Kampagne "Wege aus der Gewalt - 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln" Rückblick, Kritik und Chancen - Außenwahrnehmung einer Trainerin

Volksbildung oder was?

von Renate Wanie

Der vorliegende Text wurde als Vortrag für eine Tagung der Kampagne "Wege aus der Gewalt" 1996 geschrieben. Seitdem hat sich die Konzeption der Kampagne weiterentwickelt und Impulse, wie sie dieser Artikel vermittelt, wurden aufgenommen. Dennoch haben wir uns zu dem Abdruck einer gekürzten Fassung entschlossen, da der Artikel unserer Auffassung nach Gedanken enthält, die generell für die Bildungs- und Trainingsarbeit im Bereich gewaltfreier Konfliktbearbeitung einer Diskussion wert scheinen.

Als ich zum ersten Mal von der Idee hörte, war mein erster spontaner Gedanke: "Oh ja, 1000 Leute erreichen - endlich werden es mehr Leute, die das gesellschaftlich notwendige Konzept der Gewaltfreiheit kennenlernen und ein Verständnis von gewaltfreier Politik entwickeln können!" Wie stand es doch in einem frühen Diskussionspapier der Kampagne: "Ich halte es für möglich, eine "Aktion 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln" durchzuführen, bei der die Teilnehmenden in Wochenendseminaren eine Einführung in die Hintergründe, Methoden und Ziele der Gewaltfreien Aktion erhalten. Deshalb sollten die Seminare nur in Einzelfällen auf einen bestimmten Konflikt vorbereiten und die Konflikte und den Erfahrungshorizont der Teilnehmenden allgemein thematisieren. ... Das Ziel besteht deshalb einfach darin, möglichst viele Menschen in die Welt gewaltfreien Denkens und Handelns einzuführen, ihnen Handlungsspielräume in Konfliktsituationen zu eröffnen und Mut zu machen, sich der Gewalt zu widersetzen" (Januar 1994). Und einige Monate später findet sich die Formulierung: "Wir wollen durch das Projekt dazu beitragen, dab Methoden gewaltfreien Handelns perspektivisch Teil dessen werden, was als `Allgemeinbildung` verstanden wird." (August 1995)

Doch mit einem zweiten Blick stellten sich mir - als langjährige Trainerin - doch eine Reihe von Fragen. Kann es denn unsere Zielrichtung sein, Volksbildung in Sachen Gewaltfreiheit zu betreiben? Wir - d.h. die Kurve in Wustrow, das Kölner Trainingskollektiv, das Fränkische Bildungswerk für Friedensarbeit, die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, die Friedens- und Begegnungsstätte in Mutlangen, das Carl-Kabat-Haus, der BSV - wir, die wir mit grobem politischem Anspruch unsere Trainings durchführen, um den Widerstand und Protest gegen die Herrschenden und ihren wirtschaftlichen Interessen, zum Beispiel gegen die Atompolitik, zu organisieren, um Einfluß zu nehmen in bezug auf gesellschaftliche Veränderungen und für den Aufbau gewaltfreier Alternativen?

Sollten wir jetzt plötzlich völlig unspezifisch Trainings durchführen, um in einer Art missionarischem Eifer der ganzen Welt die Gewaltfreiheit beizubringen? Das klang in meinen Ohren doch sehr nach entpolitisierten Zielen und Inhalten. Daß vielen Menschen die Grundlagen und die Idee der gewaltfreien Aktion schmackhaft gemacht werden könnte, dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Schließlich wollten wir schon immer mehr werden im organisierten Widerstand gegen menschenverachtende Politik.

Aber lediglich individuell Bewußtsein schaffen, daran wollte ich als Trainerin der Werkstatt nicht mitarbeiten.

