Einige grundsätzliche Überlegungen zu Legitimität und Sinn

UN-mandatierte Militäreinsätze

von Christoph Krämer
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Zu ihrer Jahres-Mitgliederversammlung im April 1998 hatte die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) Prof. Andreas Buro zu einem Impulsreferat eingeladen. Buro unterschied dort zwischen "Bellizisten" und "Pazifisten" in der Friedensbewegung. Er reflektiere damit nur die bestehende Situation, konterte er den Einwand, dass Bellizisten in der Friedensbewegung ein Widerspruch in sich seien.

Das war weniger als 1 Jahr vor Beginn der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO - die ausdrücklich nicht-militärische Ziele wie Brücken und Fabriken einschloss, und "versehentlich" Ziele wie die chinesische Botschaft, Dörfer, Wohngebiete, Flüchtlingstrecks und Krankenhäuser. Die verursachten unmittelbaren Schäden betragen nach westlichen Schätzungen (Bundeswehr, EU, Weltbank) etwa 36-90 Milliarden DM - und damit ein Vielfaches des Jahres-Bruttosozialprodukts des Landes: Schon vorher war es unter als 20 Mrd. DM gelegen und dürfte seither noch erheblich gefallen sein (offizielle Zahlen fehlen). Darin eingerechnet sind noch nicht die Folgeschäden der gezielten Infrastruktur-Zerstörung. Sie lassen sich nur erahnen: Bspw. ist die Arbeitslosigkeit, die bereits Mitte der 90er-Jahre durch die vom IWF erzwungenen "Strukturanpassungsprogramme" erhebliche Ausmaße erreicht hatte, seither auf etwa 50%(!) gestiegen. Man/frau braucht keinE WissenschaftlerIn zu sein, um zu prognostizieren, dass in ein solches Land kein nachhaltiger Frieden einkehren kann, und dass die Gesundheitssituation v.a. von Kindern und Alten eine dramatische Entwicklung nehmen wird.

Nun war aber doch gerade dieser Krieg gar nicht UN-mandatiert. Und warum das Buro-Zitat, wo es doch damals um die Friedensbewegung ging und nicht um die UNO?

Beispiel für einen UN-legitimierten Krieg ist der Krieg gegen den Irak von 1991. Seine ausdrückliche MANDATIERUNG durch die UN-Resolution 678 ist zwar bis heute umstritten (1) - was faktisch aber kaum Bedeutung hatte, und hat. Das Beispiel des Irak lässt ahnen, welche Tragödie Jugoslawien noch bevorsteht: Im Irak hat die kriegsbedingte Infrastrukturzerstörung (2) bis heute über 1 Million Menschen das Leben gekostet, und einer noch weit größeren Zahl, vor allem Kindern, Gesundheit und Lebensperspektive. Zu schweigen von den psychologischen Auswirkungen bei zahllosen Menschen in den Nachbarländern, die einen Zusammenhang mit dem Krieg in Palästina/Israel ziehen: Das jahrelange Mit-Ansehen-Müssen von Demütigung, Leiden und Sterben beider Völker und die Ohnmacht gegenüber den westlichen Akteuren sind Nährboden für Enttäuschung, Wut, Hass, Fundamentalismus, Irrationalismus. Und wenn dann zudem der Eindruck entsteht, dass die UN kein gleichberechtigter Bund aller Völker sind, sondern der verlängerte Arm der Großmächte und Wirtschaftsriesen - also der selben Akteure -, übertragen sich diese Emotionen auch auf die UNO. Es gilt hier, gut zu unterscheiden zwischen der Haltung der arabischen Regierungen und dem Empfinden der von ihnen regierten Menschen: Erstere interessieren sich vor allem für westliches Geld und Waffen gegen Öl. Letzere sehen, dass die UNO gut ist, um Krieg und mörderisches Embargo über mehr als zehn Jahre zu rechtfertigen, seit Jahrzehnten Resolutionen gegen die zionistische Gewalt aber ausnahmslos abschmettern lässt. Oft nur mit einer einzigen Stimme: der der USA.

Dabei: Welche Alternative zur UNO gibt es - im Zeitalter der Globalisierung, des immer engeren Zusammenrückens der Völker, der Abnahme der Autonomie Einzelner und ganzer Staaten, größerwerdender Interessenbündnisse (EU, NATO...) und wachsender Macht der dahinter stehenden ökonomischen Akteure, der sich nationalen Gesetzen entziehenden Multis?

