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Zivile Konfliktaustragung durchsetzen:
Verantwortung der Friedensbewegung angesichts des Kriegs in Europa
vonEnde August 1995 bombardiert die NATO bosnisch-serbische Gefechtsstellungen um die bosnische Hauptstadt Sarajevo, nachdem - vermutlich von dort aus - durch Granatangriffe ins Stadtzentrum 37 Menschen getötet und über 90 verletzt wurden. Kriegslogische Folge: Artilleriebe-schuß auf Sarajevo. NATO und USA lassen äußern, die Bombardierungen aus Flugzeugen seien als Abschreckung gegen Angriffe auf weitere UN-Schutzzonen gemeint. Ob die (bosnisch-)serbische Seite dies versteht? Ob sie nach den Krajina-Rückeroberungen durch die Kroaten und der Fluchtbewegungen serbischer ZivilistInnen von dort trotzdem auf Verhandlungen eingeht? Werden die bosnisch-serbischen Militärs, die seit Jahren auf das Kriegsziel eines "ethnisch reinen" Serbien eingeschworen und deren viele zu Kriegsverbrechern wurden, etwas anderes zulassen als entweder erbarmungslosen Kampf oder den Sturz der bosnisch-serbischen Führung? Der zurzeit wahrscheinlichste "Friedensplan", der genau dieses Kriegsziel und damit die Vertreibung von Menschen, die anderen Volksgruppen angehören, festschreibt, kann kaum dauerhaften Frieden in der Region schaffen. Er könnte bedeuten, daß die NATO-Luftangriffe die Kapitulation der internationalen Gemeinschaft vor der Skrupellosigkeit rechts-nationaler Kriegstreiber geradezu herbeigebombt und deren Helfershelfer in - auch westlichen! - anderen Staaten und deren Wirtschaftskreisen nur bestätigt hätten.
Viel schlimmer jedoch: Die Hoffnung, daß durch die Luftangriffe weniger zivilen Opfer zu beklagen sein werden oder daß dadurch weitere Folterungen, Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen verhindert und nicht neue, etwa im Zuge von Rache-Akten, verursacht würden, scheint vage.
In vielen Erklärungen ist von Personen und Gruppen aus dem pazifistischen Umfeld in den letzten Wochen militärische Einmischung gefordert worden. Einige begründen dies mit der "Eroberung" von Srebrenica und Zepa. Sie sagen, wie z.B. der geschäftsführende Vorstand von Pax Christi, "militärisches Eingreifen" sei in diesem Fall gerechtfertigt, weil "Menschen in unerträglichem Maße schutzlos der Gewalt von Aggressoren ausgesetzt sind". Hätte es nicht seit Jahren Grund zu dieser Schlussfolgerung gegeben? Wissen wir nicht seit Jahren um Morde an ZivilistInnen, Vertreibungen, Vergewaltigungen von Kindern, Frauen, Männern, um grauenvolle Folterungen aller Art und skrupellose Zerstörungen? Daß die - nicht aufgrund der Undurchführbarkeit ihrer zivilen Mandate, sondern wegen der Halbherzigkeit ihrer Aufträge und der Profilierungssucht der jeweils beteiligten nationalen Regierungen und Militärführungen - der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, war ebenfalls keineswegs neu.
Warum also sahen sich Friedensbewegte hierzulande genötigt, ausgerechnet jetzt, da deutsche Soldaten mit Zustimmung des Parlaments Übungsflüge im Kriegsgebiet machten, Militäreinsätze zur Rettung der seit Jahren geschundenen Menschen dort zu fordern? Fielen sie damit nicht auf Meinungsmache seitens derjenigen herein, die nun eine Chance wittern, militärischen Mitteln wieder die Oberhand in der Außenpolitik, speziell der deutschen, zu verschaffen? Geht dies nicht gerade auf Kosten derjenigen in Europa, die in den vergangenen Jahren am grausamsten zu Opfern der Akzeptanz militärischer Politik mit Grenzverschiebungen und völkischen Vertreibungen - freilich unter nationalistischen-faschistischen Vorzeichen - geworden sind? Heißt dies nicht auch, - unwillentlich - die Sache der Geschäftemacher mit guten Kontakten zu Regierungskreisen und der ihnen geneigten Presse betreiben, die seit Jahren am Krieg im ehemaligen Jugoslawien verdienen? Sind Forderungen nach militärischer Intervention seitens demokratischer und friedensbewegter Gruppen nicht auch Wasser auf die Mühlen der AußenpolitikerInnen und Militärs, die sich zur Maßregelung diktatorischer Regimes und Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen partout nichts anderes vorstellen wollen? Spielen sie nicht Staatsmännern in die Hände, die sich durch die "zahnlose", weil aufgrund der Nachkriegs-Ordnung von militärischen Interventionen bisher weitestgehend absehende, Außenpolitik auf den Aschehaufen der Geschichte und sich selbst den Marschallstab in den Tornister wünschen?