Ein Blick zurück

Seit Anfang der achtziger Jahre veranstalten die aus der Friedensbewegung heraus entstandenen friedenspolitischen bzw. -pädagogischen Einrichtungen und Trainingskollektive Trainings in Gewaltfreier Aktion und gewaltfreiem Widerstand für Gruppen aus den sozialen Bewegungen. Auch die Werkstatt in Baden gehört dazu, die sich in dieser Zeit gründete. Ein Grundgedanke der Werkstattarbeit war, kontinuierlich gewaltfreien Widerstand einzuüben und gewaltfreie Konfliktaustragung kontinuierlich weiterzuentwickeln. Klassische Themen wie Anfragen zur Durchführung gewaltfreier Aktionen als Widerstandsform, z.B. gegen Großprojekte oder Aufrüstungspläne, bei denen wir als soziale Bewegung selbst Konfliktpartei sind, standen im Mittelpunkt unserer Arbeit. Unsere Diskussionen waren bestimmt von Konzepten der gewaltfreien Aktion. Besonders der Zusammenhang von Methoden der gewaltfreien Aktion und den Chancen der Dramatisierung, also der Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte, beeinflußten im wesentlichen die Auseinandersetzungen. Themen wie der Widerstand gegen die Stationierung der Atomraketen wurden der Gesellschaft von den offensiv agierenden sozialen Bewegungen aufgedrängt. Auch war unser politischer Widerstand gegen militärische Bedrohung (Atomraketenstationierung) oder gegen industriell-kapitalistische Interessen (Atom-Kraftwerkebau) in größerem Maße als heute mit emanzipativen Zielen und Forderungen (anders leben und arbeiten, Gleichheit zwischen den Geschlechtern, alternative Energien, gesunde gute Ernährung usw.) verbunden.

Times are changing

Aber die genannten Themen gerieten zunehmend in den Hintergrund. In der Folge der Wiedervereinigung entwickelte sich 1989 ein fremdenfeindliches und rassistisches Klima in der BRD. In den Brennpunkt rückten neue Probleme. Die folgenschweren brutalen Übergriffe, z.B. auf AsylbewerberInnen, veränderten grundlegend die Nachfragen. Gewaltfreies und deeskalierendes Eingreifen, wo Dritte in Gewaltsituationen zum einen auf der politischen Ebene, zum anderen alltäglich im öffentlichen Raum in einen Konflikt intervenieren (Stichwort: Zivilcourage ), sind hier in der BRD die bevorzugten Themen geworden. Dazu werden nicht nur Verhaltenstrainings, Einführungen in gewaltfreies Handeln durchgeführt, sondern auch die Ausbildung von MultiplikatorInnen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Zunehmend nachgefragt werden in diesem Zusammenhang Mediation (Vermittlung in Konflikten) sowie die Weiterbildung in Grundlagen konstruktiver Konfliktbearbeitung.

Mit ihren Zielen, "Anstrengungen zur Steigerung des Bekanntheitsgrades und der Durchsetzung gewaltfreier Konfliktaustragung mit gröberer Breitenwirkung zu unternehmen" und "die Orientierungskurse ausschließlich für die Sensibilisierung breiter Bevölkerungsschichten für gewaltfreie Handlungsoptionen bei Konflikten" zu betrachten - fällt die Kampagne in eine Zeit, in der eine weitere Veränderung einsetzte.

Die Kampagne fällt in eine Zeit des Paradigmenwechsels in unserer "gewaltfreien Bewegung": In den Achtzigern hatten wir überwiegend Widerstand organisiert, seit Anfang der Neunziger entwickeln wir verstärkt gewaltfreie Formen der Konfliktbearbeitung und der Konfliktintervention. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen nicht mehr Aktionskonzepte zur Durchsetzung unserer Interessen für eine andere Gesellschaft, sondern alternative Verhaltensweisen in gewaltsamen Situationen. Ging es damals darum, mittels GA in organisierter Form den Konflikt möglichst hoch zu eskalieren, um öffentliche Aufmerksamkeit für herrschendes Unrecht und möglichst viel Gegenmacht zu erlangen, so heißt heute die Herausforderung in unseren Seminaren Deeskalation, Eingreifen auf möglichst niedrigem Konfliktniveau, gegebenenfalls noch präventiv.

Neue Zielgruppen

So fügt sich denn auch die "breite gesellschaftliche Verankerung" sowie "das öffentliche Interesse", das in dem 2. Kampagnen-Papier formuliert ist, tatsächlich in die Anfragen aus breiten Kreisen der Bevölkerung. "Kennenlernen von Alternativen zur Gewalt oder Alternativen zum gewaltvollen Eingreifen in gewaltsame und eskalierte Konflikte" lauteten die unzähligen Anrufe, die wir in den Büros unserer Einrichtungen seit Anfang 1993 zu hören bekamen.

Statt aus den sozialen Bewegungen erreichen uns überwiegend Anfragen aus etablierten Organisationen aus der städtischen und kirchlichen Jugendarbeit, kommunaler, gewerkschaftlicher und kirchlicher Erwachsenenbildung, den Volkshochschulen und der Flüchtlingsarbeit, den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, den Schulen usw. Die Zunahme der Gewaltbereitschaft und brutalere Formen der Gewalt in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft schreien bei breiten Bevölkerungskreisen förmlich nach Alternativen zum Draufhauen einerseits und dem Wegschauen und der Ohmachtsgefühle andererseits. Doch nochmals zurück zur Kampagnenkritik aus der Außensicht.

