Ein Beitrag zur Diskussion um eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung

Totgesagte leben länger: Ohne OSZE geht es nicht!

von Sabine Jaberg
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Wer die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nach dem Ende des globalen Macht- und Systemkonflikts bereits dem Müllhaufen der Geschichte übergeben sah, täuschte sich gewaltig: Mittlerweile gilt sie unter dem Namen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sogar als regionale Abmachung gemäß Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen (UNO).

Dennoch war die Einschätzung, die KSZE würde nach der Zeitenwende ein jähes Ende erleben, keinesfalls abwegig: Schließlich ist sie ein Kind des Kalten Krieges, das die Erzeuger in die Welt setzten, um aus der Blockkonfrontation abgeleitete Zielvorstellungen besser verwirklichen zu können: Den westlichen Staaten sollte es ein Minimum an Kontrolle vornehmlich der Sowjetunion bescheren, diese wiederum erhoffte sich wirtschaftliche Zusammenarbeit, und die neutralen wie nichtpaktgebundenen Staaten versprachen sich größere Einflussmöglichkeiten. Dennoch wies die KSZE bereits über die Zeit der Blockkonfrontation hinaus, zwang sie doch mit sanfter Gewalt die feindlichen Eltern zur Kooperation: Anders als ihre älteren Geschwister NATO und WVO stand die KSZE nicht für die Logik militärischer Konfrontation, sondern für die Kultur eines die Bündnis- und Systemgrenzen übergreifenden Sicherheitsdialogs.

Diese Eigenschaft macht die OSZE auch für die heutige Sicherheitsarchitektur wertvoll. Denn der gegenwärtig dominierende Konflikttypus, in dem ethnische Faktoren politisiert und zu Trennlinien zwischen Gut und Böse stilisiert werden, verlangt aufgrund seiner enormen Aufwuchsgeschwindigkeit vordringlich nach Abbau jener Faktoren, die Gewalt fördern. Dies ist nur gemeinsam, nicht gegeneinander möglich. Elemente einer wirksamen Vermeidungsstrategie sind: Schutz von Minderheiten- und Menschenrechten, ökonomischer Ausgleich, ökologische Stabilität, Abrüstung sowie militärische Vertrauensbildung. Aber sie reichen keineswegs hin, um akute Konflikte in friedlichen Bahnen zu halten bzw. in diese zurückzuführen. Früherkennung, Frühwarnung, friedliche Streitbeilegung sowie rechtzeitiges und adäquates Handeln müssen hinzukommen.
 

Trotz mancher Unzulänglichkeiten ist die OSZE in wichtigen Bereichen der Gewaltprävention wie der friedlichen Konflikteinwirkung schon heute besser ausgestattet und auch erfolgreicher, als die NATO es hier vermutlich je sein wird. Beispielsweise haben die Missionen des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten zahlreiche Konflikte - z.B. zwischen Estland und Russland um die im Baltenstaat lebende russischsprachige Minderheit - entschärft, die OSZE-Langzeitmissionen vor Ort den Aufbau einer Zivilgesellschaft gefördert. Diese konkreten Erfolge haben ihre Basis in den vielleicht abstrakt anmutenden, aber dennoch praxisrelevanten strukturellen Eigenheiten der OSZE:

Die OSZE spaltet Gesamteuropa nicht, sondern verbindet es.
Die OSZE ist der Ort für eine "Regionalinnenpolitik", wenn auch ohne Gewaltmonopol: Jeder Teilnehmerstaat hat sein prinzipielles Einverständnis erteilt, dass die Instrumente kooperativer Sicherheit bei Bedarf auch auf ihn Anwendung finden. Dies erhöht die Legitimität aktiven Konfliktmanagements. Die Wichtigkeit dieses Sachverhalts hat auch die OSZE schmerzhaft erfahren müssen. Als sie mit der Suspendierung der Teilnahmerechte Jugoslawiens die Innenpolitik-Situation aufhob, weigerte sich Belgrad folgerichtig, das Mandat der Langzeitmissionen im Sandschak, der Vojvodina und dem Kosovo zu verlängern.

Die OSZE bindet ihre Teilnehmer in der Regel nicht rechtlich, sondern verpflichtet sie ausschließlich politisch. Nur auf dieser Grundlage haben die Staaten der OSZE vornehmlich im Bereich der Menschlichen Dimension relativ weitreichende Kompetenzen zugestanden - so etwa die Bestimmungen über die Entsendung von Missionen oder über die Einleitung von politischen Schritten außerhalb des Territoriums des betroffenen Staats bei massiven Verstößen gegen die Bestimmungen der "Menschlichen Dimension".

