Volksaufstand und Versöhnung in Afghanistan – ein langer Prozess

von Jürgen Heiducoff

Der Krieg der USA und der NATO in Afghanistan geht bald ins achte Jahr. Dieser Krieg dauert bereits länger als der Zweite Weltkrieg und als der Vietnam-Krieg. Allein in diesem Jahr sind über einhundert amerikanische Soldaten und viele Hundert unbeteiligte Zivilisten in Afghanistan ums Leben gekommen. Deutschland ist von Anfang an dabei, betrachtet jedoch diesen militärischen Einsatz offiziell nicht als Krieg. Für die Afghanen gibt es keinen Unterschied, wie der einzelne Staat sein militärisches Engagement in seiner Heimat definiert. Zunehmend betrachten sie die Vorgehensweise als die von Besatzern. Deshalb richtet sich ihr Widerstand auch gegen die westlichen Truppen im Norden des Landes wie gegen die Amerikaner oder Briten im Süden.

Die Koalitionsstreitkräfte, die einen „Antiterrorkrieg“ im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ ohne UN-Mandat führen, aber auch die ISAF-Truppen werden immer stärker in einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt einbezogen. Einflussreichen NATO-Politikern und Militärs ist längst klar, dass es eine rein militärische Lösung dieses Konfliktes nicht geben wird.

Die Aufständischen wenden auch Mittel des Terrors an. Sie legen Sprengsätze und organisieren Selbstmordanschläge, um ihre Ziele in der Region zu erreichen. Sind sie jedoch deshalb die Terroristen, die die westliche Zivilisation bedrohen? Sind sie der Grund, einen „Antiterrorkrieg“ ohne UN-Mandat zu führen, der neben den ISAF-Operationen läuft?

Die Aufständischen sind nicht mit den Taliban der 90-er Jahre und auch nicht mit der Terrororganisation Al Qaida gleichzusetzen. Sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den Söhnen der vernachlässigten und verarmten paschtunischen Bauern, die keine Perspektive im Lande Karzais sehen. Sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft unter der gegebenen Machtkonstellation verloren. Sie haben keine Zeit, weitere Jahre zu warten, bis der Einfluss der Zentralregierung bis in ihre Lebenssphäre reichen wird. Ihre Familien würden verhungern. Sie verstehen die Politik der Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft nicht. Wie sollten sie dies auch, wurden doch ihre Dörfer regelmäßig immer wieder bombardiert? Sie hatten in der Masse bisher auch keine Sympathien für die radikalislamischen Taliban.

Ein überwältigender Teil der Bevölkerung möchte die radikalislamische Talibanherrschaft nicht zurück. Deshalb hat sie zunächst alle Hoffnungen und Erwartungen in die Karzai-Regierung gelegt. Da es aber vielen Menschen heute nicht besser geht als unter den Taliban und da die Korruption auf allen Ebenen der Regierung und Verwaltung unüberschaubar ist, haben sie das Vertrauen dauerhaft verloren. Der Druck der Unzufriedenheit verschafft sich über eine Aufstandsbewegung den nötigen Freiraum. Zudem geraten große Teile der Bevölkerung „zwischen die Fronten“. Viele Dörfer wechseln ihre Zugehörigkeit zwischen den Einflussbereichen der Zentralregierung und der Aufständischen. Da sich der paschtunische Clanchef vorrangig um das Überleben seiner Großfamilie kümmern muss, ist er gehalten sich in seinem Verhalten den gerade Herrschenden anzupassen.

In den letzten Monaten verzeichnen wir leider einen ansteigenden Zulauf afghanischer Bevölkerungsgruppen, die bisher das internationale Engagement in Afghanistan toleriert haben, in die Arme der radikalislamischen Taliban. Dies birgt die Gefahr in sich, dass sich der Volksaufstand weiter ausweitet und eine Nationale Befreiungsbewegung entstehen könnte.

Dem kann nur entgegen gewirkt werden, indem ein echter Versöhnungsprozess eingeleitet wird, der jedoch nicht damit beginnen kann, dass sich Teile der bewaffneten Opposition ergeben und in den bestehenden Karzai-Apparat integriert werden, sondern hier bedarf es eines neutralen Ansatzes. Bisher scheiterten Verhandlungen mit den Taliban an deren Forderung, dass einem Waffenstillstand der Abzug der ausländischen Truppen vorausgehen müsste. Deshalb und aus dem Grund, dass es offensichtlich weder ein alle Aufständischen beherrschendes Führungselement, noch eine solche -person gibt, kann nur der Weg der Verhandlungen mit Teilen der Strukturelemente der Aufständischen mit dem Ziel der Aussöhnung gegangen werden. Teile der bewaffneten Opposition könnten nach tadschikischem Vorbild (Mitte der 90-er Jahre konnte durch die gelungene Integration der bewaffneten Opposition der Bürgerkrieg beendet werden) in neu zu schaffende Verwaltungsstrukturen auf zentraler und regionaler Ebene integriert werden. Dies könnte jedoch nur über länger anhaltende Verhandlungen erreicht werden.

Die bisher ständig zunehmende unverhältnismäßige militärische Gewalt beim Einsatz der westlichen Truppenkontingente in Afghanistan, vor allem die immer wieder zu beklagenden zivilen Opfer stellten den Hauptgrund für den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Karzai-Administration dar. Nächtliche Hausdurchsuchungen durch westliche Militärs und die Verletzung von Tradition und Ehre der Familie, willkürliche Festnahmen, schnelle Anwendung der Schusswaffen in unklaren Situationen auf öffentlichen Straßen und Plätzen sind einige der Gründe, warum sich große Teile der Bevölkerung gegen die ausländische Truppenpräsenz wandten. Dazu kamen die immer häufigeren Luftangriffe vor allem durch US-Kampfbomber gegen Stellungen der Aufständischen, die sich zum Teil auch in den Dörfern befanden. Die dabei kaum zu verhindernden Tötungen und Verletzungen von Zivilisten schürten ein weiteres Anwachsen des Hasses gegen alle fremden Truppen.

