Auszüge aus dem Gedächtnisprotokoll eines totalen Kriegsdienstverweigerers

Über den staatlichen Umgang mit Pazifisten

von Christoph Kunstmann
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"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." So lautet Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Freiheit einer getroffenen Gewissensentscheidung sollte unverletzlich sein. Wie leichtfertig allerdings mit diesem hohen Rechtsgut umgegangen wird, zeigen die staatlich repressiven Maßnahmen, denen totale Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt sind.

Aus Glaubens- und Gewissensgründen verweigert Christoph Kunstmann jeglichen Kriegsdienst, einschließlich dazugehöriger Handlungen, wie der Musterung. Das teilte er dem zuständigen Kreiswehrersatzamt bereits im Jahr 1993 mit und bat darum, seine Gewissensentscheidung zu akzeptieren. In der darauffolgenden Zeit versuchte die Bundeswehr mit Hilfe der Polizei, den totalen Kriegsdienstverweigerer der Musterung zwangszuzuführen. Dabei bediente sich die zuständige Polizeiinspektion Saalfeld in Thüringen Mittel, mit denen in der Regel Kriminelle gesucht und behandelt werden: Sie drohte mit Haftbefehl, erschien in der Nacht, um eine Festnahme zu vollziehen und observierte mehrfach die Wohnung von Christoph Kunstmann.
Gegen die Praktiken der Polizei wurde mehrfach Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt. Weiterhin unterrichtete Christoph Kunstmann über die Vorfälle die ev.-luth. Landeskirche in Thüringen, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und Bundestagsabgeordnete, wie Winni Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, oder Rainer Eppelmann, CDU, die beide den Totalverweigerer unterstützen.
Um eine Zwangsmusterung zu verhindern, stellte Christoph einen Eilantrag bei dem zuständigen Verwaltungsgericht gegen die polizeiliche Vorführung zur Musterung und Ladung zur Musterung. Den Eilantrag entschied das Gericht nach über einem Jahr im Februar 1997 abschlägig. Begründet wurde der Beschluß mit dem zwingenden Vollzug des Wehrpflichtgesetzes, in dessen Zusammenhang Grundrechte eingeschränkt werden. Daraufhin prüfte Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen den Verwaltungsgerichtsbeschluß. Der Leiter des südthüringischen Kreiswehrersatzamtes Suhl, Herr Zahrer, wurde darüber in Kenntnis gesetzt und gebeten, da noch nicht alle rechtsstaatlichen Schritte erschöpfend geprüft und angewandt worden sind, von einer polizeilichen Zwangszuführung zur Musterung abzusehen.
Kreiswehrersatzamt und Polizei ignorierten die Sachlage jedoch massiv und gingen am 25. März 1997 mit Gewalt gegen den totalen Kriegsdienstverweigerer vor:
Auszüge aus dem Gedächtnisprotokoll von Christoph Kunstmann:
"Am Dienstag, den 25. März 1997, gegen 8.40 Uhr klingelte es. Kurz darauf klopfte es lautstark an der Wohnungstür und ein Mann brüllte: 'Aufmachen, Polizei! Der Herr Kunstmann ist doch da. Wenn Sie nicht aufmachen, brechen wir die Tür auf!`. Ich lag zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer akuten Erkrankung im Bett. A.F., Freundin und 2. Hauptmieterin der Wohnung, öffnete nach der Drohung der Polizei die Tür und fragte nach dem Anliegen. Der Polizist reagierte darauf in keiner Weise, sondern verschaffte sich gewaltsam, ohne einen Grund zu nennen, Zugang zur Wohnung.
[...] Ich fragte den Polizisten nach seinem Anliegen. Dieses nannte er mir nicht, stattdessen sagte er: 'Sie wissen doch, worum es geht!`
[...] In der Zwischenzeit konnte ich feststellen, daß insgesamt 4 Beamte, davon zwei in Zivil, anwesend waren. Da sich herausstellte, daß man mich zur Musterung polizeilich zwangszuführen will, verlangte ich die Vorlage des Amtshilfeersuchen des Kreiswehrersatzamtes Suhl an die Polizeiinspektion Saalfeld. Als Antwort erhielt ich von dem Beamten Herrn Möller (seinen Namen nannte er mir im Verlauf) zur Antwort: 'Das kriegen Sie auf der Dienststelle zu sehen!` Nachdem ich aber auf die Vorlage des Vorführungsersuchens bestand, wies Herr Möller seine Kollegin an, das Amtshilfeersuchen des Kreiswehrersatzamtes Suhl aus der Polizeiinspektion Saalfeld zu holen.