Erinnern wir uns:
Gegründet worden war die UNO 1945 aus der verheerenden Erfahrung zweier Weltkriege. In ihrer Charta steht deshalb das Friedensanliegen an erster Stelle, beginnend mit der Präambel. Die UNO und ihre Charta sind gleichzeitig höchste Instanz und Maßstab des Völkerrechts - nicht austauschbarer Grundpfeiler und moralische Bezugsgröße von hoher Beständigkeit und Unabhängigkeit. Anders als eine Vielzahl internationaler Verträge und Vereinbarungen, die zwar im weiteren Sinn ebenfalls zum "International Law" gezählt werden. Die aber weit stärker den Schwankungen von politischer Konjunktur und Zeitgeist unterliegen, weit willkürlicher sind und nicht annähernd den normativen Charakter haben, der zumindest im innerstaatlichen Bereich das Recht von x-beliebigen Verträgen unterscheidet und letztere dem Recht ausdrücklich unterstellt (ein rechtswidriger Vertrag ist unwirksam).

Diese Stärke des Völkerrechts impliziert zugleich eine Schwäche: nämlich immer nur kleinster gemeinsamer Nenner zu sein. Das wird ihm häufig vorgeworfen: durch Festhalten am Prinzip der nationalen Souveränität Interventionen von außen gegen Menschenrechtsverletzungen zu blockieren. Dies übersieht aber zweierlei:
Zum einen ist der behauptete Gegensatz zwischen Menschen- und Völkerrecht konstruiert. Abgesehen davon, dass die UNO-Charta hier keinen Widerspruch sieht - und die Menschenrechte auch keineswegs ignoriert, im Gegenteil. Tatsächlich ein Widerspruch ist es jedoch, die Menschenrechte im Munde zu führen und gleichzeitig Krieg zu beginnen. Dies mag nicht verstehen, wer selbst nie Krieg am eigenen Leib erfahren hat. Dieser schöne Satz: "Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst"... Voraussetzung für Krieg ist meist, dass die Wahrheit längst tot ist. Aber: Im Krieg sterben die Menschenrechte zuerst! Nicht nur an "Kollateralschäden", auch an der Logik der Gewalt. Und: Spätestens seit dem 19. Jahrhundert hat sich jeder neue Krieg - und seine Folgen - in immer höherem Maß gegen die Zivilbevölkerung gerichtet. Dies gilt für den Irak (das Embargo ist hinzuzurechnen!), und ebenso für Jugoslawien.

In Jugoslawien war nur anders, dass sich die UNO gegen die NATO sperrte. Trotz ihrer Majorisierung durch diejenigen, die die Waffen und das Geld haben. Und die Konfrontation der NATO mit UNO und Völkerrecht war gewollt: zum 50-jährigen Jubiläum der NATO und der Verabschiedung ihrer neuen Doktrin - das tief in der Klemme befindliche Jugoslawien mit seiner vulnerablen multiethnischen Struktur und seiner überkommenen Ost-Orientierung kam da zur Schaffung eines Präzedenzfalles gerade recht. ... Der US-Militärwissenschaftler Michael T. Klare (3) hierzu im April 1999: "... Das Kosovo ist Opfer all dieser amerikanischen Anstrengungen, die unternommen wurden. Das heißt: Das Thema Kosovo kam in dem Moment auf die Tagesordnung, als Mister Clinton eine große Demonstration in Sachen neuer NATO-Strategie suchte. Das hätte sonstwo stattfinden können." Begonnen hatte die zugrundeliegende Debatte um die Ablösung des Völkerrechts durch die NATO-"Selbstmandatierung", also das "Recht" des Stärkeren, gleich nach dem Ende der Sowjetunion. Gegipfelt war sie bereits 1993 in einem geheimen US-Regierungsdokument mit dem Titel "With the United Nations whenever possible, without them when necessary?"...

