TÜSIAD-Studie: Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei

von Martin Singe
Schwerpunkt
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Der von Andreas Buro koordinierte Dialogkreis "Krieg in der Türkei: Die Zeit ist reif für eine politische Lösung" hat im Oktober 1997 eine zweite Veröffentlichung mit dem Titel "Wirtschaft contra Militär in der Türkei" herausgebracht. Darin wird auszugsweise die Studie des TÜSIAD-Vereins "Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei" dokumentiert. Der um Demokratisierung bemühte Unternehmer-Verband weist dabei vor allem auf notwendige Verfassungs- bzw. Gesetzesänderungen hin. Autor ist der Verfassungsjurist Professor Dr. Bülent Tanör (Istanbul). Im folgenden fassen wir zentrale Inhalte der Kritik und Forderungen zusammen. Die 84 Seiten umfassende Broschüre (8.- DM / ISBN: 3-929522-46-2) kann über den Dialogkreis oder den Buchhandel bezogen werden.

Die Studie gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die formal-demokratischen Aspekte untersucht, dann die Menschenrechte beleuchtet und schließlich die gerichtliche Kontrolle von Grundrechten überprüft. Auf den ersten und dritten Bereich wird hier nur kurz eingegangen, in den Mittelpunkt rücken wir den Menschenrechtsbereich. Die Studie belegt eindrücklich, daß die herrschenden Zustände in der Türkei nicht Summe irgendwelcher einzelnen Übergriffe sind, sondern von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen getragen werden, die einer gründlichen Revision bedürfen, wenn demokratische Prinzipien zum Tragen gebracht werden sollen.

Demokratische Grundregeln

Im Parteiengesetz findet sich eine beängstigende Liste von Verboten und Einschränkungen der Betätigung von Parteien. Wie in totalitären Systemen ist noch nicht einmal eine abweichende Meinung gegenüber nationalen Interessen und geschichtlich-ideelen Werten des Türkentums erlaubt. Außerdem dürfen Parteien nicht die Auffassung vertreten, es gäbe Minderheiten in der Türkei. Sie dürfen nicht für den Schutz nicht-türkischer Sprachen oder Kulturen eintreten. Parteien ist es verboten, selbst die kurdische Sprache in irgendeiner Weise zu verwenden.

TÜSIAD fordert, diese Bestimmungen, die einem kulturellen Genozid gleichkämen, allesamt aus dem Gesetz zu entfernen.

Weiterhin wird die unzulängliche Kontrolle des Militärs in den Verfassungsbestimmungen gerügt. Der "Hohe Rat für Nationale Verteidigung" wurde in den Rang eines Verfassungsorgans erhoben und ist inzwischen nicht nur für die Verteidigung, sondern für die "Nationale Sicherheit" zuständig. Vergleichbare nationale Sicherheitsräte gibt es nur in Südkorea und Algerien. TsSIAD fordert, verteidigungspolitische und innenpolitische Fragen strikt zu trennen und auch die Verordnung über eine Krisenmanagementzentrale des Ministerpräsidiums, die das Risiko eines semi-militärischen Regimes in sich birgt, aufzuheben. Ebenso müßten verschiedene Notstandsverordnungen und Antiterrorgesetze, die zunehmend Bestandteile der Normalverfassung geworden seien, aufgehoben werden.

Menschenrechte

In der Verfassungspräambel ist u.a. geregelt, daß "keine Meinung und Ansicht gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird". Es wird gefordert, diesen Teil der Präambel, der einer totalitären Unterdrückung von Meinungsfreiheit gleichkomme, zu streichen. In Art. 13 der Verfassung werden - neben besonderen Gründen - "allgemeine Gründe" genannt, die Grundrechte und -freiheiten einschränken können, u.a.: die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und -volk, nationale Souveränität, nationale Sicherheit, öffentliche Ordnung, Sicherheit der Allgemeinheit und öffentliches Interesse.

TÜSIAD sieht hierin eine Beschränkungssystematik der Verfassung, der zufolge die grundlegendsten demokratischen Werte - wie Meinungsfreiheit und Freiheit von Wissenschaft und Kunst - beschnitten würden.

