Verschiedene Gesichter eines Castor-Transportes - im November 2004

von Elke Steven

Alljährlich rollt der Castor-Transport seit vier Jahren im November von Frankreichs Wiederaufbereitungsanlage ins Wendland. Begleitet wird er - vor allem auf der Strecke zwischen Lüneburg und Gorleben - von einem riesigen Polizeiaufgebot. Die Außerkraftsetzung von Grundrechten bildet das alljährliche Geleitkonzert. Dieses Jahr wurde das Demonstrationsverbot, mit dem die Bezirksregierung Lüneburg die Grundrechte im Landkreis aushebelte, vom Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg für nichtig erklärt. Ein paar Tage konnte sich die Hoffnung auf legale Möglichkeiten des Protestes an Schiene und auf Straße halten, dann hob das Oberverwaltungsgericht den Beschluss des VG auf. Die Demonstrationen verbietende Allgemeinverfügung trat wieder in Kraft.

Das VG hatte zumindest einige der Widersprüche in der Allgemeinverfügung erkannt und geltend gemacht. Ein friedlicher und gewaltfreier Protest, wie ihn auch die Polizei in den letzten Jahren geschildert hat, könne einen solchen fundamentalen Eingriff in Grundrechte nicht rechtfertigen. Mit den dargelegten erwarteten Protestformen müsse die Polizei mit milderen Eingriffsmitteln als mit einer Allgemeinverfügung fertig werden können. Für den Widerspruch gegen den Beschluss des VG legte die Polizei daraufhin neue Begründungen von drohenden Gewalttaten nach. Glaubwürdiger waren diese nicht. Manche Begründungen muteten gar absurd an, wenn z.B. ein beschlagnahmter LKW zum Gegenstand potentieller terroristischer Taten hochstilisiert wurde und zu einer gravierenden Gefahr mutierte.

Eine zurückhaltende Polizei
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie war erneut mit einigen DemonstrationsbeobachterInnen im Wendland unterwegs. Unsere Eindrücke waren zwiespältig. Oberflächlich konnten wir vor allem mit Erstaunen beobachten, dass die Polizei sich in diesem Jahr weitgehend zurückhielt. Bei der Auftaktdemonstration am Samstag, 6.11.2004, konnte der große Demonstrationszug ohne Behinderungen durch die Polizei, auch ohne enge Begleitung oder polizeiliches Drängen zweimal die Bahnübergänge passieren. Die anschließende angekündigte Fahrt der Traktoren und die zwischenzeitlich entstandene Trecker-Blockade in Langendorf führten ebenfalls nicht zu gewaltsamen Eingriffen der Polizei. Am Sonntag, 7.11.2004, konnte sowohl in der Göhrde - an der Bahnstrecke vor Hitzacker - als auch auf der Straßentransportstrecke vielfältiger, bunter und phantasievoller Protest stattfinden. Die Polizei blieb meist im Hintergrund, räumte auf den Waldweg gelegte Äste, ritt durch den Wald ohne dabei auf Menschen zuzureiten, sperrte Wege, aber bemühte sich um eine Einzelfallprüfung, wenn jemand durchgehen oder -fahren wollte. In Langendorf konnte sich eine Traktorenblockade etablieren. Die Polizei beschränkte sich darauf, diese im Blick zu behalten, begann jedoch keine martialische Räumung. Auch Montag, 8.11.2004, konnten die Sitzblockaden stattfinden. Im Vergleich zu den sonst erlebten weiträumigen Absperrungen fanden solche diesmal lange nicht statt. Bürger und Bürgerinnen hatten die Chance, dorthin zu kommen, wo sie hinkommen wollten. Wir sahen immer wieder, dass Sitzblockaden - in Langendorf, Gussborn und Laase - ohne übermäßige Gewalt geräumt wurden.

Auch der Ermittlungsausschuss Gorleben und der Anwaltliche Notdienst Gorleben kommen am 9.11.2004 in einer Presseerklärung zu dem Schluss: "Wohl aber ist es möglich, mehr als bisher die Grundrechte der Bürger, vor allem das Recht auf Demonstrationsfreiheit, Meinungskundgebung und Bewegungsfreiheit bei derartigen Transporten zu respektieren. Die Polizei hat diesmal - überschattet von dem tragischen Tod des französischen Atomkraftgegners - bewiesen, dass auch bei Großeinsätzen gegen gewaltfreie Demonstrationen rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden können, wenn dies gewollt ist."

Eine zurückhaltende Polizei?
Dieses Lob auf eine Polizei, die ihre Aufgaben erfüllt, hat gleich mehrere Haken. Müssen wir uns wirklich schon darüber freuen, wenn die Polizei das tut, wozu sie befugt ist, nämlich nur das notwendige, damit die Bürger und Bürgerinnen ihre Grundrechte in eigener Regie und in der von ihnen gewünschten Form in Anspruch nehmen können? Schilderungen über nicht erfolgte harte Eingriffe der Polizei und Möglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen, ihren Protest zum Ausdruck zu bringen, verweisen vor allem auf all die rechtswidrigen und gewalttätigen Ein- und Übergriffe, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben.

Hinzu kommen schnell Zweifel an diesem vermeintlich positiven Bild. Diese werden verstärkt durch die Schilderungen von Demonstrierenden, gegen die mit körperverletzender Gewalt vorgegangen wurde. Solche Gewalt-Eingriffe sind keine Ausnahmen. Es stellen sich Fragen: Ist das positive Bild nur eines der oberflächlichen Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit? Hat diese polizeiliche Zurückhaltung nur dort stattgefunden, wo diese Öffentlichkeit beobachtend präsent war? Ist die andere Seite derselben Medaille eine erhöhte polizeiliche Gewaltbereitschaft gegenüber Einzelnen und im Dunkeln?