Nach Palästina, Irak, Somalia und erneut Irak war es diesmal also nicht die UNO, die den Weg in den Krieg geebnet hatte. Wer war es dann? Neben den eigentlichen NATO-Akteuren (4) vor allem zwei Faktoren:
 

  •  das Dilemma der zunehmenden Verschlechterung der sozioökonomischen Lage Rest-Jugoslawiens bei gleichzeitiger Eskalation der Gewalt im Kosovo - beides nicht nur nicht gelindert, sondern verursacht und geschürt (s.u.) durch die selben, die nun als Biedermänner antraten, die Menschenrechte herbeizubomben;
     
  •  die eingangs erwähnten "Bellizisten in der Friedensbewegung". Oder wen sonst meint dieser Begriff, wenn nicht diejenigen aus SPD und "Ökopaxen" samt Umfeld, die diesen Krieg verhindert hätten, wenn er mit konservativer Rhetorik propagiert worden wäre?
     

Der 2. Faktor erscheint auf den ersten Blick spektakulärer. Zumindest zeigt er, dass es nicht nur die UNO ist, die zu Schlimmem missbraucht wird. Vor allem aber sollte er uns zu gründlichem Nachdenken bringen, weil es hier um eigene Einflussmöglichkeiten geht.

Der 1. Faktor ist aber nicht weniger wichtig, wenn auch aus wohlstands-gesättigtem Blickwinkel schwerer nachvollziehbar. Dafür hat er Bedeutung weit über Jugoslawien hinaus. Einmal dahingestellt, dass Fischers Ministerium die ethnische Verfolgung noch bis unmittelbar vor Bombardierungsbeginn amtlich verneinte, die es ab dann zu deren Rechtfertigung propagierte: Die Konfliktlage in Jugoslawien und besonders im Kosovo hatte sich schon seit Jahren immer weiter zugespitzt. Wie kam das?

Spätestens seit den 80-ern war das Land als Puffer zwischen den Blöcken wachsenden Begehrlichkeiten verschiedener westlicher Parteien ausgesetzt:
 

  •  Politisch ging es den USA v.a. um Globalstrategie. Ihre Geheimdirektiven NSDD 54 (1982) und 133 (1984) hatten zum Ziel, einen Brückenkopf für politische Umwälzung auf dem Balkan zu schaffen und ihn in den Weltmarkt zu re-integrieren. Heute unterhalten sie im Kosovo ihre größte Militärbasis in Südosteuropa. Während die BRD eher regionalstrategische Ziele und die D-Markisierung des Balkans verfolgte, damit an alte Weltkriegsziele anknüpfte und über Exilkroaten auch an Weltkriegs- bzw. Nazi-Verbündete (5).Betrieben wurde dies mit verschiedenen Mitteln: vorauseilender politischer Anerkennung entgegen allen Bedenken (6), direkter geheimdienstlicher Hilfe (7), internationaler Waffentransfers an die separatistischen Bewegungen in Milliarden-US$-Größenordnung - zu einem Großteil aus Deutschland und mit Hilfe von MAD und BND am UN-Embargo vorbei. (8)
  •  Wirtschaftlich dominierten übergreifende Ziele: Als Blockfreies Land benötigte Jugoslawien, um am Weltmarkt mit hochindustrialisierten Konkurrenten Schritt halten zu können, immer mehr ausländisches Kapital. Hierdurch geriet es wie zahlreiche andere Dritt-Welt-Länder in die mörderische Schuldenfalle von IWF und Weltbank. Deren "Strukturanpassungsprogramme" verfolgten de facto vor allem politische Ziele: Unterwerfung unter das Marktdogma und Erhalt wirtschaftlicher Abhängigkeit. Sicher nicht jedoch die propagierte wirtschaftliche Stabilisierung der verschuldeten Länder, im Gegenteil. Darüber hinaus durch Verarmung der Bevölkerung und verordneten Abbau der staatlichen Bildungssysteme eine tiefgreifende Zerstörung ihrer sozialen Infrastruktur - mit nachfolgender Eskalation latenter Konflikte.
     

Der Kanadier Michel Chossudovsky hat letzteren Zusammenhang in seiner soeben aktualisierten Untersuchung "The Globalization of Poverty" (9) dargestellt und an zahlreichen Beispielen wie Ruanda oder Somalia analysiert. Die Urfassung des Jugoslawien-Kapitels ("Dismantling Yugoslavia, Colonizing Bosnia") von 1995/96 wirkt heute wie eine Prophezeiung des Krieges von 1999. Oder was stellen wir uns vor, wenn wir zB. hören, dass "während der ersten neun Monate von 1990, im unmittelbaren Anschluss an die Installierung der IWF-Programme, ... 889 Firmen mit einer Gesamtbelegschaft von 525.000 Arbeitern in Konkurs [gingen und] die gesetzlichen Regelungen ... innerhalb zweier Jahre für über 600.000 Arbeiter zu Arbeitslosigkeit [führten], und das bei einer nur 2,7 Millionen starken industriellen Arbeiterschaft in ganz Jugoslawien. ..."?

