Umweltrecht und Deregulierungsgesetze: beabsichtigter Verfassungsbruch

von Anna Masuch
Hintergrund
Hintergrund

Die Bundesregierung hat im Januar 1996 mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg der Gesetzgebung gebracht, mit denen wichtige Regelungen im Umweltrecht verändert werden sollen. Es geht um das Bundes-Im­missionsschutzgesetz, das Verwaltungsverfahrensgesetz, die Verwal­tungsgerichtsordnung und weitere ergänzende Bestimmungen, die nicht nur Genehmigungen zum Bau, zum Betrieb und zur Veränderung von gefährdenden Industrieanlagen regeln, sondern auch die Rechts­schutzmöglichkeiten von Betroffenen durch die Verfahrensbeteiligung in Genehmigungsverfahren und die Klageführung vor den Gerichten. Die Bundesregierung begründet diese Gesetzesänderungen damit, sie dienten der "Sicherung des Standortes Bundesrepublik Deutschland" im "internationalen Wettbewerb um Investitionen". Über Beschleuni­gung von Genehmigungsverfahren hinaus müsse die jahrelange Verzö­gerung von Genehmigungen durch lange dauernde Rechtsschutzver­fahren verhindert werden.

Aus den beabsichtigten Änderungen er­geben sich jedoch Einschnitte in die von der Verfassung garantierten Schutz­rechte von Betroffenen, deren Tiefe man am Maßstab der heutigen Grundrechts­auffassungen zu messen hat. Unsere Verfassung garantiert die Grundrechte der Bürger als Schutzrechte zur Siche­rung ihrer Lebensumstände. Achtung und Schutz dieser Freiheitsrechte för­dern Frieden und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat Vor­rang vor der Nutzung des Eigentums zum Zweck der Kapitalverwertung durch Industrieunternehmen. In den letzten Jahrzehnten haben die Erkennt­nisse über Gefährdungen im Umweltbe­reich ständig zugenommen. In einem Industrieland wie der Bundesrepublik wohnen überall Menschen in der Nachbar­schaft von gefährdenden Anlagen. Um sich vor Beeinträchtigung und Gefähr­dungen von Leben und Gesundheit zu schützen, müssen Betroffene selbst wirksam Rechtsschutz einfordern kön­nen. Die dafür zur Verfügung stehenden Rechtsmittel Verfahrensbeteiligung und Klagerecht haben Verfassungsrang. Schließlich ist seit dem 27.10.94 als Staatsziel der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ins Grundgesetz auf­genommen worden. An diese Auffas­sungen sind Gesetzgeber, Verwaltungen und Gerichte, und mit ihnen selbstver­ständlich auch die Bundesregierung, ge­bunden. Trotzdem sind in den letzten Jahren im Umweltrecht schon vielfach die Rechtspositionen der Betroffenen tiefgreifend beschnitten worden, z.B. im Verkehrswegeplanungsrecht und im Atomrecht. Aus den jetzt beabsichtigen Gesetzesänderungen ergeben sich wei­tere Rechtsprobleme, von denen hier nur wenige herausgehoben werden können: Den Genehmigungsbehörden werden besondere Beratungs- und Auskunfts­pflichten gegenüber Industrieunterneh­men bereits vor der Antragstellung auf­erlegt, um dem Antragsteller genauere Zeitplanung für seinen Kapitaleinsatz zu ermöglichen. Bis jetzt kann bei Ände­rung einer Anlage der Baubeginn vor Erteilung der Genehmigung zugelassen werden, wenn damit eine Verbesserung des Umweltschutzes erreicht wird. Durch Streichung des entsprechenden Paragraphen fällt diese Schutzbedin­gung vollständig weg. Stattdessen soll der vorzeitige Beginn der Errichtung von neuen Anlagen zugelassen werden, wenn der Investor ein Interesse daran hat.