Die OSZE dient als Scharnier zwischen den Institutionen der Staatenwelt und jenen der Gesellschaftswelt. Beispielsweise darf der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten Informationen u.a. von Menschenrechtsorganisationen entgegennehmen und auf dieser Grundlage aktiv werden; an den Implementierungstreffen zur Menschlichen Dimension beteiligen sich zahlreiche nichtstaatliche Einrichtungen.
 

Aufgaben für UNO und OSZE
Allerdings eröffnet der kooperative Ansatz nicht nur Chancen, sondern setzt auch Grenzen: Die Beugung von Friedens- und Rechtsbrechern oder die militärgestützte Sicherung prekärer Waffenruhen gehören nicht in den Zuständigkeitsbereich der OSZE. Das Völkerrecht betraut mit diesen Aufgaben eine andere Organisation, nämlich die UNO. Der Sicherheitsrat - und nur er - ist berechtigt, die für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Zwangsmaßnahmen zu beschließen und durchzuführen. Doch die Praxis sieht anders aus: Weder die UNO noch die OSZE als deren regionale Abmachung, sondern die NATO profiliert sich als Friedensstifter auf dem Balkan: Zwar hat sie, anders als es die in Brüssel gestrickte Legende verbreitet, das Dayton-Abkommen nicht herbeigebombt, aber im Rahmen von IFOR/SFOR wichtige polizeiliche Funktionen ausgeübt und damit die Umsetzung des Friedensplans gestützt. Dem auf den Einzelfall fixierten Pragmatiker kann es vielleicht egal sein, welche Einrichtung auf welcher rechtlichen Grundlage Frieden stiftet, dem Architekten und dem kritischen Begleiter des Aufbaus einer globalen bzw. regionalen Friedens- und Sicherheitsordnung hingegen nicht:

Erstens sind es nicht zuletzt die NATO-Staaten gewesen, die der UNO die in Artikel 43 der Charta vorgesehenen Streitkräfte zur Durchsetzung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Maßnahmen bis heute verweigern. Im Klartext: Sie selbst haben unter anhaltender Missachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen eine Situation geschaffen, die es ihnen heute immer wieder erlaubt, die Handlungsfähigkeit der NATO gegen die Hilflosigkeit der UNO auszuspielen.

Zweitens wird die Funktion des Sicherheitsrats auf eine nachträgliche Zustimmung für eine Friedensregelung beschränkt, die ihn in die Rolle eines Statisten versetzt, der NATO aber Regie und Hauptrolle überlässt. Dieser Sachverhalt ist nicht zuletzt deshalb so problematisch, weil die Dayton-Regelung nicht als ein widrigen Umständen geschuldeter Ausnahmefall behandelt wird, dessen rechtlich bedenkliche Tendenzen durch Maßnahmen zur Stärkung der Weltstaatengemeinschaft zu korrigieren sind. Das Gegenteil trifft zu: In der Debatte um einen Militärschlag gegen Jugoslawien wegen der Situation im Kosovo gerät die Zustimmung des Sicherheitsrats von einer völkerrechtlich notwendigen Voraussetzung zu einer zwar erwünschten, aber überflüssigen Zierde. Die Luftangriffe der USA und Großbritanniens gegen den Irak schließlich haben ohne Rücksicht auf politische Vernunft und gegen den Willen zahlreicher Staaten ein über Jahrhunderte erworbenes Gut leichtfertig aufs Spiel gesetzt: das Gewaltverbot. Ihr Alleingang bedeutet den Rückfall in die Ideologie des gerechten Kriegs, verbunden mit dem Anspruch auf eine hegemonial gestiftete Weltordnung unter Einschluss militärischer Mittel.
 

Die NATO taugt als Exklusiv-Club nicht zum Fundament für eine Friedens- und Sicherheitsordnung. Diese muss von der gesamten globalen bzw. regionalen Staatengemeinschaft getragen werden: UNO und OSZE sind solche Einrichtungen, an denen die jeweiligen Mitglieder zumindest formal (relativ) gleichberechtigt partizipieren können. Dabei gebührt der regionalen Abmachung bei der friedlichen Streitbeilegung der Vorzug, die Weltorganisation bietet sich als völkerrechtlich verankertes kollektives Sicherheitssystem für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen an. Beide Einrichtungen weisen derzeit jedoch erhebliche Mängel auf. Deren Beseitigung wäre eine lohnende Investition. Je früher und energischer damit begonnen wird, desto besser.

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