Freiheit der Person

Das Grundrecht auf Unantastbarkeit, Freiheit und Sicherheit der Person wird von den gesetzlichen Bestimmungen zu Todesstrafe, extremen Handlungen durch die Polizeikräfte, Sicherheitsüberprüfungen, Festnahme, Gewahrsam und Haft vielfach zerstört. Z.B. darf die Polizei lt. Polizeigesetz im Falle des Widerstands einer aufzulösenden Versammlung jede Art von Waffe einsetzen, die der Leiter der Einsatzkräfte bestimmt. Solche Regelungen ermöglichen in der Praxis außergerichtliche Hinrichtungen und polizeiliches Schießen in Menschenmengen. Die Gesetze über den Ausnahmezustand und Notstand bieten zusätzliche Rechtfertigungen für den Schußwaffengebrauch: "Im Falle der Nichtbeachtung der Aufforderung `Ergib Dich` können die Angehörigen der zuständigen Sicherheitskräfte direkt und ohne zu zögern auf das Ziel schießen."

1992 sind in der Strafprozeßordnung positive Neuregelungen vorgenommen worden, die Beschuldigte vor Folter und unmenschlichen Verhörmethoden schützen sollen. Zu kritisieren bleibt allerdings, daß Straftäter, für die die Staatssicherheitsgerichte zuständig sind, von diesen Neuregelungen ausgenommen werden. Obendrein entscheidet die Polizeit, welchen Status ein Angeklagter erhält. Die Polizeigewahrsamsregelungen und Beamtengesetze begünstigen Folter bzw. behindern die gerichtliche Verfolgung von polizeilichen sbergriffen.

Meinungsfreiheit

Die gesetzlich vorgesehenen Sicherheitsüberprüfungen im öffentlichen Dienst haben dazu geführt, daß ca. 5.000 Personen, darunter Lehrpersonal der Universitäten, ohne Begründung oder Gewährung von Rechtsschutz entlassen worden sind. Die Verfolgung von Gesinnungsdelikten - z.B. politischer Kritik von Schriftstellern - ist an der Tagesordnung, vor allem begünstigt durch das Antiterrorgesetz, das "Propaganda gegen die Unteilbarkeit des Staates" verhindern will. Art. 159 verbietet, "das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideele Person der Regierung, die Ministerien, das Militär und die staatlichen Sicherheitskräfte oder die ideelle Person der Justiz öffentlich zu beschimpfen und zu verschmähen". Das Militär ist zusätzlich vor Meinungsfreiheit abgeschottet, da es verboten ist, die Bevölkerung vom Militärdienst abzubringen. Allein im Jahr 1996 wurden Gesinnungstäter zu insgesamt 140 Jahren Haft und vielen Milliarden Lira Geldstrafe verurteilt. Die Pressefreiheit ist stark behindert, Beschlagnahmebeschlüsse gegen Publikationen sind an der Tagesordnung.

Des weiteren kritisiert TÜSIAD das türkische Vereinsgesetz als "eines der undemokratischsten überhaupt" und rügt die Beschränkungen der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.

Ebenfalls wird gefordert, die Verfassungsbestimmungen außer Kraft zu setzen, die die kurdische Minderheit diskriminieren, insbesondere Bestimmungen zur Namensgebung, zu Ortsnamen und zu Sprachverboten. Ebenso dürfe das Eintreten für die kurdische Kultur, was nicht mit Separatismus gleichzusetzen ist, nicht länger durch vielfältige, tw. schon erwähnte Gesetze (zu Presse, Publikationen, Vereinen, Parteien, Antiterror) behindert werden.

Verfassungsgerichtsbarkeit

Entscheidend für einen Rechtsstaat ist die grundsätzliche gerichtliche sberprüfbar- bzw. Einklagbarkeit der Gesetze und Grundrechte. TsSIAD kritisiert diesbezüglich vor allem, daß 626 vom Nationalen Sicherheitsrat zwischen 1980 und 1983 erlassene Gesetze nicht für verfassungswidrig erklärt werden dürfen. Dadurch bekämen die Gesetze des Nationalen Sicherheitsrates geradezu die Stellung einer "Zweitverfassung". Außerdem dürfen sämtliche Gesetze, dieim Notstand, Ausnahmezustand oder Krieg erlassen werden, nicht verfassungsrechtlich überprüft werden. Dies stehe - so TsSIAD - dem Prinzip entgegen, daß auch Notstandsordnungen "Rechtsordnungen" sein müßten. Außerdem werden die Sonder-Prinzipien der Militärgerichtsbarkeit scharf kritisiert und die Rückkehr zu einer einheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit angemahnt.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".