Beobachtet oder unmittelbar erfahren haben wir, dass die Achse eines Traktors auf einem Feld außerhalb der Demonstrationsverbotszone mit einem Panzerschaufelwagen zerstört wurde. Auf demselben Feld wurden eine junge Frau und ihr Freund in einem Traktor von einem Polizisten mit der Waffe bedroht. Er hatte seine Dienstpistole direkt auf das Führerhaus des Traktors gerichtet. Wir beobachteten, dass die Räumungen in Gusborn sehr unterschiedlich erfolgten, auch mit körperverletzender Gewalt und in einem Fall vermutlich unter Einsatz von Reizgas. Schon Montag nachmittag war der Zugang zu der Demonstration in Langendorf kaum noch möglich. Vor allem war auch der Zugang zu Orten 50 Meter rechts und links von der Transportstrecke häufig nicht möglich - dort aber hätten Demonstrationen auch nach der Verbotsverfügung möglich sein müssen.

Von mehreren Demonstrierenden hörten wir nach Abschluss des Transportes, bei Räumungen seien körperverletzende Polizeigriffe angewandt worden. Der Handbeugehebel, der langandauernde Schmerzen verursacht, scheint ein von der Polizei immer häufiger angewendeter Polizeigriff zu sein, mit dem Polizeibeamte ihre Gewalt und ihre Macht gegenüber unliebsamen SitzblockiererInnen zum Ausdruck bringen. Uns wurde berichtet, dass ein Polizeibeamter bei einer solchen Räumung in etwa geäußert hat: "So, die Kamera ist jetzt weg, jetzt sieht keiner mehr zu, jetzt können wir anders mit Dir umgehen." Berichtet wurde, dass in Gusborn nächtens Kinder gefesselt wurden.

Zu den Zweifeln an der so schön gefärbten Oberfläche führt auch die allgegenwärtige Überwachung. Immer wieder wird uns berichtet, dass Polizei schon lange vor dem Transport sofort zur Stelle ist, sowie etwas "Verdächtiges" geschieht. Jedes Plakat, jede Fahne, jedes Zeichen, das man am eigenen Haus befestigt oder im Garten aufhängt wird von der Polizei fotografiert. Spätestens der Spaten, mit dem das Loch für einen Fahnenmast im eigenen Garten gegraben werden soll - für eine Anti-Akw-Fahne - ruft die Polizei auf den Plan. Der Eindruck, ständig unter Kontrolle zu stehen, selbst nicht mehr zu wissen, wie diese Überwachung funktioniert, ist etwas, was große Beunruhigung auslöst. Kommt die Polizei manchmal nur zufällig im richtigen Moment oder überwacht sie tatsächlich alle und jeden Ort? So schreibt auch U. Zitterbart im wendländischen Tagebuch (taz nord, 2.11.04) "Aber diese Beobachtung, unter der man ständig steht, die wühlt einen auf." In der Kommunikation der Bürger und Bürgerinnen untereinander, bei Absprachen in Gruppen und der Planung des Protestes hat der Staat, hat die Polizei nichts zu suchen. Die ständige Überwachung und der Einsatz von verdeckten Ermittlern muss das Misstrauen gegeneinander fördern, sie behindert die Kommunikation und fördert Geheimhaltung. Auch deshalb ist sie antidemokratisch.

Ein todbringender Zug
Immer wieder haben die Bürgerinitiativen vor der tödlichen Fracht dieses Transportes und der dahinter stehenden tödlichen Logik gewarnt. Die Bilder erhielten erschreckende Aktualität, als sich am späten Nachmittag des 7.11.2004 die Nachricht vom Tod von Sébastien B. herumsprach. Die Trauer im Wendland war groß, auch der Zweifel, ob der Protest angesichts eines solchen Geschehens aufrecht zu erhalten ist. Wut über die Ignoranz einer Atomindustrie, von Staaten und Polizeien, die über Leichen gehen, war da. Sie äußerte sich nicht in Aggressivität, sondern in Nachdenklichkeit - und in Empörung über diejenigen, die den Zug unbeeindruckt weiterfahren ließen.

In der Süddeutschen Zeitung erfolgte schnell der widersinnige Ruf, Demonstrationen angesichts eines solch gefährlichen Zuges ganz zu lassen. Zu fragen ist jedoch, ob ein solch umstrittener Transport mit seiner tödlichen Fracht erfolgen darf. Ein Transport, der den Verzicht auf Grundrechte notwendig macht, wäre in einer Demokratie abzusagen. Wenn er jedoch stattfindet, dann haben die Sicherheit des Zuges, die Sicherheit der Menschen, die entlang dieser Strecke wohnen, und der Bürger und Bürgerinnen, die gegen die Nutzung der Atomenergie protestieren, absoluten Vorrang. Dieses Interesse muss dann das Tempo bestimmen, nicht die Eile des Transportunternehmens. 100 Km in der Stunde ist zu schnell. Wenn Begleithubschrauber, die für die Sicherheit sorgen sollen, tanken müssen, dann muss auch der Zug stehen bleiben. Schuld an diesem Unglück ist auch der von den für den Transport Verantwortlichen angeheizte Wettbewerb um einen immer schnelleren Transport.
 

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Initiativen
Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.