Aus zahlreichen Genehmigungsverfah­ren wird die Verfahrensbeteiligung der Öffentlichkeit ausgeschlossen; damit wird Anwohnern und Nachbarn die Möglichkeit genommen, frühzeitig In­formationen über Gefährdungen zu er­langen, gegen die sie sich auf dem Kla­geweg schützen wollen.

In vielen Planungsverfahren sollen Wi­derspruch und Anfechtungsklage gegen eine Genehmigung ihre aufschiebende Wirkung verlieren. Ein klagender Bür­ger kann dann vor der Tatsache stehen, daß die Anlage lange vor dem endgülti­gen Urteil in Betrieb gegangen ist.

Sollte dennoch durch Klage in erster In­stanz eine Aufschiebung erreicht wor­den sein, soll bei Klageabweisung die aufschiebende Wirkung nur bis zur Beendigung des ersten Verfahrens gel­ten. Hier ist die Begründung aufschlussreich: Bewusst wird "die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen Dritter gegen Verwaltungsakte, die der Schaf­fung von Arbeitsplätzen oder der Förde­rung von Investitionen dienen, ausge­schlossen". Dem klagenden Bürger "soll ein Anreiz genommen werden, Rechts­mittel allein deswegen einzulegen, um den Eintritt der Unanfechtbarkeit" einer Genehmigung "zu verzögern".

Das Verwaltungsgericht soll der be­klagten Verwaltungsbehörde noch im gerichtlichen Verfahren ermöglichen, Verfahrens- oder Formfehler zu behe­ben. Zwecks beschleunigter Bereini­gung eines Rechtsstreits soll also direkt verhindert werden, daß sich ein Betrof­fener in seinem Bemühen um Rechts­schutz an eine weitere Gerichtsinstanz wenden kann.

Die Berufung soll nur noch in der kur­zen Frist eines Monats nach Zustellung des Urteils zugelassen werden. Sie soll unzulässig sein, wenn die Begründung des Antrags den formalen Anforderun­gen nicht genügt. Bei Ablehnung der Berufung erfährt der Kläger unter Um­ständen nicht einmal, aus welchen Gründen ihm Rechtschutz nicht gewährt wurde. Diese und andere Änderungen an Regelungen des Asylvedrfahrensgesetz aufgenommen, die sich angeblich " in der Praxis bewährt" haben, Die Schutz­interessen von Menschen, die durch den Betrieb von Industrieanlagen gefährdet werden können, werden damit auf die­selbe Stufe gestellt und genauso missachtet wie die von Asylsuchenden. Durch die beabsichtigten Gesetzesände­rungen werden die Beteiligungsrechte von Betroffenen in Genehmigungsver­fahren weitgehend ihrer Wirksamkeit beraubt. Die Einschränkungen in allen juristischen Verfahrensschritten sollen BürgerInnen, die gegen Gefährdungen und Beeinträchtigungen rechtlichen Schutz beanspruchen, abschrecken und entmutigen. Der Rechtsweg wird als Schutzmittel untauglich. Das ist verfas­sungswidrig.

Darüber hinaus verlieren Verwaltungs­behörden weitgehend ihre Funktion als Aufsichts- und Kontrollorgane; sie wer­den zu Unterstützern der Investoren. Auch die Gerichte werden nicht mehr unabhängig können zwischen den Ka­pitalverwertungsinteressen von Unter­nehmern, die sie begünstigen müssen, und den Schutzinteressen der Bürger.

Damit wird eine Gewichtsverschiebung im gesellschaftlichen und staatlichen Gefüge bewirkt, mit der Frieden und Gerechtigkeit in der Gesellschaft nicht gefördert werden können. Das ist mit unserer Verfassung nicht vereinbar. Das heißt: Mit den geplanten Gesetzesände­rungen bereitet die Bundesregierung Verfassungsbruch vor.

Die politische interessierte Öffentlich­keit ist aufgerufen, das zu verhindern.

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