Die propagandistische Nachbereitung der Vorfälle mit zivilen Verlusten durch die am Krieg beteiligten Parteien widerspiegelt sich teilweise auch in unseren Medien. Zum Teil werden allerlei Tricks und Verfälschungen/Verschleierungen angewandt. Dabei zeigte sich auch in westlichen und afghanischen Medien eine Verrohung der Sprache, indem von einer „Liquidierung“ oder „Vernichtung“ von Aufständischen oder Taliban, also Menschen gesprochen wurde. Auch dies dürfte nicht der Entspannung und Aussöhnung dienlich sein. Der Hass wurde künstlich geschürt, indem afghanische Armee oder Polizei die Leichen des Feindes zum Teil zu Hunderten der Öffentlichkeit „präsentierte“. Auch ein Krieg rechtfertigt nicht alle Mittel! Nach jeder Behauptung, im Verlaufe von Luftangriffen seien Zivilisten getötet oder verletzt worden, begann ein regelrechtes Feilschen um deren Anzahl, wenn nicht das Dementi seitens westlicher Kommandeure und Pressesprecher. Viele getötete Zivilisten wurden im Verlaufe der Arbeit von Untersuchungskommissionen den Aufständischen zugeordnet, da sie bewaffnet gewesen seien oder weil man Waffen in ihrem Haus gefunden habe. Aber – die Paschtunen tragen Waffen oder haben diese zu Hause – seit Jahrhunderten. Dies gehört zur Ehre eines paschtunischen Mannes. Wenn allein die Tatsache des Waffenbesitzes die Zugehörigkeit zu den Aufständischen bestimmt, dann sind alle Paschtunen Rebellen und dann gibt es keine Zivilisten unter den Paschtunen. Ein solcher Ansatz zöge jedoch die Frage des Völkermordes nach sich.

Westliche Militärs versuchen die durch sie verursachten zivilen Verluste damit zu entschuldigen, dass die Aufständischen Zivilisten als menschliche Schutzschilder benutzen. Wie auch anders? Die Aufständischen sind Angehörige dieser Zivilisten, der Familien in der Region. Wohin soll denn der Bauernsohn nach der Ausführung eines Anschlages oder nach der Teilnahme an einem Feuergefecht fliehen, wenn nicht in den Hof der eigenen Familie? Dies ist doch den Militärs der NATO oder der US-geführten Koalitionstruppen bestens bekannt. Wenn sie dennoch bombardieren, ist es folgerichtig, dass sie den Tod von Zivilisten bewusst in Kauf nehmen. Und eben dies ist nicht hinnehmbar!

Wöchentlich mehrmals wiederholten sich folgende taktische Einsatzverfahren: ein westlicher Militärkonvoi wurde von Aufständischen angegriffen. Die Angreifer zogen sich in der Regel sofort in ein sicheres Gehöft zurück. Die Angegriffenen forderten Luftnahunterstützung (Close Air Support) an. Wenn die Kampfflugzeuge oder-hubschrauber vor Ort waren, hatten die Aufständischen ihren Stellungswechsel längst vollzogen. Ihre neuen Standorte waren die Dörfer – was sonst? Erwarten die westlichen Militärs etwa, dass der Feind sich freiwillig auf offenem Feld zur Vernichtung oder Liquidierung bereit hält? Wenn also, wie in den meisten Fällen, dann Bomben oder Raketen gegen die Dörfer zum Einsatz kamen und zivile Opfer einkalkuliert wurden, war dies ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen und damit gegen das Internationale Kriegsvölkerrecht.

Nach der neuen AFPAK – Strategie der USA soll sich nun einiges ändern. Eine verstärkte Truppenpräsenz soll den Verzicht auf viele Bomben- und Raketeneinsätze aus der Luft ermöglichen. Die Militärs sollen sich künftig nach ihren Operationen in der Fläche nicht stets wieder in ihre befestigten Stellungen zurückziehen, sondern in den Dörfern bleiben, um der Zivilbevölkerung unmittelbaren Schutz zu geben und den Wiederaufbau zu decken. Ob dies in praxi möglich sein wird, wird die Zukunft zeigen.

Einige weitere Fragen seien gestattet:
Was geschähe, würde man Piloten nach ihrem Einsatz gegen Dörfer ihren Opfern gegenüberstellen? Nicht gemeint sind die Todesopfer, die manchmal in den Medien zahlenmäßig erwähnt werden. Gemeint sind die verstümmelten Frauen, Kinder und Alten, die unendlichen Schmerzen und Leid ausgesetzt sind. Wie würde diese Gegenüberstellung von Tätern und Opfern ausgehen?

Denken die hoch qualifizierten Spezialisten am Steuerknüppel, die zum Teil eine akademische Ausbildung haben, überhaupt über die Resultate mancher ihrer Einsätze nach?

Sind den Generalen und Offizieren, die für die Operationsplanung Verantwortung tragen, manche Konsequenzen ihrer Operationen klar?

Bleiben die Militärs im politischen und völkerrechtlichen Rahmen?

Haben die Politiker noch ein reales Lagebild?

Ich weiß, dass man viele dieser Fragen verneinen muss.

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Jürgen Heiducoff war zu Anfang des ISAF-Einsatzes über ein halbes Jahr als Soldat und in den Jahren 2006 bis 2008 als Diplomat in Afghanistan.