Arreste (zwischen 70 und 84 Tage) verhängt, jeweils mit der Zustimmung verschiedener Kammern des Truppendienstgerichts Nord. Alle Fälle zogen gleichzeitig entsprechend erhöhtes Interesse der Medien nach sich. In zumindest einem Fall hat ein einzelner Kommandeur am 28. Mai 1996 seine Lehren hieraus gezogen und sich geweigert, einen Totalverweigerer, der sich an diesem Tag in der Kaserne gestellt hat, überhaupt zu arrestieren. Der Verweigerer konnte wieder nach Hause gehen und erwartet nun "lediglich" den Strafprozeß wegen "Fahnenflucht".
Daneben wurde Ende 1995 eine Sondervorschrift der Abteilung "G1 - Innere Führung" des IV. Korps (Potsdam) mit dem Titel "Verhalten von Vorgesetzten gegenüber Totalverweigerern" bekannt. Hierin wurde beispielsweise die wöchentliche Besuchszeit für Totalverweigerer auf zehn Minuten herabgesetzt, obwohl sich aus gesetzlichen Regelungen eine Mindestbesuchszeit von einer Stunde ergibt. Später wurde dieser Punkt auch vom Bundeskriegsministerium für ungültig erklärt, es habe insoweit auch keine Absprache mit den Rechtsberatern des Ministeriums gegeben. Beschwerden allerdings, die sich gegen die Anwendung dieser Vorschrift richteten, wurden sämtlichst abschlägig beschieden.
Eine neue Entwicklung scheint sich auch dahingehend abzuzeichnen, daß nach dem Vollzug von Disziplinararrest, also dann, wenn das Truppendienstgericht keinem weiteren Arrest mehr zustimmt, mehrmals kein Dienstverbot verhängt wurde, wie dies bisher der Fall war. Dies hat zum einen die Folge, daß der 'Soldat' ggf. unerlaubt abwesend ist und daher keine Bezüge erhält - insoweit gleicht sich die Situation hierdurch der unerlaubten Abwesenheit im Zivildienst an. Andererseits kann nun aber das Militär - und von dieser Möglichkeit macht es auch Gebrauch - den Abwesenden 'ärgern', indem wiederholt Feldjäger den Totalverweigerer einfangen, der dann, mangels disziplinarer Möglichkeiten, wieder aus der Kaserne nach Hause geht.
Aber auch die Strafjustiz reagiert auf die veränderte Lage. Vermutlich sowohl durch die Militarisierung der Politik als auch aufgrund der Bekanntheit der Totalverweigerung und nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Diskussion um die Wehrpflicht haben sich viele Menschen, und damit natürlich auch und gerade RichterInnen, eine Meinung gebildet und einen Standpunkt eingenommen. So ist derzeit eine zunehmende Polarisierung der strafrechtlichen Ergebnisse in Verfahren gegen Totalverweigerer zu verzeichnen: Wurden zwischen 1990 und 1994 - nach Ende des Kalten Krieges und einer Abkehr von häufigen Knaststrafen ohne Bewährung - primär Bewährungsstrafen zwischen drei und sechs Monaten verhängt, so tendieren die Gerichte seitdem sowohl zu höheren als auch zu niedrigeren Strafen. Während es also vermehrt zu Verwarnungen, Einstellungen und anderen 'symbolischen' Ergebnissen kommt, häufen sich gleichzeitig die Knaststrafen ohne Bewährung. Werden diese extremen Urteile zwar noch selten rechtskräftig, so war doch spätestens im Sommer 1995 abzusehen, daß es nur noch eine Frage der (kürzeren) Zeit sein konnte, bis eine solche Haftstrafe ohne Bewährung Bestand haben würde. Im Herbst war es dann soweit, das Kammergericht in Berlin bestätigte in der Revisionsinstanz 6 Monate ohne Bewährung gegen einen - damit sogar doppelbestraften - Zivildienstverweigerer, der zuvor bereits zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden war: die erste bekannte rechtskräftige Knaststrafe ohne Bewährung nach etwa 3,5 Jahren.
Die Kriminalisierung radikaler Wehrpflichtgegner setzt sich daneben auch auf anderen Ebenen mit neuen Maßstäben fort - die Arbeit verschiedener Initiativen erscheint den staatlichen Behörden inzwischen eigenständig bekämpfenswert. So erhielt die Berliner "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär" im Frühjahr 1996 Besuch durch die Polizei, die die Räume aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen "Beleidigung" durchsuchte - offizielles Ziel waren die Verantwortlichen für ein Plakat, welches die Bundeswehr-Werbung "Ja, Dienen..." durch "Ja, Morden" logisch fortsetzte - die Namen waren allerdings schon vorher bekannt, aber auch sonst dürften Hausdurchsuchungen wegen eines Beleidigungsverfahrens eher selten sein.
Wenige Wochen später wurde die Wohnungen von zwei Mitarbeitern der Totalverweigerer-Initiative Braunschweig durchsucht - aufgrund des Verdachts eines Verstoßes gegen das (1935 zur Eliminierung der Juden aus der Rechtsberatung eingeführten) Rechtsberatungsgesetz. Die beiden Braunschweiger hatten in zwei Fällen andere Totalverweigerer vor Gericht - mit der jeweiligen Zulassung durch die betroffenen Gerichte - verteidigt, nun wirft ihnen die Staatsanwaltschaft Braunschweig "unerlaubte geschäftsmäßige Rechtsberatung" vor, eine Ordnungswidrigkeit, die mit bis zu 10.000,- DM Geldbuße bedroht ist. Auch dem Amtsgericht Braunschweig waren die Fälle bereits bekannt, die Durchsuchung brachte keine neuen Verstöße ans Licht, trotzdem bestätigte Ermittlungsrichter Nitschke die Beschlagnahmung der vollständigen Verteidigerakten.
Daß die Unterstützungsarbeit für Totalverweigerer eigenständige Aufmerksamkeit erzeugt, läßt sich auch jüngst dem Verfassungsschutzbericht für 1995 entnehmen. Dort heißt es auf Seite 69, daß die "Rote Hilfe e.V.", die bei der Unterstützung von Totalverweigerern tatsächlich nur eine marginale Rolle spielt, als "Rechts- und Hafthilfeorganisation von Linksextremisten" folgende Personenkreise intensiv betreute: "Inhaftierte aus der 'Roten Armee Fraktion' (RAF), Autonome, militante Kernkraftgegner, Totalverweigerer und Anhänger der verbotenen 'Arbeiterpartei Kurdistans' (PKK)."
Wer sich weiter und intensiver über Hintergründe und Folgen der TKDV informieren möchte, sei hierzu auf die aktuelle und inzwischen 4. Auflage des "Wehrpflicht? Ohne uns!"-Readers der TKDV-Initiative Braunschweig hingewiesen, die für 3,- DM plus 1,50 DM Versandkosten bestellt werden kann: TKDV-Ini Braunschweig, Friedr.-Wilh.-Str. 46, 38 100 Braunschweig, Tel./Fax 0531 / 4 45 78. Außerdem sei auch auf das diesjährige Bundestreffen der Totalverweigerer hingewiesen, welches vom 19.-21. Juli 1996 in Frankfurt/Main stattfindet, Kontakt ist hier die DFG-VK FfM, Vogelsbergstraße 17, 60 316 Frankfurt, Tel. 069 / 4 98 03 94, Fax 069 / 4 99 00 07.