Diese Fragen muten zynisch an angesichts des Leidens der Menschen im ehemaligen Jugoslawien und der Notwendigkeit aktuellen Handelns zur Rettung von Menschenleben. Bloß:
1. fürchte ich, daß sie uns nach dem militärischen Eingreifen der NATO jetzt sehr schnell wieder einholen werden;
2. bezweifle ich die Erfolgsgarantie des militärischen Eingreifens selbst für die Rettung dieser Menschen;
3. bin ich alles andere als überzeugt, daß dieses Vorgehen einer politischen Lösung zuträglich ist.
Zustimmung zur Militärintervention erscheint mir wie eine Bestätigung für die Politik derjenigen, die sich all die Jahre einen feuchten Kehricht darum geschert haben, wie viele und welche Möglichkeiten zivilen Eingreifens es gegeben hätte. Die Nonchalance, mit der NATO- und US-Kreise dies übergehen, wird dazu führen, daß in künftigen Konflikten viel schneller und selbstverständlicher als bisher Soldaten zur "Wahrung des Friedens" durch Kampfaufträge entsandt werden. Sie werden Aufträge erhalten, der den jeweils nationalen Interessen weltweit gefälligst zu entsprechen haben, ganz egal unter welcher Kopfbedeckung sie Dienst tun. In der BRD ist der neue Auftrag der Bundeswehr mit Blick auf Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes ja in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" seit mehr als einem Jahr klar definiert. Und die nationalen Regierungen zeigen bisher wenig Bereitschaft, Geld und Kontingente von Militärs und ZivilistInnen in allein der UN unterstehende Einheiten zu entsenden - das bringt für das Image nichts und ist innenpolitisch schwer zu verkaufen. Geschweige denn tragen sie zur Stabilisierung ziviler Konfliktaustragungsmechanismen auf europäischer (OSZE-Konflikt"verhütungs"zentrum) oder internationaler (UN-Maßnahmen für Frühaufklärung und Preventive Diplomacy) Ebene bei.
Das Bedürfnis, endlich etwas anderes zu tun als die "Reklamation politisch richtiger Schritte und Ziele" (Pax Christi) teile ich absolut, nicht erst jetzt. Und ich weiß, daß ich Mitschuld für den Tod und die körperliche und seelische Verstümmelung von Menschen trage, weil ich keine Rettung für sie weiß. Aber: Wenn wir militärisches Eingreifen fordern oder richtig heißen - ist dies nicht auch bloß ein Schritt - mit militärischen Mitteln-, den wir lediglich reklamieren? Ist dies nicht ein Vorgehen, für dessen Durchführung und Folgen w i r keine Verantwortung übernehmen können (vielleicht auch nicht wollen)? Ich kann und will diesen Schritt nicht mitgehen, denn:
1. habe ich keinerlei Mitgestaltungsmöglichkeiten bei seiner Durchführung und bezweifle, daß diejenigen, die ihn verwirklichen, im Zweifelsfall den Bedürfnissen der zu schützenden und leidenden Menschen den Vorrang vor politischen Eigeninteressen geben;
2. fürchte ich, daß ich, indem ich mich hinter die Luftangriffe stelle, einer weiteren Eskalation (horizontal und vertikal) Vorschub leiste; die Leidtragenden sind wieder die Menschen in Bosnien, Kroatien, Serbien, dem Kosovo, Mazedonien u.s.w.
