Türkei: EU-Beitrittsverhandlungen in friedenspolitischer Sicht

von Andreas Buro

Für die Friedensbewegung stellt sich nicht die Frage: EU-Beitritt der Türkei - Ja oder Nein. Vielmehr geht es um den friedenspolitischen Stellenwert der Beitrittsverhandlungen - denn wer weiß schon, wie die Welt in 10 oder 15 Jahren aussehen wird! Freilich ist zur Zeit noch keine Entscheidung des EU-Regierungschefs über die Aufnahme der Verhandlungen getroffen worden. Ich gehe jedoch davon aus, dass diese trotz der gegenwärtigen Veto-Drohung Zyperns positiv sein wird.

Friedenspolitisch stellen sich bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen folgende Fragen:

  1. Wird die politische Machtstellung des Militärs zurückgedrängt und damit dessen Aggressivität nach innen und außen eingeschränkt?
  2. Wird eine friedenspolitische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts ermöglicht?
  3. Ist zu erwarten, dass die Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten durch eine Annäherung der Türkei an die EU in diese hineingetragen werden?
  4. Wird die Türkei angesichts ihrer engen politischen, finanziellen und militärischen Bindungen an die USA zum trojanischen Pferd in der EU und zieht diese in die imperiale Politik der USA mit hinein?
  5. Werden der Zypern-Konflikt und das prekäre Verhältnis zwischen der Türkei und Griechenland friedenspolitisch negativ zu Buche schlagen?

Selbstverständlich kann keine dieser Zukunftsfragen endgültig beantwortet werden. Nur Erwägungen sind möglich.

Zu 1. Die bisherigen EU-Türkei-Verhandlungen haben eindeutig die dominierende Position des Militärs geschwächt. Der Nationale Sicherheitsrat ist nicht mehr vollständig in der Hand der Generäle. Deshalb sind viele von ihnen Gegner des EU-Beitritts. Sie betreiben, um ihre Bedeutung zu unterstreichen im kurdischen Südosten aggressive Militäraktionen gegen die dortige kurdische Guerilla. Die Aufkündigung des einseitigen Waffenstillstandes durch die PKK in diesem Sommer kommt ihnen sehr gelegen. Möglicherweise ergibt sich hier eine neue weiter reichende Eskalation von Gewalt, was das Militär stärken würde.

Zu 2. Die bisherigen Einwirkungen der EU auf die Türkei haben zweifellos den Spielraum für die Kurden in der Türkei vergrößert. Das Tabu, das bisher immer die Kurden und ihre Forderungen umgeben hat, scheint gebrochen zu sein. Allerdings hat die EU-Kommission das Wort "Kurden" erst in jüngster Zeit in den Mund genommen. Doch auch hier trifft zu, was für die meisten anderen Reformen in der Türkei gilt. Der Weg von der Verabschiedung von Gesetzen bis zu ihrer Verwirklichung ist weit. Die kemalistische Bürokratie, Technokratie und das Militär sind nicht erpicht darauf, den Kurden ihre kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte de facto zuzugestehen. Auch die nationalistischen Kräfte in der Regierungspartei AKP werden in dieser Hinsicht ein nicht unerheblicher Widerstand sein. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wird jedoch der Lösung dieses Konflikts zugute kommen, so lange die EU nicht aus anderen politischen Interessen bereit ist, jede menschenrechtliche Kröte zu schlucken oder zu übersehen. Eine zentrales Problem ist, ob es der kurdischen Seite gelingt, eine glaubwürdige, demokratische Repräsentation ihrer Interessen zu schaffen. Gegenwärtig ist sie weit davon entfernt.

Zu 3. Die Türkei ist Mitglied der NATO. Insofern ist die meist aus NATO-Staaten gebildete EU bereits jetzt enger Nachbar der arabisch-islamischen Staaten. Daran wird sich durch die Beitrittsverhandlungen grundsätzlich nichts ändern. Die Gefahr besteht schon jetzt, dass die Türkei als ein militärisches Instrument in den Konflikten dieser Region eingesetzt wird und dadurch die NATO-EU-Staaten in Konflikte hineingezogen werden. Da jegliche militärischen Abenteuer Ankaras die Beitrittsverhandlungen belasten, werden solche Tendenzen eher gebremst, solange in der Türkei der politische Kurs für eine EU-Aufnahme dominant ist.

Zu 4. Seit langer Zeit drängen die USA, der wichtigste militärische Partner Ankaras, auf eine EU-Aufnahme der Türkei. Trotz der Trübung des Verhältnisses zu Beginn des jüngsten Irak-Krieges besteht ein de facto Militärbündnis zwischen den USA, der Türkei und Israel. Sie bilden die wirkliche Regionalmacht in dieser Region. Diese Grundkonstellation gibt nach wie vor dem türkischen Militär eine erhebliche Machtstellung. Dazu kommt die finanzielle Abhängigkeit von den USA und die enge politische Verbindung. Man kann deshalb zu Recht befürchten, Ankara könne sich zu einem "Trojanischen Pferd" der USA in der EU entwickeln. Wie weit sich dieses in der Zukunft tatsächlich auswirken wird, hängt nicht zuletzt von dem Verhältnis der EU zu den USA ab. Beide sind Partner in der imperialen Politik, aber auch ökonomische Rivalen im Kampf um die Globalisierung ihrer Interessen.

Zu 5. Bisher hat die EU es vermocht, zwischenstaatliche Konflikte in ihrem Bereich zu deeskalieren und zivil zu bearbeiten. Die Lösung der Zypern-Frage ist zuletzt an der Verweigerung der griechischen Zyprioten gegenüber dem Annan-Plan gescheitert, nicht an der türkischen Haltung. Ich gehe davon aus, dass bald nach Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ein Kompromiss gefunden wird. Die alten Kampfhähne Griechenland und Türkei haben in der jüngeren Zeit sich um eine Verbesserung ihrer Beziehungen bemüht. In den Beitrittsverhandlungen werden voraussichtlich auch bilaterale Probleme der beiden Länder einfließen und einer Verhandlungslösung zugänglich gemacht werden.

Insgesamt scheinen die friedenspolitischen Vorteile für die Verhandlungen zu überwiegen. Dabei kann nicht übersehen werden, dass sich mit der Türkei ein Staat der EU nähert, der von starken nationalistischen und militaristischen Traditionen geprägt und für den eine pazifistische Orientierung der Gesellschaft noch in weiter Ferne liegt. Doch das gilt ja auch für manche EU-Staaten.

 

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