Gewaltfreiheit - individuell konsumierbar

"Schneller - leichter - effektiver" so lautete beispielsweise eine Kritik aus Trainingskreisen an dem Konzept der Kampagne. Diese entspreche zwar dem allgemeinen Bedürfnis unserer Kultur, nicht aber unbedingt den Erfordernissen gewaltfreier Philosophie und Praxis. Meiner Meinung nach ist die Kampagne so zu verstehen, daß zwei Potentiale in dem Konzept liegen: Zum einen können viele Menschen an zwei Wochenenden die Grundlagen gewaltfreien Handelns erlernen, und zum anderen vergrößert sich der "Pool" an Menschen, die sich zu MultiplikatorInnen ausbilden lassen könnten.

Bezüglich der Ausbildungsdauer möchte ich zu bedenken geben, daß in einem zu kurz angelegten Zeitraum nur unspezifische Grundlagen der Gewaltfreiheit vermittelt werden. Statt einem Schnellkurs, bedarf es einer prozeßorientierten Ausbildung über einen längeren Zeitraum.

Es ist zu befürchten, daß den im "Schnellverfahren" ausgebildeten Menschen, die ja möglichst bald Trainings begleiten sollen, die notwendigen pädagogischen und die politischen Erfahrungen fehlen. Auch steht zu befürchten, daß beispielsweise ein Verständnis von gewaltfreier Konfliktaustragung als einer menschenfreundlichen, lieben und netten und letztlich psychologischen Methode weitervermittelt wird. Diese Tendenz - so meine Erfahrung - schleicht sich immer wieder in Trainings ein, die keine öffentlich - politische Zielsetzung verfolgen und die Menschen zusammenbringen, die in keiner gemeinsamen Gruppe aktiv sind und in keinem politischen Zusammenhang stehen. Damit wird aber jenes Vorurteil über Gewaltfreiheit als einer zwar für die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht aber für den politischen Raum geeigneten Methode bestärkt, gegen das wir schon heute genug anzukämpfen haben. Zu wenig theoretischer Hintergrund, zu viele Spiele in den Seminaren und die fehlende Ausrichtung auf politisches Handeln tragen das Entsprechende dazu bei. Die theoretische Erarbeitung von politischen Positionen der Gewaltfreiheit kann aber nur über einen langen Prozeß und nicht durch ein, zwei oder auch drei Wochenenden erreicht werden.

So verständlich der Wunsch ist, möglichst schnell möglichst viele Menschen zu erreichen, kann sich dies doch auch gegen die eigene Kampagne wenden, wenn eine Form von Konsumismus unterstützt wird, statt den Erwerb wirklich fundierter Kompetenzen zu fördern. Zum Glück problematisierten - wie aus Rückmeldungen ersichtlich - einige der Teilnehmenden die kurze Ausbildung und teilten offen ihre Bedenken mit, schon nach zwei Wochenenden eine Trainingsbegleitung durchführen zu können.

Im Kampagnen-Reader ist auch das öffentlich-gesellschaftliche Interesse der Kampagne benannt worden. Dennoch sehe ich als Trainerin einer friedenspolitischen Einrichtung bei einer allgemeinen Ausbildung von einzelnen aus der Bevölkerung, die überwiegend keine Anbindung an eine politische Gruppe haben, die Gefahr einer gewissen Entpolitisierung der Gewaltfreiheit.

Im Zusammenhang mit den unzähligen Verhaltenstrainings in Zivilcourage der letzten Jahre wurde deutlich, daß am Ende eines Seminars oft ein neuer individueller Umgang mit Konfliktsituationen und Gewalt als zentrale Erfahrung mitgenommen wird. Dies kann aber eine Psychologisierung der Gewalterfahrung darstellen und noch problematischer zu einer Psychologisierung der Widerstandsformen gegen Phänomene der Gewalt führen. So berechtigt dies angesichts von personaler (oft verbaler) Gewalt, z.B. in der Familie, am Arbeitsplatz und in Beziehungen auch sein mag, dies kann nicht Aufgabe einer Trainingsbewegung sein, die sich in der gesellschaftsverändernden Tradition von Gandhi und M.L. King sieht.

