Hauptredebeitrag zum Aktionstag 9.11.91 auf dem Bonner Marktplatz:

Unser Gegner ist die gesamte politische Klasse des Landes

von Herbert Leuninger

Der heutige Tag ist in der Nachkriegs­geschichte Deutschlands von herausra­gender Bedeutung. Werden wir den Schatten unserer Geschichte annehmen, aus dem viele politische Kräfte seit Jah­ren herauszutreten versuchen? Werden wir ihn endlich annehmen und aus ihm die entscheidenden Lehren ziehen?

Die Reichspogromnacht ist nach 53 Jah­ren endgültig keine Geschichte mehr, sie ist für das vereinigte große Deutschland unmittelbare Gegenwart.

Bisherige Gedenkveranstaltungen ha­ben, so ernst und erschütternd sie waren, so wenig bewirkt, als hätte es sie alle nicht gegeben.

Lernen aus der Geschichte? Ganze Bi­bliotheken sind gefüllt mit Literatur und Analysen: Antisemitismus, Rassismus, Faschismus, Nationalismus, Fremden­feindlichkeit. Es ist alles gewußt, es hat nichts geholfen.

Apokalypse now! Die Reichspogrom­nacht heute:

-              jugendliche Schläger- und Terror-Kommandos

-              die zornigen jüdischen Menschen, die voller Angst Vergleiche ziehen

-              die internationalen Medien, die be­sorgt die neue Ausländerfeindlichkeit Deutschlands vermelden

Die Republik, das vereinigte große Deutschland, ist geschlossenen Auges in diese Pogromstimmung geraten und zeigt sich bisher außerstande, diese Her­ausforderung als demokratischer, der Humanität und der Menschenwürde verpflichteter Rechtsstaat zu bestehen.

Unsere politischen Gegner sind nicht die jungen Menschen, die aus tiefem Selbsthaß heraus zu hunderten, zu tau­senden, Asylbewerber, Aussiedler und Menschen verschiedener nationaler Herkunft angreifen, entehren, in Angst und Schrecken versetzen, körperlich verletzen.

Ich bin erstaunt über die Unsicherheit der Analysen. Was für eine Zukunft hat denn diese Jugend? In Ost und in West: Die Analysen sind vorhanden!

Unser Gegner ist die gesamte politische Klasse, die demokratischen Parteien in­klusive SPD und FDP. Nehmen wir auch noch die vielen der Grünen hinzu, die ins Rotieren geratenen sind.

Es genügte ein durchschnittliches Poli­tik- und Geschichtsverständnis, um zu durchschauen, was sich in Deutschland abspielt:

-              soziale Krisenstimmung und galop­pierende Entwicklung der Zweidrit­telgesellschaft

-              Gefährdung der politischen Macht­verhältnisse durch Rechtsruck in der Bevölkerung

-              Kontinuierliches Wahlkampfführen: Rheinland-Pfalz, Bremen, Nieder­sachsen, Baden-Württemberg, dem­nächst wieder Bundestag

-              diffuser Bedarf nach einem Sünden­bock, der von der Machtelite definiert wird

-              eine Minderheit, die sich nicht einmal durch Wahlen wehren kann und in ih­rer Mehrheit anders pigmentiert ist als die weißen Bleichgesichter, die keine Bräunungsstudios aufsuchen. Also Menschen, die den Judenstern auf ihrer Stirn tragen und niemals ablegen, abtrennen oder abwaschen können. Die Asylbewerber und alle, die so aussehen, als seien sie solche.

Monatelang, ja mittlerweile jahrelang wird die Asyldebatte geführt. Nur Ab­wehr, Abschreckung, Abschottung, In­ternierung, Schnellverfahren, Deporta­tion: geschichtsvergessen, verfassungsvergessen, wählerversessen.

Welche Verblendung bei den verant­wortlichen Politikerinnen und Politikern der SPD, wenn sie durch das Land zie­hen und den Kohl-Kompromiß mit 6-Wochen-Verfahren, Sammellagern und beschleunigter Abschiebung als eine politische Leistung verkaufen. Schon einmal haben sie als Vorreiter zusam­men mit Honecker das "Berlin-Loch" gestopft, die Zufluchtsmöglichkeit für tausende Flüchtlinge.

Pogromstimmung: Schon vor einem Jahr schrieben 9 Oberstadtdirektoren in NRW an Rau: Bruder Johannes, der in­nere Friede ist in Gefahr, tu was gegen die Asylanten und Aussiedler. Es waren dies die Oberstadtdirektoren von Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Duis­burg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Köln und Wuppertal. Und Rau hat sich nicht lang bitten lassen.

Seit 4 Monaten protestieren die Roma vor dem Landtag in Düsseldorf gegen ihre drohende Abschiebung nach Jugo­slawien.

