Seebrücke Heidelberg

Unmenschliche Realitäten und Militarisierung an den EU-Außengrenzen

von Lena Fehring
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Dieser Text gibt Auszüge aus dem Redebeitrag von Jana Fehring wieder, den sie auf dem Heidelberger Aktionstag der Seebrücke Ende Januar 2021 im Auftrag ihrer Schwester Lena Fehring gehalten hat. Lena Fehring hielt sich Anfang des Jahres im Norden Serbiens in der Nähe der ungarischen Grenze auf. Sie war dort für die Hilfsorganisation „Collective Aid“ aktiv, die Teil des „Border Violence Monitoring Network“ ist. Das Projekt von Collective Aid in Subotica lässt Menschen, die in der Sackgasse der Außengrenzen der Europäischen Union stranden, elementare Unterstützung zukommen.

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Aktivist*innen, liebe Brückenbauerinnen und Brückenbauer,
„People-on-the-move“ nennen es Game. Ein Spiel, bei dem die Europäische Union die Regeln macht. Die Regeln immer härter macht, die Grenzen aufrüstet, Gewalt ausübt und toleriert und die EU-Mitgliedsländer ohne Konsequenzen grausame Push-backs ausüben lässt. Diese Spielregeln verstoßen gegen geltendes Recht. Sie richten sich gegen die Menschenrechte und zwingen „People-on-the-move“ in prekäre Lebenslagen am Existenzminimum. Das durch die Menschenrechtskonventionen gesicherte Recht auf ein faires Asylverfahren wird den Menschen auf der Flucht aktiv verwehrt.

Die Balkan-Route
Früher verlief die Balkan-Route, kontrolliert von der EU, noch hauptsächlich über Serbien nach Ungarn und dann weiter in die westeuropäischen Länder. Mit dem EU-Türkei-Deal wurde sie im März 2016 offiziell geschlossen. Gleichzeitig haben europäische Länder mit Unterstützung der EU ihre Außengrenzen systematisch aufgerüstet, wie zum Beispiel Ungarn: Durch einen vier Meter hohen Zaun, Nachtsichtgeräten und Infrarotkameras wird Migration kriminalisiert und illegalisiert. 2017 wurde das Personal der Grenzkontrollen verdoppelt. Selbst wenn Menschen mit gebrochenen Füßen den Sprung vom ungarischen Grenzzaun in die EU schaffen, wird ihnen ihr zugesprochenes Recht auf einen Asylantrag verwehrt. Ungarn pushed seit 2017 jeden Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis "legal" zurück nach Serbien. Nach Berichten der ungarischen Polizei waren es im Dezember 2020 mehr als 4.900 Menschen. Und das, nachdem der Europäische Gerichtshof diese Praxis nochmal als illegal erklärt hat.

Bei einem Pushback erfahren die Menschen oft grobe Gewalt, Diebstahl und Erniedrigung. durch staatliche Behörden. Statt Unterstützung von vulnerablen Menschen in prekären Lebenslagen folgen unmenschliche Gewalt und Repressionen. Und all das an den Außengrenzen der EU, die den Friedensnobelpreis gewonnen hat. Aktuell soll es einen neuen Migrationspakt geben, der das Leid weiterhin an den Außengrenzen hält.

Grausame Behandlung und Militarisierung
In der Sackgasse im Norden Serbiens stoßen die Geflüchteten auf bittere Realitäten: Schlafen bei Minusgraden im Wald in selbstgebauten Zelten, in verlassenen Häusern und Zugwaggons. Sie haben keinen bis minimalen Zugang zu Elektrizität, fließendem Wasser, Hygieneprodukten und grundlegender medizinischer Versorgung. Flucht bedeutet hier gebrochene Knochen und Krätze. Es bedeutet Gewalt und Diebstahl durch staatliche Behörden. Unvorstellbare körperliche und seelische Belastungen. Diese unzumutbare Situation wird bewusst an den Außengrenzen der Festung Europas in Kauf genommen. Es gibt zu viele Berichte über die Gewalt, die die Menschen hier erfahren: Diese Vorfälle sind dokumentiert, sind strukturell und gewollt. Die EU weiß von brutalen Pushbacks und der inhumanen Lebenssituation an den Grenzen! Sie unterstützt die Grenzbehörden auch noch mit monitären und personellen Ressourcen.

Die Lage in den Camps
Bei regelmäßig stattfindenden Räumungen der provisorischen Lager werden die Menschen nachts von der Polizei überrascht und dann ohne ihre wenigen Besitztümer über Serbien verteilt, ihnen werden mentale und finanzielle Ressourcen genommen, sie werden retraumatisiert und ihre Anwesenheit kriminalisiert. Tausende Menschen versuchen dann über Bosnien nach Kroatien in die EU zu kommen und finden sich auch hier vor verschlossenen Toren wieder. Die staatlichen Camps sind überlastet und unterversorgt. Es bilden sich informelle und selbstorganisierte Camps entlang der kroatischen Grenze. Die EU weiß von diesen Elendslagern.