Gespenstisch auch, dass von der so bewirkten Zerstörung nahezu niemand im deutschen Sprachraum Notiz genommen hat. Debattiert wurde lieber über militärische versus zivile Intervention - auch in der Friedensbewegung.

Dies gilt auch für das Ignorieren der o.g. riesigen Waffenexporte durch die Friedensbewegung. Dabei ist unschwer vorstellbar, welche Effekte ein Waffentransfer von 660 Mio.(!)US $ (10) an militante Nationalisten in einer so brisanten und vulnerablen Region haben muss. ...

Schlussfolgerungen:
Auch wenn es etliche Beispiele für Missbrauch der UNO für interessengeleitete Militärinterventionen durch Großmächte und Bündnisse gibt, die wachsenden UNO-Verdruss erklären und Misstrauen erforderlich machen:

Die Erschütterung von UNO und Völkerrecht ist von epochaler Bedeutung, 1999 wird deswegen noch als Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen.

Die nähere Betrachtung zeigt aber noch etwas anderes:

Die Hauptverantwortung für die Eskalation von immer mehr Konflikten in der heutigen Welt liegt nicht bei irgendwelchen Saddams, Ayatollahs und Milosevics - gleichgültig, wie böse sie auch sein mögen. Sondern der Balken sitzt im eigenen Auge. Und die eigenen Biedermännern tragen massiv dazu bei, dass ihre Kontrahenten immer hasserfüllter werden.

Diese Erkenntnis verweist auf den einzigen Ansatz zu wirklicher Entschärfung von Konflikten: die ehrliche Beschäftigung mit der eigenen Rolle - und resultierend ein Weniger an Einmischung, nicht ein mehr an Intervention. Die immer häufigeren "Sachzwänge" zu gewaltsamer Intervention müssen umgehend in ihren Ursachen untersucht und abgebaut werden. Das Beispiel Jugoslawien zeigt, wieviel Nachholbedarf hier besteht.

Und an die Freunde in den eigenen Reihen gerichtet, die "Bellizisten in der Friedensbewegung" (die es per definitionem gar nicht gibt): Aus der notwendigen Rückbesinnung auf Völkerrecht und UNO zu schließen, die Friedensbewegung müsse auch UN-mandatierten Militärinterventionen zustimmen (11), dieser Umkehrschluss geht fehl. Denn die Frage ist einfach falsch gestellt. Die Aufgabe der UNO ist der Abbau von Gewalt und ihren Ursachen - und die der Friedensbewegung ebenso!

Anmerkungen:
 

1s. Deiseroth D, 1991: "Krieg im Namen der Vereinten Nationen?"
 

2deren Reparatur im Irak durch das nachfolgende Embargo verhindert wurde - Jugoslawien hat dafür kaum eigene Ressourcen für einen Wiederaufbau
 

3Professor am Hampshire College, Massachusetts
 

4ungeachtet durchaus unterschiedlicher Interessen innerhalb der NATO
 

5Schmidt-Eenboom E, 1995: "Der Schattenkrieger"
 

6mit Genscher als DEM Mann, der so etwas durchsetzen konnte - vgl. Fischer + Beer jetzt ...
 

7Schmidt-Eenboom E, MONITOR, Hofbauer H 1999 ...
 

8Jane` Information Group, zit. n. Klein Th, Kampagne Aktuell 3-4/98 und am 05.04.99
 

9Common Courage Press (USA) 2001, ISBN 1567512003 - Chossudovsky ist Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Universität von Ottawa
 

10lt. Jane`s Information Group allein bis 1994 (s. Der Spiegel Nr. 32/94)
 

11wie vom PDS-Vorstand vergeblich von seiner Basis gefordert und von Prof. Massarrat, einem der ProtagonistInnen eines Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Krieg von 1999, in einem Artikel für das IPPNW-Forum nahegelegt
 

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