Verfassungsgericht stoppt Flugzeugabschüsse durch die Bundeswehr

von Martin Singe

Das Bundesverfassungsgericht hat am 15.2.2006 über den zentralen Punkt des nach dem 11.9. konstruierten Luftsicherheitsgesetzes, den - als letztes Mittel - erlaubten Abschuss eines Flugzeuges, das von Entführern als Waffe missbraucht werden soll, entschieden (1 BvR 357/05).
Die Abschussermächtigung wird als verfassungswidrig gekennzeichnet.

Gemäß Grundgesetz darf die Bundeswehr nur zur Verteidigung eingesetzt werden. Maßnahmen des Einsatzes im Inneren haben sich als Unterstützung von Polizeimaßnahmen auch am Polizeirecht zu orientieren, was bedeute, das spezifisch militärische Waffen nicht eingesetzt werden dürften. Zudem verstoße die Abschussregelung gegen die grundgesetzlich verankerte Menschenwürde und das Freiheitsrecht der betroffenen Flugzeug-Besatzung und der Passagiere, die zum bloßen Objekt staatlichen Handelns erniedrigt würden. Eine Aufrechnung von (abzuschießendem) Leben gegen (zu rettendem) Leben sei grundrechtlich nicht möglich. Allerdings wird im Urteil der mögliche Abschuss eines nur mit Terroristen besetzten Flugzeuges zugelassen, da diese Personen als Täter sich die Zurechnung der Folgen ihres Handelns gefallen lassen müssten. Wie das dann praktisch gehen soll, wenn die Bundeswehr keine Bordkanonen als militärische Waffen im Inneren einsetzen darf, führt das Verfassungsgericht nicht aus.

Das Urteil ist insgesamt begrüßenswert, weil es den hohen Rang der Grundgesetzartikel 1 und 2 (Menschenwürde und Freiheitsrecht) betont und unmissverständlich klarstellt, dass die Bundeswehr laut Grundgesetz in ihrer Funktion als militärisches Instrument nicht im Inneren eingesetzt werden darf. Das ruft natürlich diejenigen auf den Plan, die schon lange vorhaben, das Grundgesetz in dieser Hinsicht zu verändern. Hier gilt es nun, wachsam zu sein und vorgeschlagenen Ausweitungen der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr entgegenzutreten.

Während die Union weiterhin Grundgesetzänderungen zum erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Inneren das Wort redet, ist die Haltung von Teilen der SPD zu dem Urteil im Grunde noch perverser. Wiefelspütz hat zum Ausdruck gebracht, dass man einen wie im Luftsicherheitsgesetz zugrunde gelegten Vorgang als Verteidigungsfall - also nach Kriegsrecht - zu behandeln hätte, die Bundeswehr demzufolge das Recht zum Abschuss hätte. Das ist natürlich die völlig verkehrte Konsequenz aus dem Urteil. Denn dann überließe man einzelnen Terroristen praktisch die Entscheidungshoheit darüber, jederzeit den Kriegszustand herbeiführen zu können.

Eigentlich müsste die Politik nach diesem Urteil zur Erkenntnis kommen, dass auch die Beurteilung der Flugzeugangriffe vom 11.9. nicht dazu hätten missbraucht werden dürfen, den NATO-Verteidigungsfall/Bündnisfall auszurufen. Dieser ist ja bis heute ohne zeitliche Limitierung in Kraft, und die Bundeswehr ist an einigen Stellen aktiv in „enduring freedom" eingebunden, z.B. mit den höchst geheim operierenden Kräften des Kommando Spezial Kräfte (KSK) in Afghanistan.

Gemäß Verfassungsgerichtsurteil müssten die Konsequenzen nun schlicht und einfach lauten: Die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles nach dem 11.9.2001 aufgrund mehrerer Flugzeugangriffe in den USA war falsch, diese Form von Terrorismus hätte polizeirechtlich verfolgt werden müssen. Die Beistandspflicht aus dem NATO-Vertrag entfällt gemäß eigenem Verfassungsrecht. Die Bundesregierung kündigt ihre Beteiligung an „enduring freedom" umgehend auf. Die KSK-Soldaten und andere im Kontext von „enduring freedom" im Einsatz befindliche Bundeswehrkräfte werden zurückbeordert.

 

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Hintergrund
Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".