Kurz waren Bihac und das Camp Lipa in den Medien: Das abgebrannte Camp und die unmenschliche Versorgung vor Ort spiegeln die Situation entlang der gesamten Balkanroute. Es ist eine Schande, dass ein Camp abbrennen muss, Menschen dann bei minus 15 Grad in notdürftigen Zelten unterkommen und sich die Zivilgesellschaft kurz darüber aufregt. Dabei sind Gewalt an den Außengrenzen und die Lebensbedingungen hier nichts Neues. Sie sind strukturell, wiederkehrend und werden aktiv von der EU in Kauf genommen.

Unsere Politik stützt die Festung Europas
Wie kann es sein, dass wir – die privilegiert sind -  so kurz aufmerksam auf die unhaltbare Situation auf der Balkanroute werden? Statt einer nachhaltigen und menschenwürdigen Lösung wird europäische Verantwortung abgelehnt. Statt Sanktionen gegen EU-Mitgliedsländer, die geltendes Recht brechen, werden Gelder für die Militarisierung der Außengrenzen noch erhöht. Es werden Länder an der östlichen Grenze der EU in politischer Abhängigkeit gehalten und mit der Versorgung der Menschen vor Ort alleine gelassen. Die Politik des deutschen Staates ist genauso heuchlerisch und tritt Menschenrechte mit Füßen. Sie stützt die Festung Europas mit rechtspopulistischer Rhetorik, einem rassistischen Diskurs sowie mit Abschiebungen und Abschiebeknästen und durch monetäre und personelle Unterstützung von Frontex.

Dass Frontex Ende Januar von der ungarischen Grenze abgezogen wurde, ist keinesfalls ein Grund, sich auf die Schulter zu klopfen. Es bedeutet keine strukturelle Veränderung der Militarisierung der Festung Europas. Frontex übt grausame Gewalt und Push-Backs in Kroatien gegen „People-on-the-move“ aus und unterstützt die Grenzkontrollen z.B. zwischen Griechenland und Albanien. Mit dem Ziel, Migration zunehmend zu kontrollieren und zu verlangsamen, verstößt die EU gegen ihre angeblich so tollen Werte und Gesetze.

Diese ekelhafte Politik passiert in unserem Namen. In unserem Namen werden Menschen an den EU-Außengrenzen vor verschlossene Türen gesetzt, ihre Rechte mit Füßen getreten, körperliche Gewalt gegen sie ausgeübt und ihr Sterben in Kauf genommen. WARUM?

Ein Appell
Lasst uns diesen Status Quo nicht hinnehmen! Wir müssen uns organisieren und deutliche Zeichen gegen diese Politik setzen. Gegen den Rassismus der Festung Europas. Gegen die Militarisierung der Grenzen. Gegen eine neoliberale Kategorisierung von Menschen nach wirtschaftlicher Nutzbarkeit. Für sichere Fluchtwege und Bewegungsfreiheit, für alle Menschen, ungeachtet ihres Geburtsortes. Für die Abschaffung von Grenzen und Nationalstaaten. Für die Abschaffung jeglicher Unterdrückungsmechanismen. Für eine menschliche und solidarische Gesellschaft. Für das Gute Leben für alle.

Wir kämpfen gegen illegale Push-backs an den europäischen Grenzen! Gegen Unterstützung und Militarisierung! Für das Schließen aller Camps und eine Aufnahme von Menschen aus Bosnien und Serbien! Für sichere Fluchtwege!

Das Team von „Collective Aid“ in Subotica unterstützt Menschen in Nordserbien, die entlang der ungarischen, kroatischen und rumänischen Grenze auf der Flucht sind. Mehr Informationen über Collective Aid und Spendenmöglichkeiten gibt es hier: https://www.collectiveaidngo.org/ und https://betterplace.me/hilfe-nordserbien .  
Lena Fehring ist seit Jahren ehrenamtlich zu den Themen Flucht und erzwungene Migration, z.B. bei der Seebrücke, aktiv. Die letzten zwei Monate hat sie an der serbisch-ungarischen Grenze verbracht und dort die humanitäre Organisation „Collective-Aid“ unterstützt. Diese stellen lebenswichtige Hilfsgüter und Hygienemaßnahmen für Menschen auf der Flucht bereit und dokumentieren Gewalt und Menschenrechtsverletzungen für das „Border Violence Monitoring Network“.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Lena Fehring ist seit Jahren ehrenamtlich zu den Themen Flucht und erzwungene Migration, z.B. bei der Seebrücke, aktiv. Die letzten zwei Monate hat sie an der serbisch-ungarischen Grenze verbracht und dort die humanitäre Organisation „Collective-Aid“ unterstützt. Diese stellen lebenswichtige Hilfsgüter und Hygienemaßnahmen für Menschen auf der Flucht bereit und dokumentieren Gewalt und Menschenrechtsverletzungen für das „Border Violence Monitoring Network“.