Pogromstimmung: Die Bild-Zeitung ti­telte am 17.9. in großen Lettern: "Asylanten im Ruhrgebiet, wer soll das bezahlen?" Kurze Zeit später: "Bonn - tu was! sonst ..."

Rühes Munitionskonzept für CDU-Mandatsträger in der Asyldebatte: ... aus dem Propagandaarsenal von Goebbels.

Wer nach Hoyerswerda die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt hat, wer nach Hoyerswerda, Saalouis und Hünxe die Abwehrdiskussion gegen Flücht­linge so weitergeführt hat wie bisher, wer sich auf Schnellverfahren und In­ternierungslager für Asylbewerber eini­gen konnte, ist mitschuldig an der Po­gromstimmung in Deutschland.

Unsere Parteien werden nur noch von Wahlterminen wirklich angetrieben. So sind sie unfähig, die neue Herausforde­rung des Rechtsextremismus anzuneh­men. Sie stoßen mit ihrer barbarischen Auseinandersetzung diese Republik immer tiefer in den Sumpf des Rassis­mus, lassen die Bundesrepublik und die Menschen nichtdeutscher Herkunft, eine stimmlose Minderheit, in höchste Ge­fahr geraten.

PRO ASYL stellt seit dem Schock über die pogromartigen Ausschreitungen ge­gen Flüchtlingswohnheime eine wach­sende Solidarisierung mit Flüchtlingen fest. Das geschieht vornehmlich in drei Formen:

1.            durch Wachen vor Wohnheimen zum unmittelbaren Schutz und zur recht­zeitigen Alarmierung der Polizei

2.            durch öffentliche Demonstrationen vor allem in den Städten

3.            durch vielseitige Sympathiebekun­dung zu Einzelnen und Gruppen.

Allerdings hat es erst des Schocks durch Hoyerswerda, Saarlouis, Hünxe, Greifswald und anderer Angriffe be­durft.

Die neue Bürgerrechtsbewegung ist deswegen erforderlich, weil Parteien und Regierung, dabei vor allem auch die Staatsmacht, in einer Form versagen, die nach 1945 als einmalig zu betrachten ist.

Die taktische Verstrickung aller Parteien in eine ausschließlich auf Abwehr ein­gestellte Asyldebatte hat erhebliche Mitschuld an rechtsradikaler Enthem­mung. Nur daher ist es auch zu verste­hen, daß der Staat und seine Ordnungs- und Sicherheitskräfte nicht im erforder­lichen Umfang zum Schutz einer be­drohten Minderheit eingesetzt werden.

Daher bleibt es die Aufgabe der flücht­lingsfreundlichen Bürgerrechtsbewe­gung,

1.            den effektiven Schutz der Flüchtlinge durch Objektschutz der Wohnheime zu fordern

2.            die Parteien daran zu hindern, durch überwiegend wahltaktisches Verhal­ten die Republik noch weiter in den Sumpf des Rassismus zu stoßen

3.            die Bevölkerung auf die weiter und stark verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen aus den Krisengebieten der Welt vorzubereiten.

Kürzlich hat der Club of Rome seine neue Studie "Die globale Revolution" veröffentlicht. Darin kritisieren die 100 Wissenschaftler aus 53 Ländern die Parteien. Ihre Tätigkeit kreise so sehr um Wahltermine und Rivalitäten, daß sie die Demokratie, der sie dienen soll­ten, damit inzwischen eher schädigten.

Dabei rechnet der Club of Rome damit, daß Bevölkerungsdruck, fehlende Chan­cengleichheit sowie Tyrannei und Un­terdrückung Auswanderungswellen in Richtung Norden und Westen auslösen werden, die sich nicht mehr eindämmen ließen.

Er befürchtet eine deutliche Verschär­fung des defensiven Rassismus in den Zielländern. Bei all­gemeinen Wahlen könnte dieser rechts­gerichteten Diktato­ren zur Macht verhel­fen. Sein Rezept: mehr Entwicklungs­hilfe und ehrliche In­formation der Bevöl­kerung in den rei­chen Länder hierüber.

Ich halte angesichts des Versagens der Parteien nur den für eine Bürgerin und einen Bürger dieser Stadt und dieses Lan­des, der bereit ist, Flüchtlinge und Men­schen verschiedener nationaler Herkunft zu schützen und da­mit diese Republik vor ihrem Niedergang zu be­wahren. Erfor­derlich wäre eine Art Rütli-Schwur, alles Menschenmögliche zu tun gegen ein 4. Reich und für eine erneuerte Republik!

Pfarrer Herbert Leuninger ist Bundes­sprecher von PRO ASYL. Die Tran­skription des Textes erfolgte anhand des handschriftlichen Stichwort-Manu­skriptes und kann daher in Details von der wörtlichen Rede abweichen.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Herbert Leuninger ist Mitbegründer von PRO ASYL.