3. frage ich mich: werden wir nicht durch eine Befürwortung der Luftangriffe gegen die bosnisch-serbischen Militärs heute unglaubwürdig für eine vermittelnde Rolle für die späteren Phase des Wiederaufbaus, wenn es darum geht, zu einer Nachbearbeitung und der Verhinderung erneuten Ausbrechens der Konflikte beizutragen? Wie können wir dann noch bei der Entwicklung neuer Zivilgesellschaften und deren Wieder-Annäherung aneinander oder gar Versöhnung helfen? Werden bspw. Angehörige der bosnisch-serbischen Bevölkerungsgruppe bereit sein, sich auf einen Prozess der Zusammenarbeit einzulassen, und werden wir dann noch die Möglichkeit haben, Angehörige der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammenzubringen? Hier geht es auch um unsere künftigen Interventions-Möglichkeiten in einen Nachkriegs- und Versöhnungsprozess und (zum Teil in Fortsetzung der Arbeit, die viele Gruppen jetzt schon tun) um die Verhinderung neuer Eskalationen. Spätestens dann gilt es, selbst helfend tätig zu werden (nicht mehr nur zu reklamieren!) beim Heilen der körperlichen und seelischen Verletzungen, beim Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und der Konversion der Kriegswirtschaft - übrigens in allen Ländern Osteuropas - in eine lebensfähige friedliche. In dieser Zeit wird es, ganz gleich, wie die (staats-)politische Wirklichkeit im ehemaligen Jugoslawien nach Beendigung der Kriege aussehen wird, Bedarf für tätige Mitverantwortung und langfristig wirkungsvolle Mitarbeit durch Nicht-Regierungs-Organisationen geben: Beim Überwinden von Hass und Verzweiflung, beim Anbahnen von Gesprächen zwischen Angehörigen bisher verfeindeter Volksgruppen, beim Schutz für ethnische und politische Minderheiten, bei der Mithilfe im Wiederaufbau der Städte und Dörfer, bei Rücksiedlungs-Programmen auf freiwilliger Basis usw.
Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, Instrumentarien der Konflikt-Frühwarnung nicht nur von den Regierenden zu reklamieren, sondern selbst an ihrer Einrichtung mitzuarbeiten, Mechanismen ziviler Konfliktbearbeitung (innen- wie außenpolitisch) politisch durchzusetzen und an ihrem Funktionieren mitzuwirken und weiter gewaltfreie Handlungsmöglichkeiten für Situationen zu entwickeln, in denen Konflikte bereits in Gewalt eskaliert sind. Dies bedarf der Beteiligung aller politischen Ebenen, von der kleinsten NGO bis zu Regierungen und der UN-Struktur. Eine solche Kooperation könnte die Einwirkung nationaler oder wirtschaftlicher Eigeninteressen frühzeitig entschärfen, die bisher auf so verheerende Weise in die Entscheidungen über den Umgang mit einem Konflikt hineingewirkt haben. Der Aufbau ziviler europäischer oder internationaler Eingreifgruppen, etwa im Zuge der Einrichtung eines Zivilen Friedensdienstes, ist nur einer unter vielen Schritten, die schleunigst eingeleitet werden müssen, damit wir in Situationen von Eskalation und Menschenrechtsverletzungen früh und angemessen reagieren können und in scheinbar auswegloser Lage wie jetzt im ehemaligen Jugoslawien nicht immer wieder hilflos der Gewalt zusehen.
Ich fordere, daß all die Mit-EuropäerInnen, PolitikerInnen, JournalistInnen, Wirtschaftsgrößen und mehr oder minder Friedensbewegten, die entweder durch Gleichgültigkeit oder weil sie nationalen und wirtschaftlichen Eigeninteressen Vorrang gaben, die Eskalation zugelassen, mitgetragen oder gar noch gefördert haben, ihre Mit-Verantwortung ebenso wahrnehmen. Ob dies geschieht, wird für die Entwicklung Europas, die sich in den nächsten 10 Jahren am Verhältnis zwischen dem reichen Westen und dem armen und konfliktgeschüttelten Osten festmachen wird, von größter Bedeutung sein.