[...] Man brachte mich mit einem Streifenwagen in die Polizeiinspektion Saalfeld, die um 9.15 Uhr erreicht wurde. Dort mußte ich zuerst im unteren Flur auf einem Stuhl vor einer Haftzelle Platz nehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt erhielt ich keine Dienstnummern der Beamten der Polizeiinspektion Saalfeld, obwohl ich mehrfach höflich darum bat.
[...] Ich fragte den Polizisten Herrn Möller: 'Sie haben nach dem Amtshilfeersuchen des Kreiswehrersatzamtes Suhl die Aufgabe, mich zur Zwangsmusterung zuzuführen. Aus welchem Grund halten Sie mich dann in der Polizeiinspektion Saalfeld fest?` Als Antwort erhielt ich: 'Wir wechseln den Wagen!`. PHM Möller ging zum Kaffeeautomaten, nahm sich Kaffee und ging in ein Zimmer. Erst nach 30 Minuten wurde ich mit einem zivilen Einsatzfahrzeug nach Suhl gefahren.
[...] PHM Möller führte mich zum Hintereingang des Kreiswehrersatzamtes Suhl. Dort wartete Frau Bauer, Mitarbeiterin des Kreiswehrersatzamtes Suhl, um mich in Empfang zu nehmen, was sie durch Ihre Worte belegte, Zitat: 'Ich nehme den Kandidaten in Empfang.` Weiterhin waren an dem Hintereingang anwesend: Detlef Harland, Beauftragter der Thüringer Landeskirche, Dieter und Gerlinde Kunstmann und Alice Franke. Der Zuständigkeitsbereich des PHM Möller endete an dieser Tür und in dem Moment, als ich durch Frau Bauer des Kreiswehrersatzamtes Suhl in Empfang genommen wurde. Ich erläuterte Frau Bauer meine Rechtsauffassung und stellte fest, daß ich nachweislich juristisch nicht verpflichtet bin, das Kreiswehrersatzamt zu betreten, da ich mich bereits auf dem Gelände des Kreiswehrersatzamtes befand.
Ohne Vorankündigung und ohne Grund wurde darauf PHM Möller gegenüber meiner Person gewalttätig! Ich wurde zuerst an der Jacke gezerrt und danach wurde mein Arm herumgedreht. Ich habe mich friedlich, zu keiner Zeit provozierend, sondern besonnen und im Sinne der christlichen Nächstenliebe verhalten. Weiterhin brüllte mich PHM Möller an, Zitat: 'Ich bring Sie jetzt hier rein!` PHM Möller hat zu keiner Zeit angedroht, daß er derartige Zwangsmittel anwendet.
Im weiteren Verlauf des Geschehens führte mich PHM Möller unter Anwendung von Zwangsmitteln, wiederum unangekündigt, und unter meinem verbalen und sachlich korrekt vorgetragenen Protest durch den Haupteingang des Kreiswehrersatzamtes. Der Vorsitzende der Musterungskommission, Herr Fläschenträger, bestand darauf, daß ich in sein Zimmer komme. Bei der daraufhin erfolgten gewaltsamen Zuführung wurde ich im Flur des Kreiswehrersatzamtes durch brutales Eingreifen des PHM Möller in dem Bereich der Brustwirbelsäule verletzt. Dies geschah unter mehreren Zeugen. PHM Möller ließ nach einem lauten Schmerzensausruf von mir ab. Ich leide an einer akuten Skoliose und habe mich aufgrund des tätlichen Angriffes des PHM Möllers noch am Nachmittag ärztlich behandeln lassen.
[...] Danach wurde ich in Begleitung des Herrn Fläschenträger in ein anderes Zimmer geführt und mir wurden Fragen zu meiner Person gestellt, zu denen ich unter verbalem Protest keine Angaben machte. Im Folgenden verweigerte ich die ärztliche Untersuchung
[...] Der Arzt schrieb mich dann für einen "Wehrdienst voll tauglich und voll verwendungsfähig" und ich sollte ihm das unterschreiben, was ich nicht tat."
Angesichts der Tatsache, daß eine Musterungsverweigerung nach geltender Rechtslage eine Ordnungswidrigkeit darstellt, bleibt die Frage nach der Angemessenheit der Mittel. Gerade Pazifisten, die Gewalt ablehnen und Gewaltfreiheit praktizieren, die in Verantwortung vor ihrem Gewissen leben, denen begegnet staatlich sanktionierte Gewalt. Es kann einen mit Sorge erfüllen, daß in diesem Land die Exekution des Wehrpflichtgesetzes höher bewertet wird, als die Einhaltung und Wahrung elementarer Grundrechte.

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