Gegen Selbsterfahrung ist nichts einzuwenden, zumal auch gleichzeitig Grundkenntnisse in gewaltfreier oder konstruktiver Konfliktaustragung vermittelt werden. Offen bleibt jedoch die Frage nach den Möglichkeiten, wie auf politischem Wege auf diese Gewaltsituationen tatsächlich gesellschaftsverändernd eingegriffen werden könnte, um nicht beim individuellen Umgang mit Konflikten stehenzubleiben. Der Aspekt des öffentlichen kollektiven gewaltfreien Handelns kann in dem kurzen Zeitraum eines Kurses, zu dem sich einzelne BürgerInnen angemeldet haben, jedoch noch schwerer vermittelt werden. Denn bei dieser Kampagne werden nicht primär Gruppen, sondern überwiegend "breite Bevölkerungsschichten" angesprochen, also allein bei den Individuen angesetzt. Der Aspekt des sozialen Lernens, der in den sozialen Bewegungen und in politischen Gruppen zum Tragen kommt, geht auf diese Weise verloren, und gewaltfreies Handeln wird als Form des individuellen Handeln erfahren. Festzuhalten bleibt: Gewaltfreies politisches Handeln bleibt an handelnde Gruppen gebunden.

Auch hierbei bestätigen Rückmeldungen aus den Kursen diese Befürchtungen: Der zweite Teil der angebotenen Impulswochenenden "Mut zu Veränderungen", auf dem "informiert und trainiert" werden soll, "wie Einfluß auf gewalterzeugende Bedingungen und Strukturen genommen werden kann", also der politische gesellschaftsbezogene Teil des Angebots, wird von den TeilnehmerInnen häufig als "Muß" verstanden und eher weggelassen.

Wo Kritik ist, sind auch Chancen

Die Kampagne "Wege aus der Gewalt - 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln" kommt aktuell einer größer gewordenen Nachfrage aus breiten Teilen der Bevölkerung und aus gesellschaftlichen Institutionen entgegen. Gesucht werden - dies zeigen z.B. die Anfragen an die Werkstatt - zunehmend Alternativen zur gewaltvollen Austragung von Konflikten in unserer Gesellschaft. Bewußtsein, Bedarf und Bereitschaft sind also vorhanden. Interessierte können einem neuen Angebot nachgehen und zunächst auch ohne großen politischen Anspruch an den Kursen der Kampagne teilnehmen. Die Orientierungskurse holen mit ihrem Angebot die Menschen dort ab, wo sie Wege aus der Gewalt suchen und Konflikte bearbeiten wollen, mit denen sie in der Gesellschaft täglich konfrontiert werden.

In dieser Situation eröffnet sich die Chance, gerade auch das politische Verständnis von gewaltfreier Konfliktbearbeitung gesellschaftlich breit zu verankern. Gelingt uns dies, dann wäre Gewaltfreiheit nicht nur im Freizeitbereich von Demo-Tourismus und bei direkten Aktionen zivilen Ungehorsams für wenige angesiedelt, sondern im Alltagshandeln, d.h. im Beruf, in den Institutionen, in der Familie, im zwischenmenschlichen Bereich angekommen. Mit der Arbeit in Schulen und in Nichtregierungsorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen usw. hat die Friedensbewegung bereits den Gang in die Institutionen dieser Gesellschaft begonnen. Gewaltfreie Konfliktbearbeitung mag sich auf diesem Weg allmählich zu einer alltagsrelevanten sozialen Kulturtechnik entwickeln. Es könnte deutlich werden, daß viele der alltäglichen scheinbar privaten Gewalterfahrungen eigentlich gesellschaftliche Wurzeln haben.

Die TrainerInnen sollten sich auch als Wegweiser verstehen für ein letztlich gesellschafts-politisches Engagement in Initiativen aus den sozialen Bewegungen, sie sollten Interesse wecken und Ermutigung aussprechen sich einzumischen. Gewaltfreier Widerstand und gewaltfreies Eingreifen sind nun einmal, dort, wo sie als gesellschaftverändernde Kraft auftreten - dies darf nicht vergessen werden - an Gruppenzusammenhänge gebunden.

So verstanden und ihre Chancen nutzend trägt die Kampagne "Wege aus der Gewalt" zu einer Verankerung der Friedens- und Konfliktkultur bei, Gewaltfreiheit wird gesellschaftlich akzeptabel und die Zivilgesellschaft gestärkt.

InteressentInnen an der Kampagne: "Wege aus der Gewalt - 1000 Menschen lernen gewaltfreies Handeln" wenden sich an den:

Bund für Soziale Verteidigung, Ringstrabe 9a, 32427 Minden, Tel. 0571/29456 u. Fax 0571/ 23019

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Krisen und Kriege